Archiv für Oktober 20th, 2020

Jetzt mal “Klartext”: “Bild” reißt ordentlich aus dem Zusammenhang

Karl Lauterbach war gestern zu Gast in der “Bild”-Sendung “Die richtigen Fragen”. Und natürlich könnte man nun einfach mit den Schultern zucken und sagen: “Tja, selbst schuld”. Doch wie die “Bild”-Redaktion in diesem Fall Aussagen des SPD-Gesundheitsexperten aus dem Kontext reißt, Versatzstücke neu zusammenwürfelt und es am Ende so wirken lässt, als wäre Lauterbach zum “Klartext”-Politiker mutiert, der gegen arabische Großfamilien poltert, ist schon besonders frech.

Screenshot Bild.de - Explodierende Corona-Infektionszahlen - Lauterbach spricht Klartext über Clan-Hochzeiten

titelt gestern Abend Bild.de auf der Startseite und heute die gedruckte “Bild” auf Seite 3. Die Kombination aus Dach- und Schlagzeile lässt nicht viel Spielraum für Interpretationen: Karl Lauterbach klartextet, dass die “Clan-Hochzeiten” schuld seien an den “explodierenden Corona-Infektionszahlen”. Nur sowas hat Lauterbach in der “Bild”-Sendung nicht gesagt.

Das Thema an sich brachte auch nicht Lauterbach in die Gesprächsrunde ein, sondern der stellvertretende “Bild”-Chefredakteur Paul Ronzheimer. Als Moderator fragte Ronzheimer erst den per Videostream zugeschalteten FDP-Politiker Wolfgang Kubicki:

Wir reden viel über Feiern. Herr Kubicki, eine Frage an Sie gerichtet: Wenn man über diese Feiern spricht, was ist aus Ihrer Sicht da der tatsächliche Hintergrund? Und was bedeutet es eigentlich, dass jetzt die Kanzlerin und der Regierungssprecher aktuell zum Beispiel in einer Videobotschaft auch vermehrt mit arabischen Untertiteln arbeiten, um sozusagen auch Menschen mit Migrationshintergrund zu erreichen? Sehen Sie da eine Problematik, die bislang zumindest in der Öffentlichkeit wenig diskutiert wurde?

Feiern, arabische Untertitel, zwinkerzwinker, sagen Sie doch mal, Herr Kubicki, was ist da der “tatsächliche Hintergrund”?

Anschließend wandte sich Ronzheimer an Karl Lauterbach:

Herr Lauterbach, sehen Sie, ähnlich wie Herr Kubicki, ein besonderes Problem und die Frage, ob es einer besonderen Aufklärung bedarf für Menschen mit Migrationshintergrund? Oder ist das Quatsch?

Das sind eigentlich drei Fragen auf einmal: 1. “besonderes Problem”, 2. “besondere Aufklärung” und 3. “Quatsch”. Lauterbach scheint auf die Fragen 2 und 3 zu antworten:

Das ist kein Quatsch. Das muss man schon natürlich einräumen, weil kulturelle Unterschiede und auch Sprachbarrieren bei der Ansprache spielen hier natürlich eine große Rolle. Von daher wäre es falsch, das nicht einzuräumen.

Es geht ihm offenbar um die gesonderte Aufklärung über die Corona-Pandemie für Menschen, die kaum oder gar nicht Deutsch sprechen.

Dann kommt der “Klartext”. Lauterbach sagt direkt im Anschluss:

Ich will aber in einem Punkt hier Klartext sprechen. Der Punkt, wo wir das noch in den Griff hätten bekommen können, also wir kämen aus dem exponentiellen Wachstum raus, indem wir einfach nur die Feiern verbieten, der ist leider weg. Das hätte man vor zwei oder drei Wochen vielleicht noch machen können.

Er erwähnt an dieser Stelle also nicht “Clan-Hochzeiten”, sondern “Feiern” allgemein. Und er sagt: Das Verbieten von Feiern ist heute schon gar nicht mehr das entscheidende Thema:

Daher hat Merkel Recht gehabt, indem sie auf die Kontakte abgehoben hat. Vor zwei, drei Wochen hätte es wahrscheinlich noch gereicht, wenn wir einfach die Feiern, die privaten Feiern begrenzt hätten. Da gab es Modellierungen auf 25 Leute maximal. Das wäre möglicherweise noch gegangen. Aber jetzt haben wir so viele Fälle in der breiten Bevölkerung, dass die ganz gewöhnlichen Kontakte, am Arbeitsplatz, im Restaurant, dass die auch schon reichen, sozusagen die Pandemie zu unterhalten.

Auch hier: keine explizite Erwähnung der “Clan-Hochzeiten”, sondern “Feiern, die privaten Feiern”. Paul Ronzheimer grätscht dazwischen:

Das heißt, Sie wollen wieder alles dichtmachen?

