1. Hinter dem Flatterband (tagesspiegel.de, Thomas Gehringer)
Vergangene Woche haben sich verschiedene Journalisten zusammengesetzt, um über die Berichterstattung zum Germanwings-Unglück zu sprechen. Motto der Veranstaltung, zu der unter anderem der Presserat eingeladen hatte: “Was lernen wir daraus?” Doch am Ende, so Thomas Gehringer, “stellte sich das ungemütliche Gefühl ein, dass die Medienvertreter der Meinung sind, es gäbe nichts zu lernen, denn: Es war doch eigentlich nicht so schlimm.”
2. Sind Sie ein Diktator? (taz.de, Saskia Hödl)
Der finnische Präsident Sauli Niinistö war auf Staatsbesuch in der Türkei. Und mit ihm unter anderem der Journalist Tom Kankkonen vom finnischen öffentlich-rechtlichen Sender “YLE”. Der “fragte Erdoğan gerade heraus, ob er ein Diktator sei.” Das türkische Staatsoberhaupt war nicht gerade begeistert.
3. to go or to stay? (wirres.net, Felix Schwenzel)
Felix Schwenzel will ausdrücklich “keine antwort auf diesen facebook-eintrag von mathias richel” schreiben, sondern vielmehr versuchen, “die gleichen gedanken […] anders zu formulieren”. Im Wesentlichen geht es um diese Fragen: Wie und wo erreichen Medien heutzutage ihre Leser? Sollten sie sich immer noch auf ihre Homepage konzentrieren oder ihre Inhalte möglichst breit gestreut auf allen möglichen Kanälen verteilen — und sich dabei von dem Ziel verabschieden, die Nutzer von sozialen Medien mit Links auf die eigene Webseite zu locken?
4. Radionachrichten: Zu wenig Mut. Zu viele Handtücher (radio-machen.de, Rita Vock)
“Wir Nachrichtenmacher […] haben bestimmte redaktionelle Standards und manchmal auch Scheuklappen.” Das sagt Rita Vock, Nachrichtenredakteurin beim “Deutschlandfunk”. Mit sechs Thesen versucht sie, diese festgefahrenen Strukturen aufzubrechen und Radionachrichten neu zu denken.
5. Stephen Glass Repays Harper’s $10,000 for His Discredited Work (nytimes.com, Ravi Somaiya, englisch)
Stephen Glass war Ende der 90er-Jahre einer der großen Nachwuchsstars im US-Journalismus. Bis sich herausstellte, dass mindestens die Hälfte seiner Artikel komplett oder teilweise erfunden waren. Jetzt hat Glass sich zurückgemeldet — mit einer Entschuldigung an seinen einstigen Auftraggeber “Harper’s” in Form eines 10.000-Dollar-Schecks.
6. Sie lesen stundenlang Zeitungen vor (nzz.ch, Viola Schenz)
Das Programm des australischen Radiosenders “2RPH” ist leicht außergewöhnlich: Es gibt dort ausschließlich vorgelesene Zeitungs- und Zeitschriftenartikel zu hören, den ganzen Tag, jeden Tag. Das Kürzel “RPH” steht für “Radio for the Print Handicapped” und gibt die klare Zielgruppe des gemeinnützigen Senders vor: all jene, die nicht lesen können.
Mittlerweile haben die meisten Medien ihre Berichte korrigiert und schreiben jetzt von einer Drohne. Beispielsweise FAZ.net:
Das türkische Militär hat am Freitag nach eigenen Angaben eine Drohne über der Türkei nahe der Grenze zu Syrien abgeschossen. Zunächst hatte es Meldungen gegeben, es habe sich um ein Flugzeug gehandelt.
Und:
Bisher sei nicht bekannt, zu welchem Land das im türkischen Luftraum abgeschossene Objekt gehört habe, teilte der türkische Generalstab auf seiner Internetseite mit.
