Archiv für September 10th, 2020

“Bild” schlägt “IMPF-ALARM”

Es gibt Themen, bei denen mag es zwar ärgerlich sein, aber nicht ganz so schlimm, wenn Medien etwas zu sehr zuspitzen und übertreiben – etwa bei der Frage, ob dieser eine Sänger sich wirklich den Hintern hat liften lassen, oder ob im “Sommerhaus der Stars” die eine tatsächlich dasunddas zu dem anderen gesagt hat. Dann aber gibt es Themen, bei denen es enorm wichtig ist, dass Medien sorgfältig, genau und besonnen berichten und nicht nur auf den nächsten “SCHOCK” oder “ALARM” aus sind. Zum Bespiel wenn es um das Coronavirus und die Suche nach einem Impfstoff dagegen geht, also um die Gesundheit der Menschen und um Ängste und Sorgen.

In der “Bild”-Redaktion sieht man das mit der Besonnenheit offenbar etwas anders:

Ausriss Bild-Titelseite - Impfstoff-Schock! Versuchsperson erkrankt - Wichtige Corona-Tests gestoppt - Spahn hatte schon 54 Millionen Dosen reserviert - Was das für Deutschland jetzt bedeutet

… titelt die “Bild”-Zeitung heute. Und bei Bild.de haben sie, damit sich wirklich niemand keine Sorgen macht, auf der Startseite die Großbuchstaben ausgepackt:

Screenshot Bild.de - Impfstoff-Schock! Was der Test-Stopp für Deutschland bedeutet

Das Pharmaunternehmen AstraZeneca, das in Kooperation mit der Universität von Oxford an einem Impfstoff gegen das Coronavirus arbeitet, lässt seine klinische Studie ruhen. Bei einem Probanden könnte es eine schwere Nebenwirkung gegeben haben. Ob die Erkrankung, einem unbestätigten Bericht der “New York Times” zufolge eine Entzündung des Rückenmarks, tatsächlich mit der Impfung zu tun hat, muss allerdings noch geklärt werden.

Nun könnte man über den pausierten Test bei AstraZeneca sachlich und mit der angemessenen Ernsthaftigkeit berichten. Man könnte beispielsweise direkt klarstellen, dass es sich laut Experten in einer derartigen Situation nicht um eine außergewöhnliche Entscheidung handele. Die “Süddeutsche Zeitung” etwa schreibt schon im Teaser, dass dies “kein alarmierender Schritt” sei. Man könnte diese Entscheidung sogar als positives Zeichen deuten, schließlich zeigt sie, dass es dem Pharmaunternehmen nicht nur um Schnelligkeit, sondern auch um Sicherheit bei der Entwicklung des Impfstoffs geht.

Stattdessen kann man natürlich auch Angst verbreiten, indem man “IMPF-ALARM” schlägt:

Ausriss Bild-Zeitung - Impf-Alarm - Das bedeutet der Test-Stopp für Deutschland

“Es war DIE große Hoffnung, mit der wir das Corona-Virus besiegen wollten”, schreiben die “Bild”-Medien gleich zu Beginn, als wäre DIESE Hoffnung nun völlig dahin und der Kampf gegen das Coronavirus zu Ungunsten der Menschheit entschieden. “Beunruhigend” sei das alles.

Am Ende des “Bild”-Artikels bleibt vom “SCHOCK” und vom “ALARM” allerdings gar nicht mehr viel übrig. Die letzte Frage “Wird es überhaupt noch in diesem Jahr einen Impfstoff geben?” beantwortet die Redaktion mit: “Vermutlich ja.” Das erfährt aber nur, wer entweder die gedruckte “Bild”-Zeitung kauft und reinschaut oder wer ein “Bild plus”-Abo hat und hinter die Paywall gucken kann. Für alle anderen bleibt nur der “SCHOCK”.

  • Wenn andere im Zusammenhang mit Corona “Alarm” schlagen, findet die “Bild”-Redaktion das übrigens ziemlich schädlich.

Gesehen bei @andreaspetzold.

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Döpfner absetzen, Zeitungssterben, Polizeilicher Korpsgeist kommt zu Fall

1. Döpfner beim Wort nehmen – und absetzen
(uebermedien.de, Jürn Kruse)
In seinem Kommentar zur unethischen Solingen-Berichterstattung von “Bild” und RTL lenkt Jürn Kruse den Blick auf das große Ganze. Dazu gehört der Mann, der der Zeitungsbranche als Präsident des Bundesverbands Deutscher Zeitungsverleger (BDZV) vorsteht: der Springer-Vorstandsvorsitzende Mathias Döpfner. “Wenn der Rest der Branche wirklich so empört ist über das, was ‘Bild’ unter Reichelt treibt, dann sollten die Kolleg*innen nicht die Verantwortung nach unten delegieren, auf die Reporter*innen, sondern nach oben. Sie sollten Döpfner beim Wort nehmen, auf die eigenen Verlegerinnen und Verleger einwirken, dass sie Verantwortung übernehmen – und sich einen neuen BDZV-Präsidenten suchen.”