Lauterbachs Antwort:

Nein, das will ich nicht. Ich will nur erklären, dass wir jetzt, jeder Einzelne, die Kontakte reduzieren müssen. Und ich halte es für extrem gefährlich, also folgenden Irrgedanken zu haben. Das wäre, sagen wir mal, ein Fehler. So könnte man falsch denken. Falsches Denken wäre in diesem Moment wie folgt: Ich mache keine privaten Feiern, ich bin nicht betroffen. Ich gehe zu keiner Hochzeitsfeier. Ich kann das machen, was ich in den letzten drei Wochen gemacht habe. Ich verändere mich nicht. Ich gehöre nicht zu diesen Großfeiern und so weiter. Vor ein paar Wochen hätte das gereicht. Die Zeit ist vorbei, das ist abgefahren. Also jetzt ist die Zahl mittlerweile so hoch, und es hat sich so stark verbreitet, dass wir jetzt tatsächlich an die, ich sag’ mal, Nicht-Feier-Kontakte ran müssen. Und das müssen wir schnell machen. Solche Feiern sind in Frankreich schon lange verboten. Und trotzdem sind die mehr oder weniger im Lockdown. Weil wenn ich einmal eine gewisse Zahl von Infizierten erreicht habe, dann sind die Früchte, die tief hängen, der Ökonom spricht ja von den tiefhängenden Früchten, die tiefhängenden Früchte, die Feiern, also die Großveranstaltungen und so weiter, die Clan-Hochzeiten, die tief hängenden Früchte, die sind jetzt alle nicht mehr relevant. Jetzt muss ich an die höheren Früchte ran. Und daher wird das schwieriger werden. Und ich will einfach der Illusion entgegenwirken, dass wir jetzt sagen können: Wenn die Feiern jetzt erstmal beendet sind, dann sind wir aus dem Schneider. Der Punkt ist nicht mehr.

Nun also die “Clan-Hochzeiten”. Weit entfernt vom “Klartext” und nur als ein Beispiel neben “Feiern” und “Großveranstaltungen”. Vor allem aber: Das alles sei jetzt “nicht mehr relevant”, denn eine Begrenzung oder ein Verbot von Feiern griffe viel zu kurz. Weitergehende Maßnahmen wären stattdessen nötig.

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Von dieser Forderung ist in den Artikeln der “Bild”-Medien nichts zu lesen (bei Bild.de ist auch kein Video mit den im Beitrag thematisierten Zitaten Lauterbachs eingebettet). Stattdessen würfelt die Redaktion die Aussagen Lauterbachs zusammen:

SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach (57) spricht sogar offen aus, dass Clan-Hochzeiten mitverantwortlich für den rasanten Anstieg der Corona-Infizierten sind.

Im BILD-Talk “Die richtigen Fragen” sagte Lauterbach über die steigenden Zahlen: “Der Punkt, wo wir das noch hätten in den Griff bekommen können, indem wir einfach nur Feiern verbieten, ist leider weg. Das hätte man vor zwei oder drei Wochen vielleicht noch machen können.” Die “kulturellen Unterschiede” und “Sprachbarrieren” spielten natürlich eine Rolle.

Das geschickte Zusammensetzen lässt es für die Leserinnen und Leser so wirken, als bezöge Lauterbach die “kulturellen Unterschiede” und die “Sprachbarrieren” auf die Feiern, wodurch sich der Rückschluss auf die “Clan-Hochzeiten” ergibt. Er erwähnte sie aber im Zusammenhang mit der besonderen Aufklärung über die Corona-Pandemie – siehe oben.

Im selben Artikel schicken die “Bild”-Autoren Ralf Schuler und Sebastian Geisler neben Karl Lauterbach übrigens auch Bundeskanzlerin Angela Merkel sowie die ganze Bundesregierung in den Kampf gegen “große Familienfeiern” von Türken und Arabern:

Die Videobotschaft von Kanzlerin Angela Merkel (66, CDU) am vergangenen Wochenende wurde mit Untertiteln gezeigt: auf Türkisch und Arabisch. Damit gibt auch die Regierung zu, dass große Familienfeiern Ursache zahlreicher Masseninfektionen waren und sind.

Diese bewusst hergestellte falsche Kausalität und die Verdrehungen zu Karl Lauterbachs Aussagen passen wunderbar zur Linie, die die “Bild”-Redaktion und ihr Chef Julian Reichelt in letzter Zeit verfolgen. Vor eineinhalb Wochen schrieb Reichelt in einem Kommentar zu den Corona-Maßnahmen:

Wir erleben keine Explosion der Unvernunft in Deutschland, sondern immer noch vermeintlich coole Partys in Berlin-Mitte und Familienfeste, die dann Millionen Menschen in Restriktionen zwingen. Bei den “Familienfesten” geht es viel zu oft um eben jene Hochzeiten, die vor Corona durch Autocorsos und Tänze auf Kreuzungen und In-die-Luft-Schießen deutlich machten, dass sie von Regeln des Zusammenlebens nichts halten.

