1. Das Dilemma mit kritischen Fragen (taz.de, Anne Fromm)
Die Medizinerin Sandra Ciesek tritt seit einiger Zeit im Wechsel mit Christian Drosten im Corona-Podcast des NDR auf. Ciesek ist als Professorin für Virologie und Direktorin des Instituts für Medizinische Virologie in Frankfurt mehr als qualifiziert für diese Aufgabe, wurde jedoch in einem “Spiegel”-Interview mit merkwürdigen Fragen konfrontiert. Die Redaktion verteidigte die Fragen auf Twitter als “kritisch”, “frech” und “provokant”. Anne Fromm hat sich angeschaut, wie dieselben “Spiegel”-Redakteurinnen im Mai mit Cieseks Kollegen Drosten umgegangen sind: “Da ist wenig Provokantes, Freches, Kritisches drin. Das liest sich eher wie Heldenverehrung. Der Spiegel konkretisierte nach der aktuellen Kritik eine Frage an Sandra Ciesek in der Onlineversion des Interviews. Eine der Interviewerinnen schob die Verantwortung für die Fragen dennoch Ciesek selbst zu, die doch bitte im Interview hätte deutlich machen sollen, dass sie mit den Fragen nicht einverstanden sei.”
2. Balance zwischen Empathie und Distanz (journalist.de, Marianna Deinyan)
Marianna Deinyan gibt zehn Tipps, wie Journalistinnen und Journalisten im Interview mit Personen umgehen können, die Terroranschläge, Naturkatastrophen oder sexuellen Missbrauch erlebt haben. Es sind gute und sensible Ratschläge, die von Verantwortung für die Gesprächspartner zeugen und die man allerhöchstens mit einem elften Ratschlag ergänzen könnte: Es im Zweifel sein zu lassen.
3. Die Krise der Kommunikation – Die große Gereiztheit unserer digitalen Gegenwart (1/2) (swr.de, Bernhard Pörksen, Audio: 29:56 Minuten)
Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen macht sich Gedanken zur Reizüberflutung durch fragwürdige Nachrichten. All die Falschmeldungen, Verschwörungsmythen und Empörungstexte würden zu einer neuen Gereiztheit führen, die symptomatisch für eine neue Kommunikationskultur sei: “Wir sind gereizt, weil wir im Informationsgewitter in heller Aufregung nach Fixpunkten und Wahrheiten suchen, die doch, kaum meinen wir, ihrer habhaft geworden zu sein, schon wieder erschüttert und demontiert werden.” Pörksens Ausführungen können auch im Manuskript (PDF) nachgelesen werden.
4. Kijimea Reizdarm Pro: Anbieter droht dem Arznei Telegramm (arznei-telegramm.de)
Seit mehr als 50 Jahren versorgt das unabhängige “arznei-telegramm” Ärztinnen, Apotheker und Medizininteressierte mit Informationen zu Arzneimitteln. Um unabhängig zu sein, erfolgt die Finanzierung ausschließlich über Abonnements – Werbung gibt es nicht. Nun habe die Redaktion Anwaltspost bekommen, “die wir als unzulässigen Versuch empfinden, durch bloße Drohgebärde unsere redaktionellen Recherchen und Veröffentlichungen zu beeinflussen.”
5. Was hat Sucharit Bhakdi als Experte im Programm der ARD zu suchen? (uebermedien.de, Stefan Niggemeier & Holger Klein, Audio: 42:26 Minuten)
Im neuen “Übermedien”-Podcast unterhalten sich Stefan Niggemeier und Holger Klein über die Bhakdi-Panne der ARD. Vergangene Woche hatten MDR und hr-Info den emeritierten Epidemiologen Sucharit Bhakdi unhinterfragt in einem Interview zur Corona-Pandemie zu Wort kommen lassen, obwohl hinlänglich bekannt ist, dass sich Bhakdi außerhalb des wissenschaftlichen Konsenses bewegt.
6. Was besser wäre, als Pornoseiten zu sperren (netzpolitik.org, Marie Bröckling)
Um Kinder vor verstörenden Inhalten zu schützen, will die nordrhein-westfälische Medienaufsichtsbehörde die großen Porno-Portale dazu zwingen, ihre Inhalte erst nach einer Altersverifikation preiszugeben, und droht ihnen bei Nichtbefolgung mit Netzsperren. Marie Bröckling hat sich bei Medienpädagoginnen und Fachleuten aus der Praxis umgehört, was diese von den Ausweiskontrollen halten und welche anderen Möglichkeiten es gibt, mit dem Thema umzugehen.
7. #Bild verfolgt in Sachen Corona eine besorgniserregende Agenda (twitter.com, Lorenz Meyer)
Zusätzlicher Link, da aus der Feder des “6 vor 9”-Kurators: Auf Twitter habe ich den Corona-Kommentar des “Bild”-Mitarbeiters Filipp Piatov analysiert. Eine der Erkenntnisse: “‘Bild’ agiert wie der Brand-Gaffer, der nicht nur die Löscharbeiten behindert, sondern die Besitzer des brennenden Hauses mit Hinweisen auf die Gefahren durch Löschwasser verunsichert. Wohlwissend, dass nicht das Wasser das Problem ist, sondern das um sich greifende Feuer.”
Wenn es darum geht, die Kampagne gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung weiterzuführen, greift die “Bild”-Redaktion zu verschiedensten schmutzigen Mitteln: Sie erfindet ein Zitat, denkt sich eine Bedrohung aus, stellt alles als “Irrsinn” dar.
Gestern auf der Bild.de-Startseite:
Frank Ulrich Montgomery, einst Vorsitzender der Ärztegewerkschaft Marburger Bund, einst Präsident der Bundesärztekammer, Ehrenpräsident des Deutschen Ärztetages und aktuell Vorstandsvorsitzender des Weltärztebundes, soll sich in der Talkshow von Anne Will also gegen das Tragen von Masken ausgesprochen haben, weil dies eine Grundrechtseinschränkung wäre.
Es war komplett anders. Montgomery sprach sich bei Anne Will für das Benutzen von Masken aus. Sein Satz, in dem die Wörter “Grundrechtseinschränkung” und “Maske” fielen, endete auch nicht, wie die “Bild”-Redaktion behauptet, mit einem Ausrufezeichen, sondern mit einem Fragezeichen. Montgomery sagte am Sonntag (ab Minute 23:32):
Wir müssen immer vier Dinge, wie in einem Rechteck, bedenken. Da ist auf der einen Seite die Gesundheit, darüber reden wir jetzt hier. Da sind die soziokulturellen Folgen. Ich finde, die Auswirkungen auf das Bildungswesen haben Sie wunderbar beschrieben [er zeigt dabei auf Marina Weisband]. Da ist aber auch dann die Frage der Grundrechtseinschränkungen zum Beispiel. Ist es eine Grundrechtseinschränkung, sich eine Maske aufsetzen zu müssen? Und dann ist die Frage …
Anne Will unterbricht ihn:
Fanden Sie erst lächerlich, erinnere ich mich. Hatten Sie gesagt, das sei lächerlich.
Montgomery darauf:
Ja, ich habe mich geirrt. Ich habe damals zu Herrn Söder gesagt: Sie müssen richtige Masken, Sie müssen den Leuten FFP2-Masken mit einem Bußgeld auferlegen. Aber Sie können nicht mit einem feuchten Lappen vor dem Gesicht rumlaufen und darauf ein Bußgeld erheben, wenn das nicht getan wird. Inzwischen wissen wir, das hat Herr Yogeshwar wunderbar beschrieben, wir wissen inzwischen, dass alleine der mechanische Schutz einer Maske nicht den Träger, aber die anderen schützen kann. Und da hat Wissenschaft, und das ist übrigens was Tolles an dem ganzen Prozess, den wir gelernt haben, hat Wissenschaft auch gelernt zu sagen: Nee, also wir haben uns geirrt. Das ist jetzt anders. Wir sehen das anders.
Das Zitat, wie es auf der Bild.de-Startseite erschienen ist, hat die Redaktion erfunden. Den Artikel und auch den dazugehörigen Tweet hat sie inzwischen still und heimlich gelöscht.
Solange es zur laufenden Kampagne passt, denken sich die “Bild”-Leute halt einfach Sachen aus, und sei es nur eine angebliche Bedrohung durch nasse Haare.
Vergangene Woche ärgerte sich Alexander von Schönburg in “Bild” und bei Bild.de:
Ginge es im Puff ums Singen mit vielen Leuten, wäre es dort vermutlich genauso verboten wie in der Kirche. Und Sex mit einer anderen Person könnte unter denselben Bedingungen in der Kirche genauso erlaubt werden wie im Puff – wenn es denn von der Kirche erlaubt wäre. Aber das nur nebenbei.
Das Puff/Kirchen-Beispiel illustriert schon ganz gut, worum es in von Schönburgs Artikel geht: Dinge zu vergleichen, die möglichst wenig miteinander zu tun haben (etwa der vermeintliche Widerspruch, dass man in Berlin “jeden Tag Menschen ohne Helm, aber mit Mund-Nasen-Schutz Fahrrad fahren” sehe, wo doch die Krankenhäuser “voller Unfallopfer” seien, aber die “für die Covid-Patienten frei gehaltenen Intensivbetten” leer), um damit für Kopfschütteln und Neid zu sorgen (die Fußballfans dürfen im Stadion nun wieder grölen, von Schönburgs Nichte darf im Musikunterricht nur summen). Wichtig dabei: möglichst wenig Interesse an Logik und einer Erklärung zeigen. Zum Beispiel so:
Die Gefahr, abends nach dem Schwimmen von nassen Haaren auf dem Fahrrad krank zu werden, dürfte bei knapp 100 Prozent liegen. Die Gefahr, Corona zu bekommen, liegt im niedrigen einstelligen Bereich, aber die Berliner Bäderbetriebe haben die Benutzung der elektrischen Haartrockner unterbunden – die Aerosole.
Vielleicht zieht es noch bei Drei- bis Sechsjährigen, ihnen zu erzählen, dass “nasse Haare auf dem Fahrrad” krank machen, um sie zum Föhnen nach dem Schwimmunterricht zu bewegen. Alle anderen solltenhingegenwissen: Niemand wird allein durch nasse Haare krank, erst recht nicht zu “knapp 100 Prozent”. Viren und Bakterien sorgen für die Krankheiten, nicht nasse Haare und auch nicht die Kälte. Muss der Körper wegen nasser Haare gegen die Auskühlung des Kopfes ankämpfen, kann er anfälliger für Krankheiten sein. Allerdings passiert auch dann ohne Viren oder Bakterien nichts.
