Herzlich Willkommen zu unserer spannenden Entdeckungsreise durch die Rotlichtmilieus der deutschen Klick-Industrie! Wir gehen an die Orte, an denen für Klicks alles gemacht wird. Nach einigen Abstechern in den Westen verschlägt es uns heute mal in den Süden. Genauer: nach München.
Merkur.de, die Online-Seite des “Münchner Merkur”, ist eines der erfolgreichsten News-Portale des Landes. Gut 70 Millionen Visits verzeichnet die Seite pro Monat, damit gehört sie zu den Top 10 der besucherstärksten Nachrichtenportale, liegt oft sogar vor Seiten wie Süddeutsche.de, Stern.de, RTL.de oder FAZ.net:
Medium | Visits im April 2019 |
1. Bild.de | 427.691.776 |
2. Spiegel Online | 251.339.088 |
3. Upday | 190.994.183 |
4. Focus Online | 184.522.143 |
5. n-tv.de | 142.683.268 |
6. Welt | 120.681.764 |
7. Funke Medien NRW | 72.311.095 |
8. Zeit Online | 68.332.153 |
9. Merkur.de | 67.354.570 |
10. DuMont Newsnet | 65.558.438 |
11. Stern.de | 63.872.828 |
12. RTL.de | 59.734.317 |
13. Süddeutsche.de | 58.826.504 |
14. FAZ.net | 57.227.517 |
15. tz | 49.835.599 |
(Quelle: IVW via “Meedia”; in den Monaten davor sah es ähnlich aus.)
Wie Merkur.de das schafft, wollen wir an zwei Beispielen vom Wochenende zeigen. (Wir haben sie willkürlich rausgepickt, man könnte auch so gut wie jeden anderen Artikel nehmen.)
Am Samstag, genau drei Monate nach dem Verschwinden der 15-jährigen Rebecca aus Berlin, lockte Merkur.de mit einer “Sensation” auf die Seite:
Im Artikel geht es um einen Brief der Eltern, den RTL.de veröffentlicht hatte. Merkur.de schreibt:
Seit genau drei Monaten fehlt von der 15-jährigen Rebecca aus Berlin jede Spur. Nun veröffentlichte ihre Familie einen bewegenden Brief über RTL. Darin beschreiben die Eltern ihren unvorstellbaren Schmerz. “Wir sind verloren in unserer Angst und jeden Tag schwindet die Hoffnung, dich jemals wiederzusehen. Wir sind erstarrt in unserer Trauer, alles verhärtet sich innerlich in uns und doch funktionieren wir jeden Tag”, zitiert der TV-Sender die Eltern des vermissten Mädchens. Obwohl Bernd und Brigitte Reusch von Anfang an die Öffentlichkeit nutzten, um die Suche nach ihrer Tochter am Leben zu erhalten, berichten sie nun von dramatische Erlebnissen mit Unbekannten.
“Wir stehen am Fenster starren hinaus und denken jetzt… jetzt musst du doch kommen, doch stattdessen fahren die Autos ganz langsam an unserem Haus vorbei und schauen zu uns rüber… rüber zu Eltern, die trauern. Was für eine Sensation!”
Die Eltern schreiben also, dass ihnen die Sensationalisierung ihrer Trauer zu viel wird. Und daraus — daraus — wird die Überschrift:
Eltern veröffentlichen trauriges Statement – “Was für eine Sensation”
Das ist auf so vielen Ebenen gemein, da hätte selbst “Bild” Mühe mitzuhalten.
Bemerkenswert ist auch die schiere Masse. Der Rebecca-Artikel ist nur einer von etlichen; seit Monaten führt Merkur.de zu dem Fall einen “Nachrichten”-Ticker, für den jeder Instagram-Post von Angehörigen, jedes Gerücht und jede Spekulation mit einem eigenen Beitrag gewürdigt wird. Kleiner Auszug der vergangenen Wochen:
Fast täglich lockt Merkur.de so mit neuen Sensationsüberschriften auf seinen Rebecca-“News”-Ticker, und oft gehören die Artikel dann tagelang zu den meistgeklickten des Ressorts.
Zum Thema Clickbaiting sagte der Chefredakteur von Merkur.de vor einigen Monaten auf Nachfrage von “Übermedien”:
Ich finde ‘Clickbait’-Überschriften super. Journalisten, die es schaffen, mit guten Zeilen Leser in ihre Texte zu ziehen, beherrschen ihr Handwerk. Was aber nie passieren darf, ist eine Produktenttäuschung: Die Erwartung, die ich in Überschriften wecke, muss im Text auch erfüllt werden. Wird die Erwartungshaltung erfüllt, spricht nichts dagegen, dass Autoren einen Spannungsbogen aufbauen, der im Leser das Gefühl weckt, unbedingt diesen Text lesen zu müssen.
Okay, schauen wir uns einen anderen Artikel an, ebenfalls am Wochenende erschienen:
Verheerend. Drama. Wahnsinn. Welche Erwartung wird da geweckt? Verletzte? Tote? Explosionen? Vielleicht werden wir aus dem Teaser schlauer:
“Für einen” der beiden endete es also “im Unglück”. Also ein Toter? Schwerverletzter? Lesen wir weiter:
Uh, jetzt aber! Ach nee, zuerst noch ein Link zum Schwesterportal:
Verheerend. Drama. Weil sich das Auto drehte und gegen ein anderes Auto stieß. Wahnsinn. Und am Ende einfach noch den Kehle-Durchschneider rein, ist ja eh alles egal.
Und damit beenden wir unsere kleine Reise in den klickgeilen Süden, schaut auch nächstes Mal wieder rein, wenn es heißt: Es sah aus wie Journalismus, aber was dann geschah, hat uns tief getroffen.