Es ist schon erstaunlich, wie viele Zeilen Julian Reichelt braucht, um seine simple wie gefährliche Botschaft loszuwerden: Die Ausländer sind schuld.

Dazu auch:

Mit Dank an die vielen Hinweisgeber!

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Respekt geht anders, Fischer trennt sich von Maron, Neue BBC-Konkurrenz

1. Gabriele Krone-Schmalz im Gespräch auf der ARD-Buchmessenbühne
(youtube.com, Hessischer Rundfunk, Video: 20:47 Minuten)
In ihrem neuen Buch “Respekt geht anders” macht sich Gabriele Krone-Schmalz Gedanken über die derzeitige Streit- und Debattenkultur. Deutschland sei “im Kampfmodus”. Andersdenkende würden oftmals verunglimpft, und statt aufeinander zuzugehen, breite sich in der Öffentlichkeit ein aggressives Klima der Intoleranz aus. Auf der ARD-Buchmessenbühne unterhält sich die Radiomoderatorin Marion Kuchenny mit Krone-Schmalz darüber, wie sich zielführender und respektvoller miteinander streiten lässt.
Weiterer Lesetipp: Thematisch passend dazu, schreibt Kuchenny in einem Thread über die Debattenkultur auf Twitter: “Diese Mischung aus permanenter Aufregung, großer Empfindlichkeit bei den eigenen Themen und gleichzeitig einer kompletten Hemmungslosigkeit im unerbittlichen Umgang mit den Themen und Argumenten anderer scheint ein Markenkern dieser Plattform zu sein.”

2. Wenn Bildredaktionen und Kompetenz fehlen
(mmm.verdi.de, Felix Koltermann)
Das Netzwerk für Osteuropa-Berichterstattung n-ost ist eine internationale Nichtregierungsorganisation, die sich zum Ziel gesetzt hat, die journalistische Berichterstattung über Osteuropa zu verbessern. Der Kommunikationswissenschaftler und Journalist Felix Koltermann hat mit Stefan Günther gesprochen, der bei n-ost als Bildredakteur arbeitet. In dem Interview geht es um den fotografischen Auslandsjournalismus und die bildredaktionelle Praxis von Medien allgemein.

3. Neue Konkurrenz für die BBC
(deutschlandfunk.de, Christine Heuer, Audio: 5:20 Minuten)
Wer an das britische Fernsehen denkt, denkt zunächst vermutlich an die BBC, die mehrere Fernseh- und auch Hörfunkprogramme sowie eine Nachrichtenwebsite betreibt. Doch mit GB News und News UK stehen zwei Konkurrenten in den Startblöcken, die nicht nur für Konkurrenz, sondern auch für eine Polarisierung der britischen Medien sorgen könnten.

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4. Das sind die Podcast-Tipps im Oktober
(sueddeutsche.de, Elisa Britzelmeier & Aurelie von Blazekovic & Stefan Fischer & Marlene Knobloch & Harald Hordych)
In den Podcast-Tipps für den Oktober verraten “SZ”-Autoren und -Autorinnen ihre derzeitigen Lieblings-Hörtipps. Mit dabei: ein Nachrichtenpodcast (“0630”), die “Kohl Kids”, ein Polit-Thriller (“Der V-Komplex”), ein von Frauen präsentierter Tech-Podcast (“She Likes Tech”) und der “sportstudio-Podcast” des ZDF.

5. Zu “rechts”? Fischer-Verlag trennt sich von Autorin Monika Maron
(br.de, Peter Jungblut, Audio: 2:03 Minuten)
Nach vierzigjähriger Zusammenarbeit trennt sich der Fischer-Verlag von seiner Autorin Monika Maron. Die verlegerische Geschäftsführerin des Verlages habe sich in einer kurzen Pressemitteilung zu den Gründen geäußert: “Man kann nicht bei S. Fischer und gleichzeitig im Buchhaus Loschwitz publizieren, das mit dem Antaios Verlag kooperiert.” Anmerkung des “6 vor 9”-Kurators: Das Buchhaus Loschwitz gilt als pegida-nah, Antaios wird dem Netzwerk der Neuen Rechten zugeordnet.
Weiterer Lesehinweis: Kein Platz für Maron (sueddeutsche.de, Hilmar Klute).

6. Deswegen wurde 14 Jahre lang gebaut
(interaktiv.tagesspiegel.de)
Keine explizite Medienmeldung, aber ein tolles Beispiel für innovative Darstellungsformen im Journalismus: Der “Tagesspiegel” zeigt (wieder einmal) eindrucksvoll, wie sich eine Reportage interaktiv und multimedial aufbereiten lässt, ohne dabei in reine Technik-Spielerei abzugleiten.