Bei “Bild” versuchen sie aber auch schon gar nicht mehr, irgendwas zu verstehen: “Diesen Corona-Irrsinn versteht niemand mehr”, steht im Bild.de-Artikel. Und so gilt bei den Corona-Maßnahmen der Regierung nun das, was bisher vor allem beim Thema Asyl galt: Ohne “Irrsinn” geht es bei “Bild” nicht mehr.
Gestern beispielsweise:
Das, was man hinter der “Bild plus”-Paywall erfährt, klingt hingegen keineswegs nach “Irrsinn”, sondern nach Vernunft und nach Regeln, die transparent und für jeden nachvollziehbar sind:
In Düsseldorf durften die [Ehrlich-]Brüder vor 2500 Fans auftreten. In Köln hingegen sorgten gestiegene Infektionszahlen einen Tag vor dem Event am Sonntag für die Absage der Stadt.
Der zuvor festgelegte Grenzwert bei der Sieben-Tage-Inzidenz wurde in Köln überschritten. In Düsseldorf nicht. In Düsseldorf durften die Ehrlich Brothers auftreten. In Köln nicht. Sich an das zu halten, was vorher vereinbart wurde, ist laut “Bild”-Redaktion also “Irrsinn”.
Und auch hier: Schaut man sich den “Corona-Irrsinn im deutschen Fußball” nur einen Tick genauer an, wirkt es alles gar nicht so irrsinnig, wie “Bild” glauben machen will. Dass zum Beispiel der FC Bayern München im Finale des Uefa-Supercups am kommenden Donnerstag in Budapest (Sieben-Tage-Inzidenz laut “Bild”: über 110) vor mehr als 20.000 Menschen spielen wird, während der Klub am vergangenen Wochenende in München (Sieben-Tage-Inzidenz laut “Bild”: 56,1) nur vor den Vereinsverantwortlichen auflaufen durfte, lässt sich damit erklären, dass Ungarn nicht Deutschland ist. Und dass damit andere Regeln gelten. Das kann man falsch finden. Aber um unerklärlichen “Irrsinn”, der nicht zu verstehen ist, handelt es sich nicht.
Genauso der von “Bild” erwähnte Vergleich Gelsenkirchen/Mönchengladbach:
Auch in Deutschland selbst gibt es weiter unterschiedliche Entwicklungen. Schalke droht zum Heim-Start gegen Werder ein Geister-Spiel, weil die 7-Tage-Inzidenz in Gelsenkirchen gestern bei 44,1 lag. 70 Kilometer entfernt, in Gladbach, dürfte gegen Union – Stand jetzt – vor Fans gespielt werden.
Im ersten Satz steckt schon die Erklärung: Auf “unterschiedliche Entwicklungen” wird unterschiedlich reagiert. Was wäre denn die Alternative, die auch aus “Bild”-Sicht nichts mit “Irrsinn” zu tun hätte? Etwa dass auch in Mönchengladbach nicht vor Zuschauern gespielt werden darf, weil in Gelsenkirchen der Wert so hoch ist? Oder dass in Gelsenkirchen vor Zuschauern gespielt werden darf, weil in Mönchengladbach der Wert niedrig ist? Dann wäre in den “Bild”-Medien aber was los.
Am deutlichsten aber …
Der Corona-Irrsinn im deutschen Fußball zeigt sich am deutlichsten bei den anstehenden Derbys.
Etwa bei dem Derby in Hamburg zwischen dem HSV und dem FC St. Pauli Ende Oktober. Im Hygienekonzept der Deutschen Fußball-Liga ist festgelegt, dass zu Bundesligaspielen keine Fans der Gastmannschaften ins Stadion dürfen. Das soll Fan-Reisen durch die Republik verhindern. Für Derbys gibt es keine Ausnahmen, auch wenn die Gästefans aus derselben Region oder derselben Stadt kommen. Das mag für Fans des FC St. Pauli schade sein. “Irrsinn” ist aber auch hier nicht zu erkennen, sondern schlicht gleiche Vorgaben für alle.
Es soll aber alles noch viel schlimmer sein. In Deutschland herrscht dank der Bundesregierung, zumindest laut “Bild”, nicht nur der “Irrsinn”, das Land ist sogar im “Absage-Fieber”:
Und obendrein lahmgelegt:
Aber: Reicht die 7-Tage-Inzidenz allein dafür aus, wegen Corona-Alarm das Land lahmzulegen?
Das behauptet jedenfalls “Bild”-Redakteur Filipp Piatov. Er nennt die bereits bekannten Einschränkungen und Absagen: keine Fans im Stadion in München, keine Zaubershow der Ehrlich Brothers in Köln. Also: Deutschland ist lahmgelegt. Und das “trotz leerer Intensiv-Betten”:
Fakt ist: Als z. B. die Stadt München (rund 1,5 Millionen Einwohner) am Donnerstag wegen der gestiegenen Infektionszahlen das Fan-Verbot beschloss, lagen in der Landeshauptstadt 14 Corona-Kranke auf der Intensivstation.
Was aus seiner Beobachtung konkret folgen soll, schreibt Piatov leider nicht. Soll das alles heißen: Absagen braucht derzeit kein Mensch, weil ja noch genügend Intensivbetten frei sind, die wir füllen können? Soll es erst wieder Absagen geben, wenn alle Betten voll sind? Wie viele gefüllte Intensivbetten mögen wohl der Zielwert der “Bild”-Redaktion sein? Und kommt dort jemand mal auf die Idee, dass der Zweck von Absagen genau das ist: möglichst leere Intensivbetten?
Am Wochenende versuchte die “Bild”-Redaktion dann noch, Kinder ins Spiel zu bringen (wobei es wirklich ein kühner Zug von ihr ist, jetzt schon wieder Kinder für die eigene Kampagne einzuspannen):
In einem dazugehörigen Kommentar schreibt Christian Langbehn, dass die Corona-Regeln in Deutschland nur noch “absurd” seien:
Wenn Regeln absurd werden, wenn wir als Vorbilder unserer Kinder das eigene Verhalten nicht erklären können, dann läuft etwas schief.
Was so alles schieflaufen soll, das verpackt Langbehn in Fragen. In diese zum Beispiel:
Warum müssen Kinder auf dem Schulhof Maske tragen, im Unterricht dann aber im Klassenzimmer nicht mehr?
Diese vermeintlich naive Frage zeigt, dass es Langbehn nur darum geht, Zweifel zu säen und Unmut zu verursachen. Er hat keinerlei Interesse an Antworten, denn wenn er Interesse hätte, hätte er ohne Probleme eine Antwort auf seine Frage finden können. In Schleswig-Holstein beispielsweise lautet sie “Kohortenprinzip”:
Das Kohortenprinzip sichert einen regulären Schulbetrieb. Durch die Definition von Gruppen in fester Zusammensetzung (Kohorten) lassen sich im Infektionsfall die Kontakte und Infektionswege wirksam nachverfolgen. Damit wird angestrebt, dass sich Quarantänebestimmungen im Infektionsfall nicht auf die gesamte Schule auswirken, sondern nur auf die Kohorten, innerhalb derer ein Infektionsrisiko bestanden haben könnte.
Übergeordnetes Ziel ist es, das Infektionsrisiko zu begrenzen und die Ansteckungsrate niedrig zu halten (“flatten the curve” bzw. “keep the curve flat”). Unter diesen Annahmen wird auf Abstandsregeln und das Tragen von Mund-Nase-Bedeckungen innerhalb der Kohorten verzichtet.
Daher keine Masken im Klassenzimmer. Auf dem Schulhof hingegen schon, damit sich verschiedene Kohorten nicht gegenseitig infizieren.
Springer-Chef Mathias Döpfner sagte vor Kurzem in einer Rede, die er als Präsident des Bundesverbands Digitalpublisher und Zeitungsverleger hielt:
Aktivismus ist das Gegenteil von Journalismus, auch wenn es um etwas Gutes geht.
Bei der “Bild”-Kampagne geht es nicht mal um etwas Gutes.
1. Warum Drosten die “Bild”-Zeitung so scharf angeht (tagesspiegel.de, Tilman Schröter & Gloria Geyer)
Der Chefvirologe der Berliner Charité Christian Drosten ärgert sich über eine Anfrage der “Bild”-Zeitung, die er als tendenziös und unfair empfand. Noch dazu hatte man ihm zur Beantwortung der komplexen Fragestellung lediglich eine Antwortzeit von einer Stunde eingeräumt. In der Anfrage, die eher einer Konfrontation glich, hatte sich “Bild” auf verschiedene Wissenschaftler bezogen, von denen sich mehrere sofort von dieser Art der Berichterstattung distanzierten.
Weiterer Lesehinweis: Wissenschaftler distanzieren sich im Streit um Drosten-Studie von “Bild” (turi2.de, Benjamin Horbelt). Lesenswert ist auch das Interview von Alexander Kühn mit dem vermeintlichen “Bild”-Kronzeugen, dem deutschen Ökonomen Jörg Stoye, der an der Cornell-Universität in Ithaca, USA, Statistik lehrt: “Drosten ist ein Gigant der Virologie. Ich habe von seiner Disziplin keine Ahnung, ich bin Statistiker. Als ich heute von dem ‘Bild’-Artikel erfahren habe, habe ich ihm gleich eine E-Mail geschrieben, wie unangenehm mir das ist.” (spiegel.de)
Und selbst altgedienten “Bild”-Recken wie Georg Streiter ist das Vorgehen seiner ehemaligen Kollegen unangenehm, wie auf Facebook zu lesen ist: “Selbst wenn man die nur als niederträchtig zu bezeichnenden ‘Recherche’-Methoden von Herrn Piatov ignoriert (darüber ist schon ausreichend geschrieben worden), bleibt festzustellen: Diese Schlagzeile ist durch NICHTS belegt.”
Außerdem aus unserem Archiv: Wie die “Bild”-Redaktion mit schmutzigen Tricks versucht, Christian Drosten zu zerlegen.
2. Ein Spotify für Journalismus? (message-online.com, Pauline Tillmann)
Medien erleben die Corona-Krise als eine höchst paradoxe Zeit: Einerseits sind sie als Informationslieferanten wertvoll wie noch nie und verzeichnen explodierende Online-Abrufe. Andererseits brechen die Anzeigeneinnahmen in dramatischer und existenzbedrohender Weise ein. Wie können Gegenstrategien aussehen? Könnten Spotify, Netflix und andere Streamingdienste Beispiele für neue Geschäftsmodelle sein? Was ist nötig, um die Zahlungsbereitschaft für digitalen Journalismus zu verbessern. Anhaltspunkte dafür können laut Pauline Tillmann Modelle wie die “Krautreporter”, das Schweizer Digitalmagazin “Republik” und der Abo-Abwickler Steady liefern (Offenlegung: Wir nutzen Steady als einen Weg, über den man uns unterstützen kann).
