Archiv für September 28th, 2020

Bild.de zeigt Vergewaltigungsopfer

Die “Bild”-Redaktion zeigt alles, ohne Rücksicht auf irgendwas oder Empathie für irgendwen: Sie zeigt Tatverdächtige unverpixelt, Täter unverpixelt, falsche Täter unverpixelt, Opfer unverpixelt, falsche Opfer unverpixelt, getötete Kinder unverpixelt, den WhatsApp-Chat eines Elfjährigen, der gerade erfahren hat, dass seine fünf Geschwister getötet wurden, unverpixelt; sie zeigt auch ein Foto, auf dem eine Frau zu sehen ist, die kurz zuvor vergewaltigt wurde, unverpixelt.

Vor etwa zwei Wochen hat der Deutsche Presserat wieder einen Schwung Rügen verteilt. Insgesamt 15 Stück, sechs davon gingen an “Bild” beziehungsweise Bild.de (eine davon übrigens für die Berichterstattung, um die es oben bei “falsche Täter unverpixelt” geht). Vor allem über eine Rüge berichteten mehrere Medien: die zum “Bild”-Artikel “Fragwürdige Methoden: Drosten-Studie über ansteckende Kinder grob falsch” über den Virologen Christian Drosten. Eine andere Rüge, die der Presserat gegen Bild.de aussprach, wird in der Berichterstattung hingegen nur nebenbei erwähnt, wenn überhaupt. Dabei war das Vorgehen von Bild.de ausgesprochen skrupellos: “Redaktion zeigt Vergewaltigungsopfer”, schreibt der Presserat dazu. Den Fall wollen wir hier nachträglich noch einmal dokumentieren.

Am 23. März auf der Bild.de-Startseite:

Screenshot Bild.de - Plötzlich bricht eine Welt zusammen - Mein Papa hat mir gesagt, dass er ein Vergewaltiger ist
(Unkenntlichmachung der Augen des Jungen durch Bild.de, weitere Verpixelung durch uns.)

Ein Junge habe seinen Vater im Gefängnis besucht. Der 43-jährige Mann habe seinem neunjährigen Sohn bei diesem Besuch erzählt, dass er “ein Vergewaltiger und ein ­Mörder, ein versuchter Mörder” sei, so der Junge laut Bild.de. Daher die Überschrift.

Im dazugehörigen Artikel zeigt Bild.de auch ein Foto, auf dem ein Polizeiauto, ein Rettungswagen, Polizisten und eine Frau zu sehen sind. Die Frau ist in eine Decke eingewickelt. In der Bildunterschrift steht:

Am Morgen des 12. Oktober 2019 wurde eine Studentin (20) gefesselt in einem Gebüsch gefunden. Sie wurde sofort ins Krankenhaus gebracht

Die Studentin wurde entführt, vergewaltigt, ausgesetzt und nur per Zufall von einem Mann entdeckt, der anschließend die Polizei rief. Auf dem Foto, das den Polizeieinsatz zeigt und das Bild.de veröffentlichte, ist das Opfer zu erkennen. Der Presserat schreibt dazu:

BILD.DE erhielt eine Rüge für die Berichterstattung “Mein Papa, hat mir gesagt, dass er ein Vergewaltiger ist”. In der Berichterstattung zeigte die Redaktion das unverpixelte Fotos eines Vergewaltigungsopfers kurz nach seinem Auffinden durch die Polizei. Der Ausschuss sieht in der erkennbaren Abbildung einen schweren Verstoß gegen den Opferschutz nach Richtlinie 8.2 des Pressekodex.

Am vergangenen Freitag veröffentlichte der Presserat eine detailliertere Dokumentation zu der Rüge (hier zu finden unter dem Aktenzeichen 0311/20/2). Demnach reagierte die “Bild”-Redaktion erst überhaupt nicht auf die Aufforderung, zu der Beschwerde Stellung zu nehmen; nach erneuter Aufforderung antwortete die Rechtsabteilung des Springer-Verlags, dass die Veröffentlichung des Fotos zulässig sei, da die Frau bei der vorhandenen Bildauflösung überhaupt nicht zu erkennen sei.