2. Brauchen wir eine zentrale Medien-Beschwerdestelle?
(radioeins.de, Daniel Bouhs, Audio: 4:02 Minuten)
Beim Presserat seien mittlerweile mehr als 160 Beschwerden wegen der Solingen-Berichterstattung der “Bild”-Redaktion eingegangen, zur Berichterstattung von RTL seien beim zuständigen Kontrollorgan hingegen gar keine eingegangen (Update: inzwischen sollen es zwei sein). Wie ist das zu erklären? Und brauchen wir vielleicht eine zentrale Medien-Beschwerdestelle? Medienjournalist Daniel Bouhs sieht akuten Handlungsbedarf: “Damit wir alle mit Beschwerden helfen können, dass Medien gut kontrolliert und gerügt werden, wenn sie so in die Schüssel greifen wie jetzt BILD und RTL, braucht es eine und vor allem auch eine sichtbare Beschwerde-Zentrale für unsere Medienlandschaft.”

3. Bauer setzt schachmatt
(taz.de, Steffen Grimberg)
Das Zeitungssterben hat beängstigende Auswirkungen: Gerade in strukturschwachen Räumen gebe es oftmals “Einzeitungskreise” – das sind Regionen, die von einer einzigen Zeitung mit Nachrichten beliefert werden. In bestimmten Regionen würden sogar “Keine-Zeitung-Kreise” drohen. Steffen Grimberg berichtet über die bedenkliche Marktkonzentration und Marktaufteilung durch Verlagskooperationen und Aufkäufe.

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4. Aktivisten fordern neues Format vor der “Tagesschau”
(deutschlandfunk.de, Annika Schneider, Audio: 5:04 Minuten)
In einer Petition samt Crowdfunding setzt sich die Projektgruppe “#Klima vor 8” für mehr Klimaberichterstattung ein: “Wir fordern, in den fünf Minuten vor der Tagesschau abwechselnd zu ‘Börse vor 8’ eine Sendung auszustrahlen, die sich den Themen Umwelt-, Klimaschutz und Nachhaltigkeit widmet – wir fordern #Klima vor 8!” Nachdem das notwendige Geld eingesammelt wurde, sollen nun Pilotfolgen gedreht werden, die man dem Sender vorlegen wolle. Der Deutschlandfunk hat sich umgehört, wie die Aktion bei Experten und Senderverantwortlichen ankommt.

5. “Wir müssen den Leuten zuhören”
(journalist.de, Ute Korinth)
Ute Korinth hat sich mit dem US-amerikanischen Medien-Experten Jeff Jarvis unterhalten. In dem Interview geht es vor allem um die Auswirkungen der Corona-Krise auf den Journalismus. Von staatlichen Subventionen für die angeschlagene Medienbranche hält Jarvis wenig: “Ich glaube, das ist gefährlich. Und hier muss ich nochmal auf die Unterschiede bezüglich des Marktes, der Regierung und der Kultur zu sprechen kommen. In den vergangenen Jahren, als die Leute gesagt haben, der Staat sollte die Medien hier in Amerika unterstützen, habe ich darauf eine Zwei-Wort-Antwort gegeben: Donald Trump. Es läuft mir ein kalter Schauer den Rücken herunter, wenn ich daran denke, dass er die Kontrolle über das Geld und das Schicksal von Medien hat. Als Antwort für meine europäischen Freunde, die sagen, wir haben ZDF und BBC, habe ich zwei Worte: Boris Johnson.”

6. Fotograf bringt mit seinen Aufnahmen Polizisten in Bedrängnis
(berliner-zeitung.de, Alexander Schmalz)
Der Foto- und Videograf Julian Stähle erlitt gleich doppeltes polizeiliches Unrecht: Zunächst wurde er während seiner Arbeit von Polizisten verletzt und danach wegen angeblichen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte angeklagt. Sein Glück, dass die Speicherkarte seiner (zerstörten) Kamera die ihn entlastenden Beweisbilder konserviert hatte. So konnten die Aufnahmen vor Gericht gezeigt werden – mit drastischen Konsequenzen für den Fortgang der Verhandlung: “Als die Bilder im Gericht gezeigt wurden, soll bei den Polizisten sofort die Stimmung gekippt sein, berichteten Zeugen. Als Stähles Anwalt daraufhin kritische Fragen stellte, brach der Beamte, der seinen Kollegen gedeckt hatte, im Zeugenstand zusammen. Der Polizist musste mit einem Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht werden. Der Fotograf wurde freigesprochen.”