3. Jung & Live mit Bernhard Pörksen (youtube.com, Tilo Jung & Hans Jessen, Video: 2:04:00 Stunden)
Zwei kurzweilige Stunden ohne überfrachtetes Medien-Blabla, sondern mit dem spürbaren Wunsch, den Dingen auf den Grund zu gehen: Bei “Jung & live” war der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen zu Besuch. In dem Gespräch mit Tilo Jung und Hans Jessen geht es um die mediale Wahrnehmung der Corona-Pandemie, die Kunst des Miteinander-Redens, Filter-Bubbles und Filter-Clashs sowie die große Gereiztheit in unserer Gesellschaft. Schön ist auch die Anekdote, wie Pörksen bei einer Talkshow-Teilnahme von einem anderen Talkshow-Gast “bestohlen” wurde.
4. Netflix: Wer nicht glotzt, fliegt raus (wuv.de)
Normalerweise freuen sich Unternehmen darüber, wenn zahlende Kundinnen und Kunden die Dienste nicht in Anspruch nehmen (bei Fitnessstudios scheint dies gar zum Geschäftsprinzip zu gehören). Nicht so beim Video-Streaming-Dienst Netflix: Dort wolle man inaktiven Nutzerinnen und Nutzern (oder genauer: Nicht-Nutzerinnen und -Nutzern) das Konto künftig automatisch kündigen. Dies betreffe jene, die ihr Konto seit zwei Jahren nicht mehr genutzt haben oder die ein Jahr nach ihrer Anmeldung nicht in Erscheinung getreten sind. Die Zahl dieser Fälle sei höher als man erwartet: Die Rede ist von mehr als 900.000 Konten.
5. Böse Überraschungen (taz.de, Lotta Laoire)
Die Kamera-Assistentin Lea R. ist nach eigenen Angaben ein Opfer von Polizeigewalt geworden. Ein Polizist habe ihr am 1. Mai in Berlin mit voller Absicht ins Gesicht geschlagen, während ihr Team eine Festnahme aufgenommen habe. Die medizinischen Folgen für die 22-Jährige seien gravierend. Derzeit sei unklar, ob ihre abgebrochenen Schneidezähne überhaupt repariert werden können. Die Ermittlung des Täters in den Polizeireihen gestalte sich, wie oft bei derartigen Fällen, als schwierig bis unmöglich. Laut einer Studie komme es nur in rund zwei Prozent der Fälle von Polizeigewalt zu Gerichtsverfahren.
6. Pixel-Nacktbilder und SMS-Chats: Der Teletext wird 40 (rnd.de, Matthias Schwarzer)
Man mag es kaum glauben, aber Teletext wird auch 40 Jahre nach seiner Erstausstrahlung immer noch fleißig aufgerufen. Die Rede ist von mehr als zehn Millionen täglichen Nutzerinnen und Nutzern. Matthias Schwarzer lässt die vergangenen 40 Jahre Revue passieren und versucht die Frage zu beantworten, warum der Dienst bei vielen Menschen immer noch so beliebt ist — jenseits des nostalgischen Retrocharmes.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben es nicht leicht in diesen Tagen. Laien behaupten, es besser zu wissen, oder kokettieren sogar damit, keine Ahnung zu haben, und lassen sich als Querköpfe feiern. Und dann schaltet sich, wenn’s ganz schlecht läuft, auch noch die “Bild”-Redaktion ein.
Der “Faktencheck” der beiden “Bild”-Redakteure Timo Lokoschat und Filipp Piatov ist bereits rund zwei Wochen alt. Aber ein genauerer Blick lohnt sich noch immer, denn der Beitrag zeigt, mit welch unsauberen Methoden die “Bild”-Medien arbeiten, wenn sie eine Person, in diesem Fall Karl Lauterbach, abschießen wollen: Sie zitieren falsch, sie reißen Studien aus dem Zusammenhang, sie überbetonen bestimmte Aspekte, lassen andere komplett weg.
Ein Check zum “Faktencheck”.
1. “Lockdown”
“Die Zahlen sind runtergegangen, weil der Lockdown kam”, behauptete Lauterbach im Talk bei Markus Lanz am Dienstag. Die Forscher der ETH Zürich widersprechen: In einer viel beachteten Studie schreiben sie, dass Ausgangssperren zu den “am wenigsten effektiven Maßnahmen” gehören. Auch den Zahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI) zufolge sanken die Infektionszahlen bereits VOR dem Lockdown.
… schreibt “Bild”. Bereits in einem früheren Artikel (der auch aus anderen Gründen Unfug war) hat sich die Redaktion auf die Schweizer Studie berufen und sie, wie auch hier, falsch angewendet. In der Untersuchung der ETH Zürich (PDF) haben die Forscherinnen und Forscher genau definiert, was sie mit “Lockdown” meinen — nämlich nicht das, was in den meisten deutschen Bundesländern bis vor Kurzem galt. Die Definition der ETH:
Lockdown: Prohibition of movement without valid reason (e.g., restricting mobility except to/from work, local supermarkets, and pharmacies)
Nach dieser Definition gab es in Deutschland keinen flächendeckenden “Lockdown”. Klar, Karl Lauterbach nutzte den eigentlich unpassenden Begriff selbst, Lokoschat und Piatov griffen ihn letztlich nur auf. Aber die zwei “Bild”-Redakteure sind es, die ihn in den falschen Zusammenhang mit der Schweizer Studie bringen. Das, was dort unter “Lockdown” verstanden wird, die strikte Mobilitätseinschränkung, traf nur auf eine Handvoll Bundesländer zu, und das nicht mal die ganze Zeit. Die Maßnahmen, die hingegen tatsächlich bundesweit galten, unter anderem das Versammlungsverbot, Grenzschließungen, die Schließung von Kinos, Theatern und Konzertsälen sowie die Schließung von nicht systemrelevanten Betrieben, zählt die Studie zu den “effektivsten Maßnahmen”. Diese Maßnahmen dürfte Lauterbach auch mit “Lockdown” gemeint haben.
Die Behauptung von Lokoschat und Piatov, die Infektionszahlen seien laut RKI schon vor dem “Lockdown” gesunken, ist rein statistisch durchaus zutreffend. Aber erstens ist das kein Beweis dafür, dass die Maßnahmen nichts gebracht hätten. Und zweitens verkennen die “Bild”-Autoren einen wichtigen Punkt: Mit “Lockdown” müssten sie die am 22. März beschlossenen bundesweiten Kontaktbeschränkungen meinen, die am 23. März in Kraft traten. In den Zahlen des RKI erkennt man tatsächlich nach einem Höhepunkt am 16. März einen Rückgang der Erkrankungsfälle (allerdings nur einen leichten auf hohem Niveau), also eine Woche vor der Einführung der Kontaktbeschränkungen. Bloß: Auch schon vor dem 23. März gab es Maßnahmen, die später zum “Lockdown” gezählt wurden — etwa die Absage von Großveranstaltungen (9. März) oder das Schließen der meisten Schulen und Kitas (16. März). Auch die Mobilität der Menschen verringerte sich bereits vor den Kontaktbeschränkungen erheblich. All das hatte schon vor dem 23. März eine Wirkung, wie Ranga Yogeshwar in einem Video anschaulich erklärt.
2. Italienische Zustände
“80% unseres Erfolgs waren die Horrorbilder aus Italien!”, lobt Lauterbach die Vollalarm-Stimmung, die Deutschland im März in den Stillstand versetzte. Damit ist er nicht allein: Auch RKI-Chef Lothar Wieler (59) mahnte mehrmals, dass Deutschland “einfach nur 1–2 Wochen vor Italien” sei. Doch von italienischen Zuständen war in Deutschland glücklicherweise zu keinem Zeitpunkt etwas zu sehen.
… schreibt “Bild”. Erstmal: Lokoschat und Piatov zitieren hier unsauber. Lauterbach sprach nicht von “Horrorbildern”, sondern von “bestürzenden Bildern”. Und er lobte damit auch nicht die “Vollalarm-Stimmung” in Deutschland, sondern versuchte, mit diesem Beispiel zu erklären, warum es aus seiner Sicht hier nicht so schlimm gekommen ist wie in anderen Ländern:
Wir haben diese Hotspots in Deutschland nicht gesehen. Haben wir ja nicht gesehen. Wir hatten Gangelt. Und wir hatten also Webasto in München. Aber wir haben zum Beispiel diese Hotspots in den Restaurants (…) nicht gesehen, haben bei uns keine Rolle gespielt. (…) Und zwar deshalb, weil wir zu dem Zeitpunkt, wo wir noch nicht viele Infektionen hatten, die Bilder aus Italien hatten. 80 Prozent unseres Erfolgs sind die Bilder, die bestürzenden Bilder aus Italien gewesen. Und dann haben wir sozusagen schon alles dicht gemacht, bevor viele infiziert waren.
Karl Lauterbach nennt als Grund dafür, dass die Situation in Deutschland nicht so dramatisch wurde wie in anderen Ländern, etwa in Italien, dass “wir” als Warnung “die Bilder aus Italien hatten.” Lokoschat und Piatov machen daraus: Was redet der Lauterbach denn von “Horrorbildern aus Italien”? Das war hier doch alles gar nicht so schlimm wie in Italien! Eigentlich stützen sie damit unfreiwillig Karl Lauterbachs These — sie liefern ein Beispiel für das Präventionsparadoxon: Greifen Maßnahmen und bleiben dadurch schlimme Folgen aus, entwickelt sich schnell eine Stimmung: Waren diese Maßnahmen, dieser “Vollalarm”, dieser “Stillstand” jetzt wirklich nötig? War doch alles gar nicht so schlimm!
Lauterbach beschreibt etwas später in der Lanz-Sendung genau das, was “Bild” mit seinem Zitat anstellt (inklusive dem oben bereits zitierten “Lockdown”-Zitat):
Das höre ich oft und das sage ich jetzt, weil Sie es gesagt haben, das höre ich aber auch bei anderen oft: “Das, was ihr gesagt habt, ist doch alles nicht eingetreten.” Die Epidemiologen, die Wissenschaftler werden da so ein bisschen diffamiert, so nach dem Motto: “Ihr hattet Unrecht, es ist doch gar nicht so dick gekommen.” (…) Wir haben nie gesagt, dass die Katastrophe kommt, wenn wir den Lockdown machen. Wir haben gesagt, die Katastrophe kommt nicht, wenn wir den Lockdown machen. Genau das ist passiert. Wir haben sozusagen das erreicht, was wir wollten. Die Zahlen sind runtergegangen, weil der Lockdown kam. (…)
Daher darf nicht der Eindruck entstehen, dass die Wissenschaftler etwas hier in Deutschland vorhergesagt hätten, was dann nicht gekommen ist. Es diffamiert die Arbeit, die wir gemacht haben. Das ist der Erfolg unserer Arbeit, dass das nicht gekommen ist. Es gibt diesen Spruch: Die Epidemiologie hat keine Helden. Weil ich den vermiedenen Tod nachher gratis nehme und nicht sehe, was sonst passiert wäre.