1. Der geheimnisvolle Stern KIC 8462852 und die angebliche Alien-Superzivilisation (scienceblogs.de, Florian Freistetter)
Ungewöhnliche Schwankungen in der sogenannten Lichtkurve des Sterns KIC 8462852 verwirren einige Medien. Die Kurve zeigt, wie viel Licht uns von anderen Sternen erreicht, dient in diesem Fall aber überforderten Journalisten dazu, die Ankunft von Außerirdischen herbeizufabulieren. Florian Freistetter bringt etwas mehr Licht ins Dunkel.
2. Was Times Too Soft on Scientist Found Guilty of Sexual Harassment? (publiceditor.blogs.nytimes.com, Margaret Sullivan, englisch)
In einem offenen Brief haben über 250 Wissenschaftler einen Text der „New York Times“ kritisiert: Der Artikel – ein Stück über einen Professor, der jahrelang Studentinnen sexuell belästigt hat – zeige eher Mitleid mit dem Täter als mit den Opfern und fokussiere seine Entschuldigungen und Ausreden statt seine Vergehen. Public Editor Margaret Sullivan geht den Vorwürfen nach und findet: Die Kritiker haben Recht, “the focus in this initial article was off. If The Times continues reporting on the larger topic (a worthy one), there should be no further emphasis on the ‘troubles’ of harassers.”
3. Das Primat des Weglassens (operation-harakiri.de, Ralf Heimann)
Auf Joachim Widmanns zehn Gebote des Lokaljournalismus antwortet Ralf Heimann in einem nachdenklichen Text, der Widmann zwar zustimmt, aber auch genau die praktischen Probleme in Lokalredaktionen zeigt, die übrig bleiben, wenn die durchdeklinierten Zehn-Punkte-Formeln mal wieder ausgesprochen und verpufft sind. “Da kann man dem Redakteur dann raten: Sei kritisch! Sei offen! Sei flexibel! Aber ohne die Rückendeckung des Arbeitgebers wird er doch nur der Trottel bleiben, der gegen Ende der Woche anruft, um noch mal nachzuhaken.”
4. Raiders of the Lost Web (theatlantic.com, Adrienne LaFrance, englisch)
Das Netzt vergisst nichts? Manchmal schon. Adrienne LaFrance schreibt über ein 34-teiliges Onlinefeature, das einst für den Pulitzer-Preis nominiert war und inzwischen nicht mehr im Internet zu finden ist. LaFrance meint: “If a sprawling Pulitzer Prize-nominated feature in one of the nation’s oldest newspapers can disappear from the web, anything can.” Bei digg.com beantwortet sie Leserfragen zu ihrer Recherche.
5. Über die Absurdität von “Ist hier privat unterwegs” in sozialen Netzwerken (basicthinking.de, Frank Krause)
Ein beliebter Satz in der Twitter-Bio von Journalisten lautet: “Ist privat hier”. Teilweise raten Medien ihren Mitarbeiter sogar zu solchen Phrasen, etwa die “Blick”-Gruppe oder der MDR. Frank Krause meint dazu: “Wenn ich Mist baue, kann ich mich trotzdem nicht dahinter verstecken. Wenn ich etwa in meinem Social-Media-Profil angebe für eine Firma zu arbeiten, werde ich im Zweifel trotzdem daran bemessen.”
6. Hamann: “Eine neue Geschichte werde ich im Internet nicht finden” (derstandard.at, Sibylle Hamann)
Zur Magisterverleihung am Wiener “Institut für Journalismus und Medienmanagement” hält Sibylle Hamann eine Rede zur Situation des Journalismus. Dort gehe es zu wie in einem Bienenstock: Verlockendes Industriezuckerwasser stehe den Bienen bei der Arbeit im Weg, aufgrund strukturerhaltender Maßnahmen würden sie gar nicht mehr aus ihrem Stock kommen und die Wiesen, auf denen es die schönen Blumen gibt, seien dadurch verwaist. Und das kann, so Hamann, den jungen Journalisten Mut machen: “Denn eine leere Wiese — wie geil ist das denn!”
