Archiv für Juli 21st, 2021

“Ich möchte nicht, dass die Bild von meinem Leid und dem meiner Nachbarn profitiert”

Seit einigen Tagen sind viele Regionen im Westen und Südwesten Deutschlands von extremen Überschwemmungen und deren Folgen betroffen. Es gibt viele Vermisste, mindestens 170 Tote und massive Zerstörung. Und “Bild” ist – buchstäblich – mittendrin:

Screenshot aus einem BILD-Video: Zwei BILD-Reporter stehen bis zur Hüfte im Hochwasser, umgeben von weggeschwemmten Autos, Bäumen und Schutt

Mehr als 100 Schlagzeilen zur “TODESFLUT” sind bislang bei Bild.de erschienen.

Eine Collage aus 100 BILD.de-Schlagzeilen zur TODESFLUT

Und weil das alles natürlich dramatisch bebildert werden muss, forderte “Bild” die Leser schon früh auf: “Zeigen Sie uns, wie es nach der Flut in Ihrem Haus aussieht”. Doch gezeigt werden nicht nur freiwillig entstandene “Horror-Bilder”. Die Redaktion veröffentlicht auch immer wieder Fotos, auch Innenansichten, von Häusern und Wohnungen, deren Bewohner der Veröffentlichung nicht zugestimmt haben. Am Montag zum Beispiel erschien in der Bundesausgabe (neben einer Auflistung von fast 40 “Bild”-Mitarbeitern, die “von der Todesflut in Deutschland berichten”) dieses große Foto:

Ausriss aus der BILD-Zeitung: Neben einer Auflistung von fast 40 Autoren ("Von der Todesflut in Deutschland berichten: ...") das Foto eines zerstörten Hauses, dazu die Bildunterschrift: "Ein völlig zerstörtes Huas im Ortskern von [...]. Es liegt direkt [...]"
(Unkenntlichmachung von uns.)

Es zeigt ein Haus, das halb weggerissen wurde; man kann in die verbliebenen Räume schauen und viele Details erkennen. In der Bildunterschrift wird ziemlich genau beschrieben, wo das Haus zu finden ist.

Kurz darauf meldete sich der Mieter der Wohnung bei Reddit zu Wort. Er schrieb:

Ich musste gerade feststellen, dass die Bild-Zeitung einen Artikel veröffentlicht hat, in der ohne meine Einverständnis ein Foto von meiner Wohnung (bzw. den Resten davon) mit deutlich sichtbarem Innenraum zu sehen ist.

An der Wand ist sogar noch mein Whiteboard mit angehefteten Noten zu erkennen. Irgendwie tut mir das weh und ich möchte nicht, dass die Bild von meinem Leid und dem meiner Nachbarn profitiert. Das lädt auch Plünderer und Gaffer ein, die das Dorf gerade überhaupt nicht gebrauchen kann.

“Und was die Sache noch morbider macht”, sagt er uns gegenüber, “ist, dass unter den Trümmer ziemlich sicher noch meine tote Nachbarin liegt”.

Nachdem er sich per Mail bei “Bild” beschwert hatte, wurde das Foto aus der Onlineausgabe entfernt. Aus der hunderttausendfach gedruckten Printausgabe aber lässt es sich natürlich nicht mehr entfernen.

Insbesondere die genaue Lagebeschreibung, so der Mieter, mache ihm “ein mulmiges Gefühl, auch wenn der Inhalt der Wohnung quasi unbrauchbar ist”.

“Sorry”, schrieb er noch, vielleicht sei er “gerade etwas überempfindlich, was den (zumindest von mir so wahrgenommenen) Voyeurismus angeht”, aber das ganze Erlebnis sei “ziemlich brutal” gewesen. Und:

Die Vorstellung, dass der Springer Verlag, der jahrelang den Klimawandel verharmlost, jetzt davon profitiert, ist einfach insult to injury.

Mit Dank an r/de, Andrea B., Peter M., Leon S. und alle anderen Hinweisgeber!