3. Schweden
“Völlig verantwortungslos”, urteilt Lauterbach über Schweden und wähnt sich damit in der Gesellschaft “aller Epidemiologen”. Hintergrund: Das Königreich verzichtete auf Ausgangsbeschränkungen, setzte auf Vernunft und Freiwilligkeit seiner Bürger. Ein Krankenhaus-Kollaps blieb in Schweden aus. Über die Bewertung der schwedischen Zahlen sind sich keineswegs “alle Epidemiologen” einig. Weltweit und mit unterschiedlichen Ergebnissen wird der Sonderweg des Landes auch von der Fachwelt debattiert.
… schreibt “Bild”. Und lässt hier mehrere Aspekte weg. Allen voran die hohen Todeszahlen in Schweden. So berichtete der “Tagesspiegel” am selben Tag, an dem auch der “Bild”-Artikel erschien:
Das Land [Schweden] verzeichnet pro eine Million Einwohner mit fast 289 Todesfällen deutlich mehr als beispielsweise die Nachbarländer Norwegen, Dänemark oder Finnland. Auch im Vergleich mit Deutschland (87,7) liegt die Sterberate mehr als dreimal so hoch.
Inzwischen liegt dieser Wert für Schweden bei über 360 Toten pro eine Million Einwohner (in Belgien, Spanien, Italien, Großbritannien und Frankreich ist er noch höher – für Deutschland liegt er aktuell bei ungefähr 96). Würde man den schwedischen Wert auf Deutschlands Einwohnerzahl übertragen, hätten wir hier nicht, wie aktuell, etwa 8000 Tote, sondern fast 30.000.
Dass in Schweden die Zahl der Verstorbenen pro eine Million Einwohner um ein Vielfaches höher ist als in Deutschland, argumentiert auch Karl Lauterbach bei Markus Lanz, wenn er von “völlig verantwortungslos” spricht. Timo Lokoschat und Filipp Piatov lassen das aber einfach unter den Tisch fallen.
Auch das Scheitern des schwedischen Vorhabens, die Alten zu schützen, bleibt bei “Bild” unerwähnt: In Schweden starben besonders viele Menschen in Alten- und Pflegeheimen, wie die “Süddeutsche Zeitung” vergangene Woche konstatierte.
Die Schweden-Affinität der “Bild”-Redaktion in der Corona-Krise ist auch drüben bei “Übermedien” Thema.
4. Aerosole
Teil von Lauterbachs bedrohlichen Szenarien in der Lanz-Sendung sind “Aerosole” — Corona-Wölkchen, die bis zu sieben Stunden in der Luft schweben und Infektionen auslösen würden, wie der SPD-Politiker erläutert. Das steht zumindest im Widerspruch zu dem, was das Robert-Koch-Institut schreibt: Eine Übertragung über Aerosole sei im normalen gesellschaftlichen Umgang “nicht wahrscheinlich”, urteilen die RKI-Experten Ende April mit Verweis auf bisherige wissenschaftliche Untersuchungen.
… schreibt “Bild”. So sicher, wie Lokoschat und Piatov hier tun, war sich das Robert-Koch-Institut zu dem Zeitpunkt aber gar nicht:
Auch wenn eine abschließende Bewertung zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich erscheint, weisen die bisherigen Untersuchungen insgesamt darauf hin, dass eine Übertragung von SARS-CoV-2 über Aerosole im normalen gesellschaftlichen Umgang nicht wahrscheinlich ist.
“Eine abschließende Bewertung” erscheine “zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich”. So eine Nuancierung ins Ungewisse mag unerheblich wirken, gerade in diesem Fall stellt sie sich im Nachhinein aber als relevant heraus. Denn das RKI änderte seine Einschätzung inzwischen gewissermaßen ins Gegenteil, auch wenn “eine abschließende Bewertung zum jetzigen Zeitpunkt” immer noch “schwierig” sei. Mittlerweile heißt es:
Auch wenn eine abschließende Bewertung zum jetzigen Zeitpunkt schwierig ist, weisen die bisherigen Untersuchungen insgesamt darauf hin, dass SARS-CoV-2-Viren über Aerosole auch im gesellschaftlichen Umgang in besonderen Situationen (s. o.) übertragen werden können.
Diese Neubewertung veröffentlichte das RKI am 7. Mai. Also genau an dem Tag, an dem der “Bild”-Artikel über Karl Lauterbach erschien (bei Bild.de wurde er am Abend vorher veröffentlicht). Lokoschat und Piatov konnten beim Schreiben ihres Textes davon freilich nichts wissen. Aber schon da war das RKI beim Thema Aerosole nur eine unter mehreren Quellen: Der Virologe Christian Drosten nahm in seinem Podcast bei NDR Info bereits am 6. April Bezug auf eine Studie, auf die sich unter anderem auch die erste Einschätzung des RKI stützte. Drosten war hier eher unschlüssig (PDF):
Genau. Wir wissen nicht, wie das speziell bei diesem Virus ist. Also es gibt eine Studie zum Beispiel im “New England Journal”, die ist vor ungefähr drei Wochen schon erschienen. Die sagt, im Aerosol ist dieses SARS-2-Virus ungefähr drei Stunden lang noch infektiös. Dazu muss man aber dann auch sagen, dass die Autoren, die das publiziert haben, ein künstliches Virusaerosol mit einer ganz hohen infektiösen Viruskonzentration hergestellt haben. Da kann sich niemand sicher sein, ob das wirklich dem entspricht, was ein infizierter Patient wirklich von sich gibt.
Karl Lauterbach erwähnt bei Markus Lanz eine weitere Studie, nach der in einem Restaurant im chinesischen Guangzhou eine Person Menschen angesteckt habe, die gar nicht mit ihr an einem Tisch saßen. Das sei durch die Luftverteilung durch eine Klimaanlage begünstigt worden. Beide Studien werden in dem “Bild”-Artikel nicht erwähnt. Auch ein Beitrag der “Washington Post” von Ende April thematisierte die unsichere Faktenlage in Bezug auf Aerosole. Es ist also nicht so, als hätten Timo Lokoschat und Filipp Piatov beim Schreiben ihres Artikels nicht genügend Informationen für eine differenziertere Darstellung der Sachlage zur Verfügung gehabt.
Virologe Drosten ist in seiner Einschätzung zur Bedeutung von Aerosolen im Übrigen mittlerweile deutlicher, auch weil es einen neuen Report der US-amerikanischen Akademie der Wissenschaften zum Thema gibt. In der Podcast-Folge vom 12. Mai sagte er, dass er die Ansicht Lauterbachs, was die Aerosol-Infektionen angeht, teile (PDF):
Und die Infektiosität kann tatsächlich für mehrere Stunden bleiben. Da hat also Herr Lauterbach vollkommen Recht.
Auch das ist natürlich nicht in Stein gemeißelt — neue Studien können neue Erkenntnisse bringen.
5. Restaurants
Für Lauterbach ist in der Sendung von Markus Lanz klar: Restaurants wären “Brandbeschleuniger der Pandemie”, würden die Ausbreitung des Corona-Virus stark vorantreiben. Zweifel an den eigenen Aussagen? Keine.
Dabei hatte Hendrik Streeck (42), Professor für Virologie und Direktor des Instituts für Virologie an der Medizinischen Fakultät der Universität Bonn, vor vier Wochen bei Lanz erklärt: “Wir sehen, wie die Infektionen stattgefunden haben. Das war nicht im Supermarkt oder im Restaurant oder beim Fleischer. Das war auf den Partys beim Aprés (sic) Ski in Ischgl, im Berliner Club ‘Trompete’, beim Karneval in Gangelt und bei den ausgelassenen Fußballspielen in Bergamo.”
… schreibt “Bild”. Während Timo Lokoschaft und Filipp Piatov es so wirken lassen, als wäre Lauterbach generell gegen die Öffnung von Restaurants (was auch wunderbar zu ihrem Einleitungssatz passt: “Wenn es nach Karl Lauterbach (57, SPD) geht, haben alle Fragen eine einzige Antwort: Lockdown.”), sagt dieser in der Sendung von Markus Lanz, dass er es bei Beachtung von Hygieneregeln “schon für denkbar” halte, “dass die Gastronomie wieder öffnen kann.” Das verschweigen die “Bild”-Autoren allerdings.
Genauso wie sie in ihrem Artikel übrigens kein einziges Mal erwähnen, dass Karl Lauterbach Epidemiologe ist, dazu noch einer, der in Harvard studiert hat. Dieses Detail würde aber auch nicht so gut in ihre irreführende, als “Faktencheck” gelabelte Meinungsmache passen.
Es geht um den Begriff “Ausgangsbeschränkungen”. Und wer jetzt befürchtet, es wird hier allzu wortklauberisch, der oder die sei beruhigt: Es geht um deutlich mehr. Es geht darum, wie die “Bild”-Redaktion ein Urteil eines Verfassungsgerichts falsch wiedergibt und so die eigene Agenda in der Corona-Krise vorantreibt.
“Bild”-Redakteur Filipp Piatov schrieb vergangene Woche über einen Beschluss des saarländischen Verfassungsgerichtshofs. Dieser hatte entschieden, dass die wegen der Corona-Pandemie im Saarland geltenden Ausgangsbeschränkungen außer Vollzug zu setzen seien:
Am Dienstag entschied der saarländische Verfassungsgerichtshof, dass die Landesregierung die strengen Ausgangsbeschränkungen sofort lockern muss. Die Entscheidung des saarländischen Verfassungsgerichtshofs hat Signalwirkung für die gesamte Republik.
Denn die Richter begründen ihre Entscheidung mit massiven Zweifeln an der Wirksamkeit von Ausgangsbeschränkungen, wie sie überall in Deutschland — wenn auch in verschiedenen Ausprägungen — eingeführt wurden.
“Aus einem Vergleich der Infektions- und Sterberaten in den deutschen Bundesländern mit und ohne Ausgangsbeschränkung”, so die Richter, lasse sich “kein Rückschluss auf die Wirksamkeit der Ausgangsbeschränkung ziehen”.