Die jungen Leute gucken ja alle heutzutage Serien, und deswegen muss auch Bild.de über Serien berichten. Die neueste “NETFLIX-ERFOLGSSERIE” ist “Narcos”, in der es um den kolumbianischen Drogenhändler Pablo Escobar geht. Also schreibt auch Bild.de über “Narcos”. Und hat sich dafür einen besonderen Dreh überlegt:
Da gäbe es(Update: Bild.de hat den Artkel inzwischen entfernt*) zum Beispiel “Escobars Sohn”, “Escobars Geliebte” — oder “Escobars Geschäftspartner”, Carlos Lehder Rivas:
Carlos Lehder Rivas (66) ist Sohn eines deutschen Ingenieurs und einer Kolumbianerin, war Mitbegründer des Medellín-Kartells und Gefährte von Pablo Escobar.
Carlos Lehder, Sohn eines deutschen Ingenieurs und einer Kolumbianerin, Mitbegründer des Medellín-Kartells, Gefährte des Kokainbarons Pablo Escobar
Die Bild.de-Autorin hat aber noch mehr über Lehder zu berichten:
Lehder gewann Escobar als Lieferanten, und obwohl die Beziehungen zwischen den beiden stets von Misstrauen, sogar Antipathie geprägt war, stieg der Deutsche zu einer der beherrschenden Figuren des Medellín-Kartells auf.
Genau. Wie Sandro Benini bereits vor dreineinhalb Jahren im “Tagesanzeiger” geschrieben hat:
Lehder gewinnt Pablo Escobar als Lieferanten, und obwohl die Beziehung zwischen den beiden stets von Misstrauen, ja sogar Antipathie geprägt ist, steigt der Deutsche zu einer der beherrschenden Figuren des Medellín-Kartells auf.
Bild.de:
Während Escobar vom Koks die Finger ließ, bekam Lehder vom weißen Pulver die Nase nicht voll genug. Das machte ihn unberechenbar und gewalttätig.
“Tagesanzeiger”:
Während Escobar vom Koksen die Finger lässt und höchstens einmal einen Joint raucht, kann Lehder von dem weissen Pulver die Nase nicht voll genug kriegen. Das macht ihn unberechenbar und gewalttätig.
Bild.de:
Am 4. Februar 1987 um 5 Uhr morgens in Guarne, einem Städtchen im Westen Kolumbiens, wurde er von der Drogenpolizei DEA (Drug Enforcement Administration) festgenommen.
“Tagesanzeiger”:
Es ist der 4. Februar 1987, 5 Uhr morgens in Guarne, einem Städtchen im Westen Kolumbiens. Eine Sondereinheit kolumbianischer Elitepolizisten und mehrere Agenten der amerikanischen Drogenpolizei DEA (Drug Enforcement Administration) umstellen ein Landgut.
Bild.de:
Die Geschichte von Carlos Lehder wurde im Film „Blow“ (2001) erzählt, mit Johnny Depp (52) in der Hauptrolle.
“Tagesanzeiger”:
Die Geschichte der Freundschaft zwischen Jung und Lehder wird im Film «Blow» aus dem Jahre 2001 erzählt, mit Johnny Depp in der Hauptrolle.
Auch beim Rest der Lehder-Passage hat sich Bild.de offensichtlich beim “Tagesanzeiger” bedient — natürlich ohne ihn zu nennen. Was wohl Bild.de-Chef Julian Reichelt zu dieser Praxis sagen würde?
Mit Dank an Jonas G.
*Nachtrag, 16. Oktober, 12:01 Uhr: Bild.de-Chef Julian Reichelt hat reagiert, den Artikel offline genommen und sich bei “Tagesanzeiger”-Autor Sandro Benini entschuldigt.