Das sah der Beschwerdeausschuss des Presserats anders:

Anders als die Zeitung ist der Ausschuss der Meinung, dass die Frau auf einem der beiden Fotos erkennbar abgebildet worden ist. Die Abbildung eines Opfers unmittelbar nach der Straftat stellt einen schweren Verstoß gegen dessen Persönlichkeitsschutz dar. Die Identität von Opfern ist besonders zu schützen. Nur weil jemand zufällig Opfer eines Verbrechens wird, darf er nicht automatisch identifizierbar in den Medien gezeigt werden. Die Frau ist keine Person des öffentlichen Lebens. Die Redaktion kann auch keine Einwilligung vorlegen, die eine Ausnahme von Richtlinie 8.2 begründen könnte.

Inzwischen ist das Gesicht der Frau bei Bild.de verpixelt.

Ein Teil der Beschwerde richtete sich auch gegen die Abbildung des Neunjährigen auf der Bild.de-Startseite und im Artikel. Seine Augen wurden von der Redaktion zwar etwas verpixelt, aber erstens ist die Verpixelung so klein, dass ihn viele, die ihn ab und zu mal sehen, auf dem Foto wiedererkennen dürften. Zweitens wird sein Vorname genannt, der abgekürzte Nachname, Bild.de schreibt, in welche Klasse er geht, nennt den Vornamen des Vaters und den Vornamen der Mutter. Und drittens ist die Mutter auf dem Foto unverpixelt zu sehen, wodurch jede Person, die die Mutter kennt, auch weiß, um welches Kind es sich handelt. Dennoch gab es dafür keine Rüge, da der Redaktion eine Erlaubnis der Mutter vorlag. Der Presserat bewerte “die Abbildung des Sohnes durchaus kritisch”, …

… sieht jedoch keinen Anlass dafür, die Selbstbestimmung der Mutter und deren Entscheidung zur Einwilligung in Frage zu stellen.

Bleibt die Frage, ob eine Redaktion unbedingt alles machen muss, was sie darf.

Mit Dank an Horst W. für den Hinweis!

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“FinCEN-Files”, Unbezahlbarer Journalismus, Falsche Shitstorms

1. Wie interessiert man Leute für ein Thema wie die “FinCEN-Files”?
(uebermedien.de, Stefan Niggemeier, Audio: 52:32 Minuten)
Bei einem Verdacht von Geldwäsche müssen multinationale Großbanken der US-amerikanischen Finanzaufsicht FinCEN eine Meldung zukommen lassen. Dem kämen die Banken auch in erschütternd hoher Anzahl nach, doch fast immer ohne Folgen. Ein Teil dieser Informationen wurde “Buzzfeed News” zugespielt. Die Redaktion teilte den Datenschatz mit über 100 Redaktionen in 88 Ländern. Marcus Engert hat als investigativer Reporter von “Buzzfeed News Deutschland” an dem Projekt mitgewirkt. Im Gespräch mit Stefan Niggemeier schildert er die Schwierigkeit, die komplexe Materie vorstellbar zu machen und journalistisch aufzubereiten.

2. Kriegsreporterin Ramsauer: “Habe mich 20 Jahre in jedes Drecksloch gesetzt”
(derstandard.at, Oliver Mark)
Seit mehr als 20 Jahren berichtet die Journalistin Petra Ramsauer aus Kriegs- und Krisengebieten, doch damit ist nun Schluss. Ihre Arbeit als Kriegsreporterin sei nicht mehr finanzierbar. Für ihre Reportagen brauche sie wegen des erheblichen Aufwands und der Kosten für Fahrer und Fixer (Vororthelfer) zwischen 3.000 und 4.000 Euro pro Einsatz. Angeboten habe man ihr jedoch teilweise nur 150 Euro: “Ich habe abgelehnt. Das geht sich nicht mehr aus.” Ramsauer schule nun um zur Therapeutin mit dem Schwerpunkt Traumaverarbeitung.