Es herrscht eine merkwürdige Diskrepanz zwischen Piatovs eigener Behauptung zu den “Ausgangsbeschränkungen, wie sie überall in Deutschland — wenn auch in verschiedenen Ausprägungen — eingeführt wurden” und der einen Absatz später von Piatov zitierten Aussage des Gerichts zu “den deutschen Bundesländern mit und ohne Ausgangsbeschränkung”.
Was denn nun: Gibt es Ausgangsbeschränkungen “überall in Deutschland”? Oder gibt es in Deutschland “Bundesländer mit und ohne Ausgangsbeschränkung”?
Schaut man in den Beschluss des saarländischen Verfassungsgerichtshofs (PDF), erkennt man, dass das Gericht zwischen Ländern mit Ausgangsbeschränkungen und Ländern mit Kontaktverboten unterscheidet. Wie viele Bundesländer mit (den strengeren) Ausgangsbeschränkungen es neben dem Saarland aus Sicht des Gerichts noch gibt? Eins.
Mit Ausnahme von Bayern kennen andere Bundesländer gegenwärtig keine vergleichbare Ausgangsbeschränkung.
Eine ähnliche Entwicklung des Infektionsgeschehens hat sich in diesem Zeitraum in allen anderen Ländern vollzogen, wobei — bis auf den Freistaat Bayern — in keinem Land Ausgangsbeschränkungen, sondern lediglich Kontaktverbote auch außerhalb des öffentlichen Raums angeordnet worden waren.
Wenn die Richter aus dem Saarland also “ihre Entscheidung mit massiven Zweifeln an der Wirksamkeit von Ausgangsbeschränkungen” begründen, dann hat das erstmal nur Auswirkungen für das Saarland und vielleicht noch eine “Signalwirkung” für Bayern. Mehr nicht. In allen anderen Bundesländern sieht das Gericht schließlich überhaupt keine vergleichbaren “Ausgangsbeschränkungen”.
Bis zu dem Beschluss galten im Saarland strengere Regeln als in anderen Ländern. Das Verlassen der Wohnung war nur aus “triftigen Gründen” gestattet. Darunter fielen unter anderen die berufliche Tätigkeit, Arztbesuche oder der Einkauf von Lebensmitteln. Diese Strenge sei inzwischen nicht mehr nachvollziehbar, so das Gericht, da bei der Entwicklung der Corona-Pandemie kein klarer Unterschied auszumachen sei zwischen Ländern mit Ausgangsbeschränkungen und Ländern mit Kontaktverboten:
Die Betrachtung der Infektions- und Sterberaten in den deutschen Bundesländern mit und ohne Ausgangsbeschränkungen zeigt keine belastbaren Gründe für die Notwendigkeit der Fortdauer der saarländischen Regelung.
Es reichte der “Bild”-Redaktion aber nicht, eine Entscheidung von gerade mal regionaler Bedeutung zu einer mit möglichen Auswirkungen für ganz Deutschland aufzublasen. Obwohl es bei dem Gerichtsbeschluss nur um eine Maßnahme ging, zog sie in der Überschrift ihres Artikels gleich alle “Corona-Maßnahmen” in “Riesen-Zweifel”:
Auch das widerspricht dem Beschluss des saarländischen Gerichts. Zu den verschiedenen Maßnahmen im Saarland neben den Ausgangsbeschränkungen steht darin:
Die in der VO-CP enthaltenen vielfältigen Freiheitsbeschränkungen — die in ähnlicher Form in allen Bundesländern gelten — haben Wirkung gezeigt.
Außerdem werden die Maßnahmen als Möglichkeiten angeführt, die ein künftiges Infektionsrisiko vermindern könnten:
Es ist nicht auszuschließen, dass die Aussetzung der Ausgangsbeschränkungen mit einer allerdings geringen Wahrscheinlichkeit das Infektionsrisiko erhöhen kann. Dieses Risiko wird — dem System der infektionsschutzrechtlichen Regelungen entsprechend — vermindert, wenn durch Kontakt- und Abstandsgebote sowie durch eine im Saarland neuerdings geltende Maskentragungspflicht Übertragungswege und Übertragungsweiten verringert werden und durch Verbote von zahlenmäßig nicht beschränkten Zusammentreffen weiter bekämpft werden.
Aus dem teilweisen Außervollzugsetzen eines Absatzes eines Paragrafen einer Verordnung eines Bundeslandes versuchen Filipp Piatov und die “Bild”-Redaktion, eine Diskussion über alle “Corona-Maßnahmen” in der “gesamten Republik” zu kreieren. Seinen Artikel, in dem er so ziemlich alles falsch darstellt, was man falsch darstellen kann, beginnt Piatov übrigens mit dieser Frage:
War es ein Fehler, die Ausgangsbeschränkungen gegen die Corona-Pandemie einzuführen?
Auch darauf findet man eine Antwort in dem Gerichtsbeschluss, den der “Bild”-Redakteur eigentlich ins Feld führt, um gegen Corona-Maßnahmen zu argumentieren: Die Entscheidung der saarländischen Landesregierung sei zu dem damaligen Zeitpunkt “Teil einer mit Blick auf die betroffenen Grundrechte verantwortungsvollen Politik” gewesen.
Seit Wochen schon versucht die “Bild”-Redaktion, den Virologen der Berliner Charité Christian Drosten schlecht dastehen zu lassen. Sie bemüht sich, Drostens Autorität als Wissenschaftler zu untergraben, arbeitet genüsslich frühere Fehleinschätzungen heraus, stellt ihn als Einflüsterer dar, macht ihn zum Kollegenschwein. Damit dieses negative Bild irgendwie passt, reißt die Redaktion auch schon mal Aussagen aus dem Zusammenhang, verfälscht zeitliche Abläufe und erfindet Behauptungen. “Bild”-Methoden eben.
So auch am vergangenen Donnerstag bei der oben bereits erwähnten Merkel-motzt-Geschichte. Bild.de schreibt:
Heute so, morgen so.
Im kleinen Kreis der Ministerpräsidenten hat Bundeskanzlerin Angela Merkel (65, CDU) nach BILD-Informationen erstmals deutliche Kritik an Deutschlands Virologen geäußert.
Vor allem auf den Top-Virologen Christian Drosten (Berliner Charité) bezog sich ihr Unmut in der Video-Schaltkonferenz.
Und:
Merkel kritisierte Drosten wegen seiner jüngsten Aussagen zur Ansteckungsgefahr der Kinder in der Pandemie. Drosten warnte zuletzt, Kinder seien vermutlich genauso ansteckend wie Erwachsene. Die Zahl der Viren, die sich in den Atemwegen nachweisen lässt, unterscheide sich bei verschiedenen Altersgruppen nicht, berichten Drosten und sein Forscher-Team in einer vorab veröffentlichten und noch nicht von unabhängigen Experten geprüften Studie.
Folge: Die Forscher warnen aufgrund ihrer Ergebnisse vor einer uneingeschränkten Öffnung von Schulen und Kindergärten in Deutschland. Dabei hatte Drosten zuvor im NDR unter Berufung auf eine “Science”-Studie davon gesprochen, dass Kinder offenbar ein kleineres Ansteckungsrisiko als Erwachsene hätten (“ein Drittel”).
Diese Anekdote aus der Schaltkonferenz ist etwas überraschend, weil sich Angela Merkel bei der anschließenden Pressekonferenz recht dankbar für die Arbeit der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zeigte und Verständnis für sich ändernde Einschätzungen äußerte (sowieso: Der Virologe änder nicht “ständig seine Meinung”, wie Bild.de in der Dachzeile schreibt, er ändert seine Erkenntnisse). Doch die “Bild”-Redaktion blieb bei ihrer Darstellung der verärgerten Kanzlerin. Am Samstag schrieb sie in der “Bild”-Zeitung:
Nach Worten von Regierungssprecher Steffen Seibert sei die Darstellung “falsch”, Merkel habe sich in der Konferenz mit den Ministerpräsidenten nicht anders geäußert als auf der anschließenden Pressekonferenz.
BILD wurde die Kritik der Kanzlerin aus mehreren Quellen unabhängig voneinander geschildert.
Ob Merkel nun wirklich über Drosten “gemotzt” hat oder nicht, ist letztlich gar nicht entscheidend. Interessanter ist, wie falsch die “Bild”-Redaktion den angeblichen Grund für das angebliche Gemotze darstellt.
Erstmal ist der zeitliche Ablauf, den die Redaktion herstellt, falsch. Bei Bild.de klingt es so, als hätte Christian Drosten erst über eine im Magazin “Science” erschienene Studie gesprochen (“zuvor im NDR unter Berufung auf eine ‘Science’-Studie”) und erst später (“Drosten warnte zuletzt”) die Studie seines Teams präsentiert (PDF). Daraus ergibt sich der Eindruck, dass er bereits gewusst hätte, “dass Kinder offenbar ein kleineres Ansteckungsrisiko als Erwachsene hätten”, bevor er und sein Team mit etwas vermeintlich Gegenteiligem rauskommen. Tatsächlich war es aber andersrum: Am vergangenen Mittwoch twitterte Drosten über die Studie seines Teams, erst einen Tag später, am Donnerstag, sprach er beim NDR über die in “Science” publizierte Studie (und twitterte auch über sie).
Noch gravierender ist, dass der Widerspruch von Drostens Darstellung der Studien, den Bild.de insinuiert, gar keiner ist. Die Ergebnisse beider Untersuchungen schließen sich nicht gegenseitig aus. Im Gegenteil, sie ergänzen sich sogar. Denn sie untersuchen unterschiedliche Phasen in Bezug auf Infektionen bei Kindern: Christian Drosten und dessen Team haben geschaut, wie viele Viren sich im Rachen infizierter Menschen (und damit auch im Rachen von infizierten Kindern) befinden. Sie haben bei Kindern eine Viruskonzentration gefunden, die sie statistisch nicht von der bei Erwachsenen unterscheiden konnten. Daraus schließen sie:
Children may be as infectious as adults.
Es könnte also gut sein, dass Kinder bei der Weitergabe des Virus genauso infektiös sind wie Erwachsene. Wichtig dabei: die Einschränkung “may be”.
Die Studie aus “Science” untersuchte hingegen nicht, wie gut Kinder das Virus abgeben, sondern wie empfängliche sie selbst für das Virus sind: Wie hoch ist das Risiko von Kindern, dass sie sich selbst anstecken? Laut der Studie soll es, stark vereinfacht, wie Christian Drosten sagt, nur bei einem Drittel des Risikos liegen, das Erwachsene haben.
Miteinander kombiniert sagen die beiden Studien, dass Kinder ein geringeres Risiko als Erwachsene haben könnten, sich anzustecken; aber wenn sie sich angesteckt haben, dann könnten sie genauso infektiös sein wie Erwachsene. Die “Bild”-Redaktion kreiert daraus einen Widerspruch, den es nicht gibt, über den die Bundeskanzlerin aber dennoch “gemotzt” haben soll.