1. War da was? (cicero.de, Petra Sorge)
Zwischen 150.000 und 250.000 Menschen demonstrierten am Wochenende gegen TTIP, es könnte die meistbesuchte Protestkundgebung seit den Demonstrationen gegen den Irakkrieg gewesen sein. Für die Medien war das allerdings kaum ein Thema, selbst der “Tagesspiegel” als Berliner Regionalzeitung begnügte sich mit einem “mit dpa-Material” angereicherten Stimmungsbild im Wirtschaftsteil. Erst die gegen Sigmar Gabriel gerichtete Guillotine griffen Kommentatoren auf und stellten “den Protest gegen den Freihandel deswegen pauschal in die rechte Ecke”, kritisiert Petra Sorge. Dabei hätten sich die Veranstalter der Demonstration “eindeutig und sogar auf der Bühne von US-Feinden, der AfD und von rechten Gruppierungen” distanziert. Es sei falsch, wenn Journalisten den Protest gegen TTIP “nun braun anfärben statt neutral abzubilden, wenn sie sich der ernsthaften Debatte über das Handelsabkommens verweigern”.
2. Vorratsdatenspeicherung gefährdet Journalismus (ndr.de, Carolin Ebner, Video, 3:43 Minuten)
Gestern ist der Entwurf erfolgreich durch den Rechtsausschuss gekommen, morgen ist er Thema im Parlament — das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung wird aller Voraussicht nach kommen. “Zapp” erklärt, wie das “Anti-Whistleblower-Gesetz” Journalisten, Hinweisgeber, Blogger und Aktivisten in puncto Datenhehlerei in Schwierigkeiten bringen könnte.
3. “Lachen” über Gewalt gegen Schwulen: Presserat kritisiert bild.de (queer.de, dk)
Der Presserat hat einen “Hinweis” gegen Bild.de ausgesprochen, weil unter einem Artikel über den Angriff auf einen schwulen Politiker das Moodtagging eingeschaltet war. Es schade dem Ansehen der Presse, so der Presserat, “wenn ein Medium bei einem Beitrag, der sich mit einer Gewalttat gegen einen Menschen beschäftigt, den Usern die Möglichkeit eröffnet, den Artikel mit einer Emotion wie ‘Lachen’ zu bewerten”.
4. Kritiker zu Gast beim Spiegel (heise.de, Katrin McClean)
Ein “Spiegel”-Redakteur hat neulich mehrere Leser, die ihm kritische Mails geschrieben hatten, zum Dinner eingeladen. Unter den Auserwählten war auch Katrin McClean, die das Treffen im “Spiegel”-Haus für eine ganz bestimmte Mission nutzen wollte: Herauszufinden, warum das Magazin so sanft über die USA, aber so kritisch über Russland berichte. In ihrem Artikel lässt sie den Abend voller Tumulte, George W. Bush und Wein Revue passieren.
5. „Jugendportale“ (kraftfuttermischwerk.de, Ronny)
Die Debatte um Jugendportale wie “Bento”, “Ze.tt” und all die anderen zieht sich nun schon eine ganze Weile. Völlig unsinnig, meint Ronny vom “Kraftfuttermischwerk”, denn: “Die Jugendlichen, über die ihr immer schreibt, geben einen Scheiß auf all diese Jugendangebote! Sie haben mittlerweile ihr eigenes Netz gebaut, was großartig ist. Von dem wir halb und darüberhinausalten allerdings keine Ahnung mehr haben.”
Der Deutsche Presserat hat vor vielen Jahren eine (…) ethische Empfehlung beschlossen. Sinngemäß wird in dieser Empfehlung vorgeschlagen, weitgehend auf die Berichterstattung [über Suizide] zu verzichten. Zumindest nicht ausgebreitet und im Einzelnen bezogen auf die Person. (…)
Die ethische Selbstbeschränkung erwuchs aus der Angst vor einem Nachahmeffekt. Kurz gesagt: Berichterstattung würde andere zum Selbstmord anstiften.
Der “Focus Online”-“Experte” hat an dieser These so seine Zweifel. Viel näher geht er aber nicht darauf ein und lässt die Frage in der Überschrift unbeantwortet. Er will sich auch gar nicht damit befassen, denn:
Es geht mir an dieser Stelle nicht um die Diskussion, ob es einen Nachahmeffekt gibt oder nicht. Ich halte eine solche Diskussion grundsätzlich für überflüssig, zumal sich Suizid heutzutage, vor allem im Bereich Social Media, bereits öffentlich abspielt oder dort inszeniert wird.