3. Strafanzeige zu taz-Kolumne: Innenministerium wollte auch gegen Chefredaktion vorgehen
(fragdenstaat.de, Arne Semsrott)
“FragDenStaat” hat sich unter Berufung auf das Informationsfreiheitsgesetz die interne Kommunikation des Bundesinnenministeriums zur umstrittenen polizeikritischen “taz”-Kolumne (“All cops are berufsunfähig”) vorlegen lassen. Wider besseres Wissen und gegen den Rat seines Hauses habe Innenminister Horst Seehofer verkündet, die Kolumne habe mehrere Straftatbestände erfüllt. “Angesichts der Prüfung durch das Ministerium steht der Minister, der sich selbst als ‘Erfahrungsjuristen’ bezeichnet, mit dieser Ansicht alleine. Welche Straftatbestände neben Volksverhetzung überhaupt einschlägig sein sollen, ist unklar. Offiziell traf man die Entscheidung gegen eine Anzeige zum Schutze der Pressefreiheit. Viel wahrscheinlicher ist jedoch, dass die fehlenden Erfolgsaussichten den Ausschlag gegeben hatten.”
Weiterer Lesehinweis: Zuvor hatte bereits der “Tagesspiegel” über das missglückte Vorgehen berichtet.

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4. Shitstorm vs. Meinungsfreiheit auf Sozialen Medien
(scilogs.spektrum.de, Markus Pössel)
Laut Duden handelt es sich bei einem “Shitstorm” um einen “Sturm der Entrüstung in einem Kommunikationsmedium des Internets, der zum Teil mit beleidigenden Äußerungen einhergeht”. Doch manchmal werde mit dem Shitstorm-Begriff lediglich legitime Kritik ausgehebelt, so Markus Pössel: “Besonders perfide ist es, Kritik pauschal als ‘Shitstorm’ abzuqualifizieren – mit dem bequemen Nebeneffekt, dass man so auch sachliche Kritik abwatschen kann, ohne dass man sich damit sachlich hätte auseinandersetzen müssen. Für diesen Kunstgriff kann man zudem ausnutzen, dass in einem breiten Spektrum kritischer Anmerkungen ab einer bestimmten Gesamtanzahl mit großer Wahrscheinlichkeit auch Menschen dabei sind, die ausfällig werden.”

5. Vielfalt und Freiheit
(sueddeutsche.de, Meredith Haaf)
Viele Redaktionen setzen gerade verstärkt auf Meinungsjournalismus, die “Zeit” beispielsweise mit ihrem “Streit”-Ressort, die “Tagesthemen” mit ihrem Pro und Contra. Wie ist die Meinung im Journalismus einzuordnen? Und dürfen die traditionellen Medien überhaupt “Meinung machen”, wie ihnen oft vorgeworfen wird? Meredith Haaf ist Redakteurin im Ressort Meinung der “Süddeutschen Zeitung” und weiß, was dieses Thema den Lesern und Leserinnen abverlangt: “Der Wunsch, vor der Meinung der anderen seine Ruhe haben zu wollen, sitzt offenbar tief im Menschen. Die Meinungsfreiheit wiederum beinhaltet die Gesetzmäßigkeit, dass es zu jeder Meinung eine Gegenmeinung gibt. Meinungen zu haben und zu hören ist eine Art Ausdauersport.”

6. Warum Comedy-Helden jetzt gelöscht werden sollen
(ardmediathek.de, Philipp Walulis, Video: 30:30 Minuten)
Das gesellschaftliche Humorverständnis hat sich in den vergangenen Jahren stark gewandelt, und damit auch der Blick auf Comedy. In früheren Sketchen haben viele bekannte Comedians Minderheiten klischeehaft bis verletzend bewitzelt. Was tun mit dem belasteten Altmaterial? Aus dem Programm nehmen? In den USA haben sich etliche Programmmacher tatsächlich für diese Maßnahme entschieden und teilweise ganze Folgen gelöscht.

7. “Ein zweites Mal diese Tortur – das würde ich nicht schaffen”
(tagesspiegel.de, Maris Hubschmid)
Als zusätzlicher Link, weil nur eine indirekte Medienmeldung: Joachim Huber, Leiter des “Tagesspiegel”-Medienressorts, spricht über seine Corona-Erkrankung, die mit einer Lungenembolie, totalem Nierenversagen und einen Herzinfarkt einherging. Huber ist zwar mit dem Leben davongekommen, leidet jedoch noch heute unter den Folgen der Erkrankung. Ein eindringlicher Bericht, an den man sich erinnern sollte, wenn man mal wieder genervt von Hygieneregeln, Abstandhalten und Maskenpflicht ist.