Die “Bild”-Redakteure Filipp Piatov, Nikolaus Harbusch und Willi Haentjes schreiben über “das Hin und Her der deutschen Virologie”, als wäre es völlig unverständlich, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in einer so dynamischen Situation wie der aktuellen ihre Sichtweisen anpassen, wenn durch Studien neue Erkenntnisse vorliegen. Kein Verständnis für wissenschaftliches Arbeiten.
Dafür aber ein Gespür für eine Übermacht der Virologen. Das “Bild”-Trio schreibt:
Ihr Wort war Gesetz: Seit Beginn der Corona-Krise gaben Virologen der Politik den Takt vor. Wenn sie warnten, horchten die Regierungen von Bund und Ländern auf. Was sie forderten, galt kurz darauf in der gesamten Republik.
… was ein merkwürdiger Widerspruch zur Dachzeile “DREI EXPERTEN, DREI MEINUNGEN” darstellt, denn es galten ja nicht “kurz darauf in der gesamten Republik” drei verschiedene Gesetze.
Aber eigentlich geht es in dem Artikel auch gar nicht so sehr um die angebliche Macht der “DREI EXPERTEN”, sondern um die von Christian Drosten. Der sei nämlich der “Corona-Flüsterer der Kanzlerin”. Der Journalist Yassin Musharbash kommentiert treffend, dass “Bild” Drosten damit “subtil in eine Rasputin-Ecke” schiebe.
Im selben Artikel wird Christian Drosten auch noch zum Kollegenschwein gemacht, der einem anderen Virologen die “gute wissenschaftliche Praxis” abspreche:
Nun hat sich Drosten auf [Armin] Laschets Berater eingeschossen, den Virologen Hendrik Streeck (42). Dessen Agieren habe “mit guter wissenschaftlicher Praxis nichts mehr zu tun”.
Dieses Zitat haben Piatov, Harbusch und Haentjes kräftig aus dem Kontext gerissen. Es ist in einem Interview mit der “Süddeutschen Zeitung” gefallen. In dem Gespräch geht es auch um die “Heinsberg-Studie”, bei der der Virologe Hendrik Streeck federführend ist und dieordentlichKritikabbekommenhat. Einer von mehreren Kritikpunkten: Die PR-Agentur “Storymachine”, gegründet von Ex-“Bild”-Chefredakteur Kai Diekmann, Ex-Stern.de-Chefredakteur Philipp Jessen und Eventmanager Michael Mronz, hatte die Vermarktung der Studie übernommen. Das Magazin “Capital” enthüllte dazu Details. Darüber sprach auch Christian Drosten im “SZ”-Interview:
Die Heinsberg-Studie kommt zu einem anderen Ergebnis. Sie wurde zudem schon im Vorfeld als richtungsweisend für die Politik gehandelt, es war sogar eine Social-Media-Agentur des ehemaligen Bild-Chefredakteurs Kai Diekmann involviert.
Ich finde das alles total unglücklich — und ich finde es noch schlimmer, wenn ich dann den Bericht im Wirtschaftsmagazin Capital darüber lese, dass diese PR-Firma Geld bei Industriepartnern eingesammelt hat, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Da geht es auch um ein internes Dokument, demzufolge Tweets und Aussagen des Studienleiters Hendrik Streeck in Talkshows schon wörtlich vorgefasst waren. Da weiß ich einfach nicht mehr, was ich noch denken soll. Das hat mit guter wissenschaftlicher Praxis nichts mehr zu tun. Und es zerstört viel von dem ursprünglichen Vertrauen der Bevölkerung in die Wissenschaft.
In Drostens Aussage geht es also vornehmlich um das Agieren der PR-Agentur des ehemaligen “Bild”-Chefs (was im “Bild”-Text, wenig überraschend, komplett wegfällt) und nicht so sehr um Streecks Agieren. Im selben Interview äußerst sich Christian Drosten eigentlich recht positiv über die Arbeit von Hendrik Streeck. Er sagt, er unterscheide bei der “Heinsberg-Studie” zwischen Wissenschaft und Kommunikation (“Diese Geschichte ist für mich zweilagig. Das eine ist die Kommunikation, und das andere ist die Wissenschaft.”). Auf die Frage, ob die Studie durch das Verhalten von “Storymachine” hinfällig ist, antwortet er:
Die Wissenschaft an sich ist erst mal nicht zu kritisieren auf der momentanen Basis.
Danach gefragt, ob Hendrik Streeck ihm “inzwischen Details über die Studie zukommen lassen” hat, sagt Drosten:
Wir haben telefoniert, und ich habe Auszüge der Daten bekommen — und die lassen erkennen, dass die Studie an sich seriös ist und gut werden könnte.
Daraus fabrizieren die “Bild”-Autoren einen stutenbissigen Christian Drosten. Es passt aber auch zu schön zum von den “Bild”-Medien bereits zuvorausgerufenen “Virologen-Clinch”:
Eigentlich brauchen sie bei “Bild” aber gar nicht mal sowas wie eine real existierende Behauptung, die sie verzerren können, um sich jemanden vorzuknöpfen — sie denken sich die Behauptungen auch gern einfach aus. “Bild”- und “B.Z.”-Kolumnist Gunnar Schupelius schrieb vor zwei Wochen über Christian Drosten:
Am Montag wurde der Chef des Instituts für Virologie der Charité, Christian Drosten, zum Helden erklärt. Er bekam einen “Sonderpreis für herausragende Kommunikation der Wissenschaft in der Covid19-Pandemie.” Der Preis wurde extra für diesen Zweck von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gestiftet, die der Bundesregierung gehört, und ist mit 50 000 Euro dotiert.
Schupelius wolle Drosten zugestehen, “dass er den Job nach bestem Wissen und Gewissen machen wollte und machte”, aber:
Aber weshalb bekommt er dafür einen Preis? Die Aufgabe kam ihm seines Amtes wegen zu und er hat sie zu erfüllen, denn er arbeitet im öffentlichen Dienst. Auch wenn er seine Aufgabe besonders gut erfüllt hat, ist er deshalb noch kein Held.
Nun ist es bloß so, dass niemand Christian Drosten mit diesem Preis zu einem Helden erklärt hat. Die DFG erwähnt das Wort “Held” in ihrer Pressemitteilung kein einziges Mal. Nur einer behauptet, dass Drosten jetzt ein Held sei: Gunnar Schupelius. Und das auch nur, um dann sagen zu können: Sag mal, spinnt ihr alle?! Der Typ ist doch kein Held!
Krankenschwestern, Pfleger, Supermarktmitarbeiter und Ärztinnen seien übrigens auch keine Heldinnen und Helden, so Schupelius. Sie tun schließlich nur das, “was man von ihnen erwartet und wofür sie bezahlt werden.”
Wenn es darum geht, Virologen schlecht zu machen, ist natürlich auch der “Bild”-Chef mit von der Partie. Nicht konkret über Christian Drosten, sondern über “nahezu alle Experten”, schreibt Julian Reichelt in einem Kommentar:
Zweitens, nahezu alle Experten, denen wir uns in dieser Krise anvertrauen (müssen), lagen mit nahezu jeder Einschätzung so falsch, dass unser Glauben an sie sich nur noch mit Verzweiflung erklären lässt.
Was für ein sagenhafter Populismus. Und was für ein unglaublich gefährlicher Unsinn. Meint Julian Reichelt wirklich, dass “nahezu alle Experte (…) mit nahezu jeder Einschätzung” falsch lagen?
Diese These hält nicht mal stand, wenn man Reichelts Kommentar einen Absatz weiterliest. Er schreibt davon, dass “auf Krankenhausfluren gespenstische Ruhe” herrsche und es hier “weiterhin kaum Corona-Tote” gebe. Woran liegt es, dass Deutschland bisher so glimpflich davongekommen ist? Doch nicht etwa an den Experten, deren Wort laut “Bild”, siehe oben, stets Gesetz war und deren Forderungen “kurz darauf in der gesamten Republik” galten? Bei dem (Zwischen-)Ergebnis mit leeren Krankenhausfluren und “kaum Corona-Toten” dürften die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit ihren Einschätzungen ja nicht so sehr danebengelegen haben.
Reichelts Kommentar — der noch an vielen anderen Stellen sehr schrecklich ist — ist ein Paradebeispiel für das Präventionsparadoxon: Greifen Maßnahmen und bleiben dadurch schlimme Folgen aus, entwickelt sich schnell eine Stimmung: Waren diese Maßnahmen jetzt wirklich nötig? War doch alles gar nicht so schlimm! Wenn Reichelt schreibt: Die Experten “haben trotz aller Maßnahmen immer wieder vor dem unmittelbar bevorstehenden Kollaps unseres Gesundheitssystems gewarnt. Nun herrschen auf Krankenhausfluren gespenstische Ruhe und Angst vor Arbeitslosigkeit”, dann erkennt er offenbar nicht, dass er damit einen sehr erfolgreichen epidemiologisch Vorgang beschreibt (gegen die Angst vor Arbeitslosigkeit muss natürlich etwas getan werden). Der “Bild”-Chef hat in letzter Zeit offenbar nicht sehr intensiv Nachrichten aus Italien, Spanien oder den USA verfolgt.
Seine Aussage über die Experten, die angeblich so oft falsch lagen, passt auch zur sonstigen “Bild”-Berichterstattung. In einer Art Virologen-Quartett, in dem auch Christian Drosten vorkommt, geht es neben dem “Spezialgebiet” und dem Privatleben auch um den jeweils “größten Irrtum”. Um die größte Entdeckung oder die größte Leistung geht es nicht.
Am 15. April kramte die “Bild”-Redaktion auch noch eine gut elf Jahre alte Geschichte aus, um Christian Drostens Expertise in Zweifel zu ziehen:
Drosten sei:
Ein Profi seines Fachs, der ein ganzes Land durch die Krise führt, obwohl er mit seiner Einschätzung zur Schweinegrippe im Jahr 2009 daneben lag.
Ende Oktober 2009 steigt die Zahl der registrierten Schweinegrippe-Fälle auf 3000 pro Woche und insgesamt 30 000 registrierte Patienten in ganz Deutschland. Prof. Drosten, damals noch Leiter der Virologie am Uniklinikum Bonn, warnte vor dem Virus. (…)
Heute ist klar: Die Panik vor dem Ausbruch war unbegründet.
Mitte März klang der Blick der “Bild”-Redaktion auf Christian Drosten noch ganz anders. “Der Mann mit den dunklen Locken” sei einer der wichtigsten Experten der Bundesrepublik.” Auch international sei er gefragt.