Ahso.
Man kann lange über ethische Selbstbeschränkung reden oder nicht. Die Fakten sprechen eine eigene Sprache.
In der Tat.
Mitte der 70er-Jahre wies der amerikanische Soziologe David Phillips nach, dass immer, wenn die „New York Times“ prominent über einen Selbstmord berichtet hatte, die Zahl der Selbstmorde deutlich anstieg. Je länger und prominenter über den Suizid berichtet wurde, desto größer war der folgende Anstieg. Phillips erkannte auch örtliche Zusammenhänge: Wenn beispielsweise ein Selbstmord nur in New York groß auf der Titelseite behandelt wurde, nicht aber in Chicago, stieg die Zahl der Selbstmorde in New York stärker als in Chicago. Während eines neunmonatigen Zeitungsstreiks in Detroit sank die Zahl der Selbstmorde dort signifikant.
Anfang der 80er zeigte das ZDF die (fiktive) Serie „Tod eines Schülers“, in dem sich ein Jugendlicher das Leben nimmt. Hinterher nahm die Zahl ähnlicher Suizide bei jungen Männern um 175 Prozent zu. Selbst bei der Wiederholung der Serie eineinhalb Jahre später stellten Wissenschaftler noch einen erheblichen Nachahmungseffekt fest.
Auch nach dem Suizid von Fußballer Robert Enke, über den deutsche Medien sehr detailliert berichtet hatten, stieg die Zahl ähnlicher Suizide deutlich an — in den ersten zwei Wochen um 138 Prozent. Die Forscher beobachteten auch längerfristige Folgen: Im Vergleich zu den zwei Jahren vor Enkes Tod stieg die Zahl ähnlicher Selbstmorde in den zwei Jahren danach um 19 Prozent.
Auch in Japan haben Wissenschaftler einen solchen Nachahmeffekt nachgewiesen. Und in Österreich. Und in Großbritannien. Und in Korea. Und in Taiwan. Und in Australien. Und in der Schweiz. Nur wenige Beispiele von unzähligen Studien, die belegen, dass Medien die Zahl der Selbstmorde in die Höhe treiben. Oder wie der australische Psychiater Robert D. Goldney schon vor 25 Jahren feststellte:
Es besteht kein begründeter Zweifel mehr, dass die Medien zu Selbstmorden beitragen. Eine unreflektierte Berichterstattung wird zwangsläufig zu weiteren Selbstmorden führen.
“Focus Online” ist das egal.
“Focus Online” berichtet über Suizide wie über alles andere: durch und durch getrieben von der Gier nach Klicks. Nach dem Suizid von Schauspieler Robin Williams veröffentlichte das Portal allein in den ersten vier Tagen über 70 Artikel und erklärte unter anderem detailliert, wie sich der Schauspieler das Leben genommen hatte. Auch der Selbstmord von Ben Wettervogel zog ein regelrechtes Artikelfeuerwerk nach sich; “Focus Online” beschrieb die genaue Suizidmethode, spekulierte über die Motive, brachte immer wieder “neue Details zu seinem Tod”. Und selbst Nicht-Prominente werden nicht verschont: Erst vor drei Wochen rügte der Presserat das Portal öffentlich, weil es über den Suizid eines 13-jährigen Mädchens berichtet und die “geforderte Zurückhaltung” dabei “grob missachtet” hatte.
Wie Medien über Suizide berichten sollten, um Nachahmungstaten zu vermeiden:
Sie sollten jede Bewertung von Suiziden als heroisch, romantisch oder tragisch vermeiden, um möglichen Nachahmern keine post-mortalen Gratifikationen in Form von Anerkennung, Verehrung oder Mitleid in Aussicht zu stellen.
Sie sollten weder den Namen der Suizidenten noch sein Alter und sein Geschlecht angeben, um eine Zielgruppen-Identifizierung auszuschließen.
Sie sollten die Suizidmethode und – besonders bei spektakulären Fällen – den Ort des Suizides nicht erwähnen, um die konkrete Imitation unmöglich zu machen.