Schrems vs. Facebook, Hochwasser, Reality-Format “Princess Charming”

1. Schadensersatz für Millionen von Facebook-Nutzer:innen?
(netzpolitik.org, Alexander Fanta)
Der österreichische Jurist und Aktivist Max Schrems zieht erneut gegen Facebook vor den Europäischen Gerichtshof (EuGH): “Verliert Facebook vor dem EuGH, müssten sie nicht nur damit aufhören, Daten zu missbrauchen, und illegal gesammelte Daten löschen, sondern auch Millionen von Nutzern Schadensersatz zahlen”, schreibt Schrems in einer Pressemitteilung seiner Organisation noyb.

2. “Wir verändern uns aus einer Position der Stärke heraus”
(journalist.de, Catalina Schröder)
Julia Bönisch war Online-Chefin der “Süddeutschen Zeitung”, eine Funktion, in der sie sich nicht nur Freunde machte. 2019 verfasste sie für den “journalist” einen bemerkenswerten Text, der immer noch lesenswert ist. Heute arbeitet Bönisch für die Stiftung Warentest. Catalina Schröder hat mit ihr über die Konflikte bei der “SZ”, den Umgang mit Zahlen im Journalismus und die Entdeckung des Verbraucherjournalismus gesprochen.

3. Medien und Behörden in der Kritik
(deutschlandfunk.de, Mirjam Kid, Audio: 10:06 Minuten)
Auch wenn NRW-Innenminister Herbert Reul es nicht wahr haben will: Die Informationsweitergabe vor und bei der Hochwasserkatastrophe scheint an mehreren Stellen nicht funktioniert zu haben. Was dazu beigetragen hat, dass Sender wie WDR und SWR die Menschen in Nordrhein-Westfalen beziehungsweise Rheinland-Pfalz nach Ansicht von Experten nicht ausreichend früh und deutlich gewarnt haben: “Medien können nur vor dem warnen, was ins Warnsystem eingespeist wurde. Beim Deutschlandfunk beispielsweise kamen keine Warnmeldungen der höchsten Kategorie an. Auf der Suche nach Verantwortlichen für Verzögerungen geht der Blick also mittlerweile nicht nur ans Ende der Warnkette, sondern auch an den Anfang.”

Bildblog unterstuetzen

4. Tarifeinigung bei Zeitungen: Freie Tage statt mehr Geld
(dwdl.de, Uwe Mantel)
Der Zeitungsverleger-Verband BDZV und die beiden Gewerkschaften DJV und dju haben sich auf einen neuen Tarifvertrag für 2021 geeinigt. Der sieht keine Lohnerhöhung vor, jedoch drei zusätzliche freie Tage für “besondere Leistungen in der Coronakrise”.

5. Plagiat vs. Zitat: Was es bei der Übernahme fremder Gedanken zu beachten gilt
(irights.info, Maya El-Auwad & Georg Fischer)
Maya El-Auwad und Georg Fischer befassen sich in ihrem Beitrag mit der Abgrenzung von Plagiat und Urheberrechtsverletzung und erklären, was es bei der Übernahme fremder Gedanken zu beachten gilt. Empfehlenswert sind auch die beiden iRights.info-Beiträge über das richtige Zitieren und die Frage, wie man das Zitatrecht am besten auf Screenshots anwendet.

6. “Wir haben Reality-TV revolutioniert”
(taz.de, Carolina Schwarz)
Carolina Schwarz hat sich mit einer Teilnehmerin von “Princess Charming” unterhalten, der ersten lesbischen TV-Datingshow weltweit. Das Prinzip ist angelehnt an das Erfolgsformat “Bachelor”, bei dem 20 Kan­di­datinnen um die Gunst eines Mannes buhlen. Für die 27-jährige Wiki war die Teilnahme bei “Princess Charming” eine Art Bildungsauftrag: “Vor allem wollte ich ich selbst sein und den Zuschauer:innen, also vor allem weiblich gelesenen Menschen, vermitteln, dass sie tun und lassen können, was immer sie wollen. Unabhängig von gesellschaftlichen Normen, die uns vorschreiben wollen, dass wir nicht laut und wild sein dürfen oder dass uns Haare an den Beinen oder unter den Achseln wachsen dürfen.