Der Grund: Drosten hat als einer der Wenigen den Corona-Durchblick.
Der Virologe, der auf einem Bauernhof im Emsland aufwuchs, kennt viele Viren wie seine Westentasche. Er hat Erfahrung und Expertise!
Und noch etwas:
Und noch etwas macht Drosten besonders: Er ist nahbar!
Obwohl Drosten den Medienrummel nicht gewohnt sein dürfte, teilt er all seine Erkenntnisse permanent mit der Öffentlichkeit. In Interviews bleibt er besonnen und – wie man es von einem Forscher erwartet — sachlich.
Für den Virologen ist die Corona-Lage mehr als ein Fulltime-Job. Doch er bleibt gefasst und reflektiert.
Man muss ja nicht gleich in derartige Schwärmereien verfallen, wenn es um Christian Drosten geht. Auch er sollte das Recht haben, kritisch hinterfragt zu werden. Wenn man aber, wie die “Bild”-Redaktion, zeigen will, dass der Virologe eigentlich nur ein unsteter Nicht-Held ist, der reihenweise Fehler macht und Kollegen in die Pfanne haut, dann sollte wenigstens etwas sauberer arbeiten als die Fantasiefigur, die man da zu erschaffen versucht.
Die “Bild”-Redaktion versucht heute mal wieder, Religionen und deren Anhänger gegeneinander auszuspielen:
Die vier “Bild”-Autoren Ralf Schuler, Filipp Piatov, Nikolaus Harbusch und Tomas Kittan schreiben, dass sie aus Quellen rund um die “Schalte von Bundeskanzleramt und Länderchefs” erfahren hätten, dass die Furcht vor einem möglichen Chaos zum muslimischen Fastenmonat Ramadan dafür sorge, dass auch die christlichen Kirchen und die jüdischen Gemeinden weiter geschlossen bleiben müssen:
Bislang untersagte die Bundesregierung den Bürgern das gemeinsame Beten aus Angst vor Corona — jetzt ist es die Sorge wegen eines möglichen Chaos an Ramadan. (…)
Wahrer Hintergrund der Entscheidung [weiterhin keine Gottesdienste stattfinden zu lassen] nach BILD-Informationen: Anders als bei den großen christlichen Kirchen und jüdischen Gemeinden sieht die Politik bei den Muslimen in Deutschland keine zentralen Ansprechpartner, die verlässlich Regeln (Abstand, Hygiene et cetera) in den Moscheen flächendeckend durchsetzen könnten. Deshalb sollen nun alle Gotteshäuser möglichst mindestens noch bis zum Ende des in der kommenden Woche beginnenden Fastenmonats Ramadan (23. April bis 23. Mai) geschlossen bleiben.
Warum es mit Blick auf die Corona-Pandemie jetzt weniger gefährlich sein soll als noch vor ein paar Tagen, wenn vorwiegend ältere Menschen in einem geschlossenen Raum dicht beieinander sitzen und christliche Lieder schmettern, wobei sicher auch das eine oder andere Speicheltröpfchen durch die Luft fliegen dürfte, erklärt “Bild” nicht. Stattdessen der Tenor: Die wilden Muslime, die in ihren Schmuddelmoscheen aufeinanderhocken und sich nicht mal richtig die Hände waschen, sind schuld, dass wir Christen nicht zum Gottesdienst in unsere Kirchen dürfen.
So treibt man einen Keil zwischen Menschen, die momentan eigentlich dieselbe für sie schwierige, ärgerliche Situation durchleben.
Bereits gestern Abend erschien der Beitrag auch bei Bild.de:
Natürlich hinter der “Bild plus”-Paywall, wodurch alle die spalterische Überschrift lesen, aber nur wenige die angeblichen Hintergründe erfahren konnten.
Die einschlägig islam- und muslimfeindlichen Kreise hat die “Bild”-Redaktion mit ihrem Artikel jedenfalls zielgenau erreicht:
Mit Dank an die vielen Hinweisgeber!
Nachtrag, 15:12 Uhr: Mal abgesehen von der Stimmungsmache durch die “Bild”-Redaktion: Es stimmt auch nicht, dass die Kirchen alle “geschlossen” sind, wie etwa Bild.de teasert. Es gibt eine ganze Reihe von Kirchen, die fürsstilleGebetweiterhingeöffnetsind. Nur Gottesdienste dürfen nicht stattfinden.
Irgendwas mit Geflüchteten, irgendwas gegen die Grünen — das landet bei “Bild” und Bild.de selbstverständlich auf der Titel- und Startseite:
Über den “PLAN DER GRÜNEN” schreiben Filipp Piatov, Karina Mössbauer und Peter Tiede:
Kann jeder Klima-Flüchtling bald Deutscher werden?
Dieser Grünen-Plan hat es in sich: Ganze Bevölkerungsgruppen sollen wegen des Klimawandels umsiedeln dürfen. Und zwar AUS der ganzen Welt IN die ganze Welt!
Es geht um sogenannte Klimapässe. Das “Bild”-Trio erklärt das folgendermaßen:
Klima-Flüchtlinge aus aller Welt sollen in Industrie-Länder auswandern dürfen. Auch nach Deutschland. Und bei Ankunft gleich den deutschen Pass bekommen. “Eine Staatsbürgerschaft im aufnehmenden Land kann eine Option sein”, sagte Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth (64, Grüne) zum Redaktionsnetzwerk Deutschland.
Natürlich verdrehen Piatov, Mössbauer und Tiede Claudia Roths “kann eine Option sein” direkt in “gleich den deutschen Pass bekommen”. Und sie verzichten darauf, einen ganz entscheidenden Satz Roths ebenfalls zu zitieren. Auf die Frage “Sollen die Betroffenen bei Ankunft in Deutschland die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten?” antwortete die Grünen-Politikerin im Interview mit dem “Redaktionsnetzwerk Deutschland”:
Das internationale Recht fordert dazu auf, Staatenlosigkeit zu vermeiden. Genau solche Fragen müssen wir also dringend international diskutieren. Eine Staatsbürgerschaft im aufnehmenden Land kann eine Option sein.
(Hervorhebung durch uns.)
Es geht Claudia Roth bei ihrer Aussage zur Staatsbürgerschaft im aufnehmenden Land also nicht um “jeden Klima-Flüchtling”, wie “Bild” es ins Spiel bringt, sondern nur um die, bei denen eine Staatenlosigkeit droht. Ausführlicher wird das in einem Antrag der Bundestagsfraktion der Grünen (PDF) erklärt:
Auch muss sich die internationale Staatengemeinschaft darauf einigen, wie sie mit dem erwartbaren Verlust ganzer Staatsgebiete umzugehen gedenkt. Entsprechende Debatten und Verhandlungen bedürfen deutlich mehr Nachdruck. Wenn absehbar ist, dass beispielsweise Inselstaaten im Pazifik vollständig verschwinden, muss dringend festgelegt werden, welche völkerrechtlichen Folgen der Verlust des Territoriums für die Betroffenen, ihre Staatsangehörigkeit und ihren Schutzanspruch mit sich bringt. Es ist dafür Sorge zu tragen, dass Staatenlosigkeit de facto und de jure verhindert wird. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, Lösungen international voranzutreiben — etwa die Idee eines Klimapasses, dessen individueller Ansatz den Betroffenen ermöglicht, selbstbestimmt und frühzeitig über ihre Migration zu entscheiden.
Roth spricht in diesem Zusammenhang zum Beispiel von “den Bürgerinnen und Bürgern pazifischer Inselstaaten wie Tuvalu oder Kiribati”, “deren Land vollständig im Meer zu verschwinden droht”.
Das Ziel des “Grünen-Plans” ist übrigens auch nicht primär, dass Personen “AUS der ganzen Welt IN die ganze Welt”, etwa nach Deutschland, umsiedeln. Danach gefragt, ob es nicht erstmal darum gehen müsse, “dass Menschen in ihrer Heimat bleiben können”, antwortete Claudia Roth:
Unbedingt, das muss oberste Priorität haben
Und auf die Frage, ob die Menschen, die wegen des Klimawandels bereits heute umsiedeln oder fliehen müssen, “herkommen dürfen” sollen:
Die wenigsten wollen das. Natürlich will die Kaffeebäuerin aus dem Benin nicht nach Bamberg ins Anker-Zentrum. Wenn sie schon umsiedeln muss, dann wenigstens regional. Es geht also primär darum, Mechanismen und Lösungsansätze vor Ort zu unterstützen — in der afrikanischen Tschad-Region zum Beispiel, wo große Dürre herrscht, oder in Bangladesch, wo ganze Landstriche vom Meer verschluckt werden.
Auch im Antrag der Grünen heißt es nicht etwa, dass bloß alle “Klima-Flüchtlinge” nach Deutschland kommen sollen, sondern: “den Betroffenen das Recht zu garantieren, innerhalb ihres Landes, in der Region und gegebenenfalls über die eigene Region hinaus umzusiedeln”.
Das “Redaktionsnetzwerk Deutschland” hat Claudia Roth noch gefragt, ob sie denn keine Sorge habe, mit ihren Forderungen “den migrationsfeindlichen Diskurs zu befeuern”. Roth sagte dazu:
Ich lasse mich in meiner Politik nicht von Angst leiten. Sonst hätten die Angstmacher längst gewonnen.
Der “Bild”-Artikel von heute zeigt, dass die Angstmacher es auf jeden Fall weiter versuchen.
Wir wünschen entspannte und besinnliche Feiertage und ein erfolgreiches, gesundes Jahr 2020.
So lautet der Spruch in der Grußkarte von “Bild”, “Bild am Sonntag” und “B.Z.”, die die Medienjournalistin Ulrike Simon heute bei “Horizont” präsentiert. Aber fehlt da nicht was? Wo steckt denn “das wichtige Wort: Weihnachten”? Will Julian Reichelt, der als Chef der Chefredakteure für alle drei Blätter verantwortlich ist, etwa eines der zentralen christlichen Feste abschaffen?
Eigentlich wäre das alles nicht der Rede wert, wenn es für die “Bild”-Medien vor ziemlich genau einem Jahr nicht der Rededer Aufregungder Kampagne wert gewesen wäre, dass in einer Weihnachtskarte der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung Annette Widmann-Mauz das aus “Bild”-Sicht “wichtige Wort: Weihnachten” fehlte.