Sie sollten vor allem keine Informationen über die Motivation, die äußeren und inneren Ursachen des Suizides andeuten, um so jede Identifikations-Möglichkeit und Motivations-Brücke mit den entsprechenden Lebensumständen und Problemen des Suizidenten vermeiden.
Diese Zurückhaltung ist das, was der “Focus Online”-“Experte” als “ethische Selbstbeschränkung” bezeichnet. Viele Institutionen — darunter die Weltgesundheitsorganisation, die Deutsche Depressionshilfe, die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention oder eben der Presserat — empfehlen Journalisten, weder prominent noch detailliert über Suizide zu berichten, um Nachahmungstaten zu vermeiden (siehe Kasten rechts).
Wie wirksam diese Zurückhaltung sein kann, zeigt ein Beispiel aus Österreich. Nach der Eröffnung der U-Bahn in Wien im Jahr 1978 kam es dort zu einem dramatischen Anstieg der Suizide und Suizidversuche, über die (vor allem in den Printmedien) intensiv und plakativ berichtet wurde. Gegen Ende der 80er-Jahre entwickelte der Österreichische Verein für Suizidprävention einige Richtlinien für Medien, die zum Beispiel nahelegten, keine Details zu nennen und nicht zu emotionalisieren, keine Fotos zu zeigen und nicht auf der Titelseite zu berichten. Nachdem die Redaktionen die Empfehlungen umgesetzt hatten, sank die Zahl der U-Bahn-Suizide um 75 Prozent.
Was bringt es den Lesern auch, wenn sie erfahren, wie genau sich jemand das Leben genommen hat? Oder an welchem Ort? Für das Verständnis des Geschehens sind diese Details völlig irrelevant.
“Focus Online” ist das egal.
Die Artikel sind die jüngsten Beispiele für den gedankenlosen Veröffentlichungswahn von “Focus Online”. Erneut nennt das Portal die genaue Suizidmethode der Frau, spekuliert über ihre Motive, zitiert aus ihrem angeblichen Abschiedsbrief und gibt sich auch sonst wieder jede Mühe, es Nachahmern möglichst einfach zu machen. Diskussionen? “Überflüssig”.
Und natürlich hat “Focus Online” auch kein Problem damit, die Artikel mit Eigenwerbung vollzuballern.
Oder hier:
Der Link führt übrigens zum “Focus Online”-Ratgeber “Den passenden Grabstein finden”.
Immerhin: Unter manchen Artikeln gibt “Focus Online” inzwischen die Nummer der Telefonseelsorge an. Hier zum Beispiel:
Leider ist “Focus Online” nicht das einzige Medium, das die Empfehlungen zur Nachahmungsprävention regelmäßig und mit großer Sorgfalt ignoriert. Auch seriösere Journalisten reihen sich ein, und natürlich die von “Bild”.
Auch die nutzen solche Artikel ohne große Hemmungen zum Geldverdienen:
Der Text handelt vom Suizid von Jim Carreys Ex-Freundin, der auch bei Bild.de ausführlichst vorkommt. Bild.de schreibt Dinge wie …
… und …
… und …
… und nennt dermaßen viele Details, dass Nachahmer kein Problem hätten, den Selbstmord haargenau zu kopieren.
Und dann schreibt Bild.de unter den Artikeln:
Der erste Satz ist ein bisschen umständlich formuliert. Was die „Bild“-Leute eigentlich sagen wollen:
Wenn die Umstände eines Suizids eine gute Schlagzeile abgeben, schenken wir ihm besondere Aufmerksamkeit. Dann zitieren wir aus Abschiedsbriefen, dann spekulieren wir über die Motive und erklären in aller Ausführlichkeit die Suizidmethode. Und die Sache mit der Nachahmung, tja. Manchmal muss man sich eben zwischen Klicks und Menschenleben entscheiden.
1. Auskunftsanspruch gegenüber Bundesbehörden: Netzwerk Recherche fordert schnelle gesetzliche Regelung (netzwerkrecherche.org)
Anfragen von Journalisten haben Bundesbehörden immer mal wieder mit dem Argument unbeantwortet gelassen, dass die Landespressegesetze für sie nicht gelten. Gestern hat das Bundesverfassungsgericht bekanntgegeben, eine daran anknüpfende Beschwerde eines “Bild”-Reporters nicht anzunehmen; gleichzeitig sagt das Gericht aber, dass die Informationsrechte gegenüber Behörden des Bundes kein geringeres Niveau erreichen dürfen als auf Landesebene. Für Manfred Redels vom “Netzwerk Recherche” ist nun “der Gesetzgeber gefordert, schnell eine Regelung auf den Weg zu bringen, die die Rechercherechte stärkt und auch bei Anfragen an Bundesbehörden für Klarheit sorgt”.
2. Twitter gibt sich einen Pressekodex (konradlischka.info)
Mit seinem kürzlich gestarteten Angebot “Moments” hat sich Twitter endgültig von der reinen Plattform zum “Platisher” entwickelt und wildert jetzt im Geschäft der Publisher. Für den neuen Dienst wählen Redakteure Tweets aus und erstellen daraus kleine Geschichten. Dafür hat sich Twitter selbst Richtlinien auferlegt, die Konrad Lischka bekannt vorkommen: “Passagen dieses Dokuments lesen sich, als hätte Twitter den Pressekodex kopiert.” Für ihn ist das Vorgehen “ein Meilenstein”, da Suchmaschinen und soziale Netzwerke “als Publikumsverteiler ähnlich wie Medien” funktionierten. Allerdings seien die Richtlinien an einigen Stellen problematisch und könnten schon bald zu Problemen führen, etwa beim Schutz der Persönlichkeit und dem Umgang mit Richtigstellungen.
3. Juristisch falsche Berichterstattung des NDR zum Thema Identitätsdiebstahl (internet-law.de, Thomas Stadler)
Den NDR-Bericht “Wie Kriminelle Identitäten missbrauchen” findet Thomas Stadler alarmistisch und “juristisch falsch”. Schließlich hafte man grundsätzlich nur für sein eigenes Verhalten — und nicht dafür, dass sich jemand der Identität bemächtigt hat und im Namen eines anderen Geschäfte tätigt.
4. Mir geht eure Sensationsgeilheit auf den Sack! #taff (lilies-diary.com, Christine)
Snapchat-Fan Christine hat ein Kamerateam von “taff” ins Haus gelassen und ärgert sich im Nachhinein. “Das habe ich jetzt davon. Es lief eine völlig bescheuerte, teilweise frei erfundene Geschichte auf taff.” Der ganze Beitrag sei “auf einer Lüge aufgebaut”, schreibt sie: “Weder ich bin süchtig, noch habe ich Zeit 6 Stunden vor Snapchat zu hängen, noch ist meine Beziehung gefährdet.” Allerdings, so Alexander Krei bei DWDL, sei die 30-Jährige nicht ganz unschuldig am entstandenen Eindruck, schließlich habe sie “in der Vergangenheit gleich mehrfach mit einer Snapchat-Sucht kokettiert.”
5. The growing problem of Internet “link rot” and best practices for media and online publishers (journalistsresource.org, Leighton Walter Kille, englisch)
Ein Problem, über das sich Print-Journalisten garantiert nie Gedanken machen müssen: Wie verlinke ich meine Quellen richtig? Online-Journalisten können dabei aber eine Menge falsch machen. Klar ist: Gar keine Links sind unsauber, aber auch mit dem Gegenteil tut man seinen Lesern keinen Gefallen — zu viele, wahllose Verweise schaden dem Lesefluss und stiften unnötig Verwirrung. Leighton Walter Kille gibt zehn wirklich wertvolle Tipps zum richtigen Umgang mit Hyperlinks — nicht nur für Journalisten, sondern für alle Menschen, die ins Internet schreiben.