Mehrere Tage versuchten sie bei “Bild” und Bild.de, Widmann-Mauz fertigzumachen und aus dem Amt zu schreiben:
Filipp Piatov und Franz Solms-Laubach regten sich über die “peinliche Weihnachtskarte aus dem Kanzleramt” auf. Solms-Laubach kommentierte zusätzlich: “Instinktloser Unsinn!” Briefonkel Franz Josef Wagner schrieb an die “Liebe Integrationsministerin”. Und die Redaktion ließ den selbst initiierten “Kritik-Sturm wegen beschämender Weihnachts-Karte” über Widmann-Mauz ziehen. Es war eine typische “Bild”-Kampagne, in der Julian Reichelt und sein Team aus purer Lust auf Krawall eine Kleinigkeit zum großen Skandal aufbliesen. Und für alle ganz Rechten, die das Abendland untergehen sehen, war es ein gefundenes Fressen für Hass und Hetze.
Ulrike Simon schreibt bei “Horizont”, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Axel-Springer-Verlags das fehlende “Weihnachten” noch bemerkt haben sollen:
Glück gehabt, dass Bild den eigenen Faux-pas in diesem Jahr rechtzeitig erkannte. Pech, dass HORIZONT eine von mehreren tausend Karten vor dem Einstampfen retten konnte.
Am vergangenen Freitag ist in Berlin ein Mann über die Absperrung vor einer Synagoge gestiegen. Laut Polizeimeldung lief er mit einem Messer in der Hand auf die Wachleute zu und soll dabei etwas gemurmelt haben. Die Wachleute zogen sofort ihre Dienstwaffen, richteten sie auf den Mann und forderten ihn auf, das Messer fallen zu lassen. Der Mann blieb stehen und sprach mehrfach mit ruhiger Stimme und mutmaßlich auf Arabisch etwas vor sich hin. Die Wachleute setzten schließlich Pfefferspray ein, um den Mann zu überwältigen.
In einer ersten Befragung ließ sich das Motiv des Mannes nicht feststellen. Auch eine richterlich angeordnete Durchsuchung seiner Wohnung brachte keine Klärung. Da auch ein politisches Motiv in Frage kam, beschlagnahmte die Polizei mehrere Datenträger und Unterlagen, die zurzeit ausgewertet werden. Haftgründe gegen den Mann lagen nicht vor, weshalb er am darauffolgenden Morgen aus dem Polizeigewahrsam entlassen wurde.
So. Und dann kam “Bild”.
“Horror in Berlin-Mitte”, schrie die Zeitung am Montag: “Synagoge angegriffen”!
Der Mann sei Syrer und solle “Allahu Akbar” und “Fuck Israel” gerufen haben, schrieben die Autoren des Artikels. Ob das stimmt, ist unklar; in der Polizeimeldung steht es nicht, und andere Medien schreiben es nur mit Verweis auf die “Bild”-Zeitung.
Der eigentliche Skandal ist für “Bild” aber ohnehin etwas anderes.
DAS UNFASSBARE: MOHAMAD M. WIRD AM NÄCHSTEN TAG FREIGELASSEN.
“Wo er jetzt ist? Unbekannt.”, gruselte sich “Bild”-Redakteur Timo Lokoschat im dazugehörigen Kommentar:
Was bleibt, ist das bedrückende Gefühl, dass da draußen jemand herumläuft, der voller Hass ist und auch vor Gewalt nicht zurückschreckt.
Vielleicht ist es an der Zeit, diese Sache mit dem Laufenlassen nochmal zu erklären, “Bild” hatte da ja schonimmer gewisse Verständnisprobleme.
Der deutsche Rechtsstaat sieht vor, dass es gute Gründe braucht, jemanden ohne ein Urteil ins Gefängnis zu stecken. Die Untersuchungshaft sei “die ultima ratio”, erklärte uns Anfang des Jahres in einer ähnlichen Sache der Strafverteidiger Carsten Hoenig. Der Erlass eines Haftbefehls müsse sich “an den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und der Unschuldsvermutung messen lassen”. Zur Untersuchungshaft komme es nur, “wenn gar nichts mehr anderes geht”.
Laut Strafprozessordnung muss zunächst einmal dringender Tatverdacht bestehen. Zudem gibt es bestimmte Haftgründe, etwa die Fluchtgefahr, die Wiederholungsgefahr oder die Gefahr, dass Beweismittel vernichtet werden (Verdunkelungsgefahr). Liegen solche Gründe aus Sicht der Behörden nicht vor, gibt es keinen Haftbefehl.
Man kann also nicht mal so eben jemanden einsperren, auch wenn der “Bild”-Chefredakteur es gerne hätte:
Natürlich ist es möglich, dass ein politisches/terroristisches Motiv dahintersteckte. Aber es ist auch möglich, dass es einen anderen Hintergrund gab. Sogar “Bild” selbst schrieb in einem der Artikel zu dem Fall:
Haben Objektschützer vor der Neuen Synagoge in Mitte ein Blutbad verhindert? Oder haben sie am Freitagabend einen geistig verwirrten Mann gestoppt, der in Selbstmordabsicht mit einem Messer auf die bewaffneten Wachmänner zulief?
Julian Reichelt und Timo Lokoschat aber erwecken den Eindruck, als gebe es nur einen einzigen zulässigen Schluss.
Und als würden die Berliner Behörden die Sache gezielt vertuschen. In seinem Kommentar schrieb Lokoschat:
Erst vergangene Woche hatte ein Mann in Paris vier Menschen mit einem Keramikmesser erstochen. Ein Islamist, wie die Behörden erst nach langem Herumdrucksen bestätigten.
Auch in Berlin formuliert die Polizei, dass das Motiv des überwältigten Syrers “unklar” sei. Wie bitte? Was will jemand, der laut Zeugen “Allahu akbar” und “Fuck Israel” gerufen hat, mit einem Messer in einer Synagoge? In Ruhe reden? Nein, er will Juden verletzen oder ermorden.
Wer den grassierenden Antisemitismus bekämpfen will, muss sich auch trauen, ihn beim Namen zu nennen.
Ein entscheidender Punkt in der Berichterstattung von “Bild” ist, dass sie nicht das zum zentralen Thema macht, was passiert ist — ein Mann klettert mit einem Messer über die Absperrung einer Synagoge und wird gestoppt –, sondern das, was der Fantasie der Redaktion nach hätte passieren können.
Nochmal zur Erinnerung: Es ist nicht erwiesen, dass der Mann “Juden verletzen oder ermorden” wollte. Es könnte — wie “Bild” selbst schrieb — auch ein “geistig verwirrter Mann” mit “Selbstmordabsicht” gewesen sein. Oder etwas anderes. Die Behörden werden sich bemühen, die Motive herauszufinden. Während die “Bild”-Leute so tun, als hätten sie selbst den Fall schon gelöst.
Gestern dann die nächste Eskalationsstufe: Titelseitenwut.
“Wie kann das sein?”, fragte “Bild” immer noch fassungslos — und warf sogar die Frage auf, ob der Staatsanwalt “für seine Entscheidung, einen offenbar gefährlichen Täter freizulassen” “belangt werden” könne.
“Bild”-Redakteur Filipp Piatov erklärte den “Skandal um den Messerangreifer” dann noch mal nachdrücklich zu einer “Schande” für die Berliner Regierung. Der Fall beweise: Das “Engagement des Regierenden Bürgermeisters gegen Antisemitismus” sei “eine Luftnummer”.
Nun ist [der Syrer] auf freiem Fuß, unauffindbar — und gewaltbereit. Denn was für jeden Bürger mit gesundem Menschenverstand nach einem versuchten antisemitischen Terrorangriff aussieht, ist für Berliner Behörden leider kein Haftgrund. Verrückt!
Anstatt den Mann in Gewahrsam zu nehmen und intensiv zu prüfen, ob er nicht in ein Flugzeug gen Heimat gehört, darf er durch Berlins Straßen laufen. Es ist amtlich: Die deutsche Hauptstadt drückt nicht nur bei Drogendealern, sondern auch bei antisemitischen Gewalttätern beide Augen zu.
Zunächst einmal stellte sie klar: “Die Voraussetzungen für einen Haftbefehl liegen nicht vor”: Es bestehe “kein dringender Tatverdacht einer Straftat, lediglich der Anfangsverdacht eines Hausfriedensbruchs.” Der Verdächtige sei “strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten”. Und: Derzeit lägen “keine Erkenntnisse zu einer möglichen islamistischen Motivlage vor”, die Ermittlungen dazu würden “mit Hochdruck fortgeführt”. “Durch Berlins Straßen”, wie die “Bild”-Kommentatoren geschrieben hatten, läuft der Mann auch nicht: Er befinde sich, so die Generalstaatsanwaltschaft, “derzeit in der Psychiatrie”.
Und wie reagierte der “Bild”-Chef? “Sorry, dass wir so viele voreilige Schlüsse gezogen haben?” Aber nicht doch.
Das muss man sich mal vorstellen: Wegen des Verzichts auf einen Haftbefehl aufgrund fehlender Voraussetzungen dafür unterstellt er jetzt den Berliner Behörden, aus ideologischen Gründen terroristische Straften bewusst zu ignorieren. Woanders würde man sowas Verschwörungstheorie nennen, bei “Bild” nennen sie es Journalismus.
Reichelt scheint fest entschlossen zu sein, aus dem Vorfall vor der Synagoge eine Kampagne gegen die Berliner Regierung und deren “Ideologie” zu machen.
Heute wird es persönlich. Groß auf Seite 2 der Bundesausgabe: ein Foto der Berliner Generalstaatsanwältin.
Im Artikel listet “Bild”-Redakteur Ralf Schuler mehrere islamistische Anschläge der vergangenen Jahre auf und — als gäbe es keinen Zweifel daran, dass es sich dabei ebenfalls um islamistischen Terror gehandelt hat — nennt dabei auch den Vorfall vor der Synagoge vom Wochenende. Es sei “IRRE”, dass der Mann wieder freigelassen wurde, schreibt auch Schuler nochmal. Und dann schreibt er, in bester AfD-Manier:
Die Politik drückt sich noch immer vor dem Eingeständnis, dass mit der Massenmigration seit 2015 auch Kriminelle nach Deutschland gekommen sind und spricht deshalb lieber über Einzelfälle als über das Terror-Problem.
Was haben wir also gelernt? Der Synagogen-“Messermann” ist hundertprozentig ein islamistischer Terrorist, denn während die Ermittlungsbehörden nur aufwendig rumermitteln, hat “Bild” einfach eins und eins zusammengezählt. Die Berliner Behörden stecken aber alle unter einer Decke und wollen das mit dem Terror geheimhalten. Und dass viele Flüchtlinge Terroristen sind, will die Politik ebenfalls vertuschen. Und von “Terror” sprechen sollte man sowieso nicht erst, wenn alle Beweise gesichtet, wenn die Datenträger ausgewertet und die Ermittlungen abgeschlossen sind, sondern gefälligst dann, wenn die “Bild”-Zeitung es verlangt.