6. So hat uns Gregor Gysi ausgetrickst (heute.de, Andreas Kynast)
Gestern hatte Gregor Gysi seinen letzten Tag als Vorsitzender der Linksfraktion im Bundestag. “Der politische Langzeit-Erfolg” des Politikers beruhe zu einem Großteil auf seiner Wirkung im TV, schreibt ZDF-Korrespondent Andreas Kynast. Er stellt “sieben typische Gysi-Tricks” vor, “um im Fernsehen gut auszusehen”.
15 Monate nach dem Absturz des Malaysian-Airline-Fluges MH17 hat der niederländische Sicherheitsrat heute seine Untersuchungsergebnisse veröffentlicht. Das Flugzeug sei von einer Rakete abgeschossen worden, stellten die Ermittler fest.
Die Schuldfrage — Russland und die Ukraine machen sich gegenseitig für den Abschuss verantwortlich — ist bislang aber nicht geklärt, das Expertenteam hatte sie auch nicht untersucht. Auch von welchem Ort genau aus die Rakete abgefeuert wurde, lässt der Bericht offen.
Die “Stuttgarter Zeitung” wusste es trotzdem:
Als Quelle wird im Artikel die dpa angegeben, doch von “ukrainischer Buk-Rakete” oder “ukrainisch kontrolliertem Gebiet” hatte die Agentur gar nichts geschrieben. Im Gegenteil — in der Meldung steht ausdrücklich:
Von welchem Gebiet aus die Rakete abgefeuert wurde, teilte das Gremium nicht mit.
Das internationale Expertenteam unter niederländischer Leitung untersuchte nicht die Schuldfrage. Dies ist Gegenstand noch laufender strafrechtlicher Ermittlungen.
Inzwischen hat die “Stuttgarter Zeitung” den Artikel unauffällig geändert. Warum zuvor von einer ukrainischen Rakete die Rede war, konnte uns die Redaktion heute Abend nicht genau erklären. Es sei aber ein Versehen gewesen.
Nachtrag, 23.08 Uhr: Unter dem Artikel steht nun ein “Hinweis der Redaktion”:
In einer früheren Version dieses Artikel hieß es, die Rakete sei von ukrainisch kontrolliertem Gebiet aus abgefeuert worden. Bei dieser Aussage handelte es sich um einen redaktionellen Fehler – wir bitten alle Leser, dies zu entschuldigen.
Nun will Facebook also Emojis einführen. Statt ein Foto, ein Posting, einen Link nur zu liken, können ausgewählte Nutzer jetzt testweise ihre Zustimmung oder Ablehnung oder Überraschung durch kleine Symbole kundtun: ein Herz zum Beispiel oder ein Gesicht mit einer Träne.
Aber gibt’s das nicht schon längst woanders?
Sicher nicht ohne Stolz retweetet Kai Diekmann — nicht nur “Bild”-Chef, sondern auch Herausgeber von Bild.de –, dass Facebook bei ihm und seinem Team abkupfere.
Man könnte einwenden, dass Facebook ein entsprechendes Patent bereits im März 2013 angemeldet hat, also lange bevor Bild.de mit dem sogenannten Moodtagging loslegte. Und auch, dass in der Medienbranche beispielsweise “Buzzfeed” viel früher eine solche Funktion eingeführt hat.
Aber: Bild.de war mit dabei. Wenn es zum Beispiel ein Feuer im Flüchtlingscamp gab, und die Redaktion darüber berichtet hat, konnten die Leser mit einem Klick ihr Entsetzen ihre Freude darüber äußern:
Diese Reaktion über ein Unglück war keine Ausnahme. Ein Schwertfisch spießt einen Seemann auf? Lachen! Ein toter Porsche-Fahrer? Lachen! Gleichstellung für Homo-Ehe? Wut!
Dabei war es durchaus möglich, das Tool bei einzelnen Texten auszuschalten — zum Beispiel bei Kommentaren der “Bild”-Chefs. Wissen wir bis heute nicht, warum es nicht auch bei solchen Artikeln gemacht wurde:
Seit ein paar Wochen ist das Moodtagging bei Bild.de nicht mehr zu finden, die Redaktion hat die Funktion abgestellt.