Am Sonntagmorgen sprang der Sänger und Schauspieler Daniel Küblböck offenbar von einem Kreuzfahrtschiff im Nordatlantik. Nur wenige Stunden später ging bei Bild.de ein erster, kostenpflichtiger Artikel online, bei dem gleich drei Autoren und Autorinnen erste Fakten zusammengetragen hatten:
Laut BILD-Informationen gab es an Bord bereits mehrere Durchsagen an die gesamte Besatzung und Gäste. Der Inhalt der Durchsage: Eine Person wird vermisst — und bei dieser Person handelt es sich um Daniel Küblböck.
Und weiter:
Mehrere Passagiere bestätigen gegenüber BILD, dass Daniel Küblböck die vermisste Person ist. Ein Augenzeuge sagte zu BILD, dass Küblböck von Deck 5 gesprungen ist.
Noch vor wenigen Jahren wären solche Informationen frühestens beim Anlaufen des nächsten Hafens zu bekommen gewesen — das W-LAN an Bord eines solchen Kreuzfahrtschiffes ist zwar nicht ganz billig, aber offenbar ausreichend, um darüber Boulevardredaktionen in Deutschland zu informieren.
Seitdem dominiert die Geschichte die Startseite von Bild.de, es erschienen bisher fast 30 Artikel über Daniel Küblböcks Verschwinden, viele davon als kostenpflichtige “Bild plus”-Beiträge: Die Redaktion “zeichnet sein ungewöhnliches Leben nach” (der Artikel beginnt trotzdem eher gewöhnlich mit seiner Geburt), berichtet detailliert über die laufenden Rettungs- und Suchaktionen, ordnet den Vorfall (“alles andere als ein Einzelfall”) in einen größeren Zusammenhang ein (“Jedes Jahr gehen 24 Menschen über Bord”) — und beginnt auch mit nebulösen Mutmaßungen darüber, warum Küblböck gesprungen sein könnte:
(Alle Unkenntlichmachungen in diesem Beitrag druch uns.)
Nach BILD-Informationen fiel der Sänger an Bord auf: Er soll sich aggressiv verhalten haben und die meiste Zeit in Frauenkleidung rumgelaufen sein. Tatsächlich zeigt eines der letzten Fotos Küblböck bei einer Abendveranstaltung an Bord im Kleid und mit hohen Schuhen.
Für Küblböcks Familie ist die Nachricht ein Schock. Vater Günther Küblböck (54) zu BILD: “Ich klammere mich jetzt nur an die Hoffnung, dass irgendwie doch noch alles gut wird!”
In diesen zwei Absätzen steckt vieles, was man über die Arbeit von “Bild” und Bild.de wissen muss: Zunächst einmal werden irgendwelche Gerüchte kolportiert über das, was sich “nach BILD-Informationen” ereignet haben “soll”. Dabei werden aggressives Verhalten und das Tragen von Frauenkleidung nebeneinander gestellt, als sei beides irgendwie vergleichbar oder habe irgendetwas miteinander zu tun. Und weil aggressives Verhalten negativ besetzt ist, wird es das Tragen von Frauenkleidern spätestens durch diese sprachliche Montage auch. Mit beidem “fiel” Küblböck angeblich “auf”.
Mit dem Wort “tatsächlich” kann “Bild” den einen Teil der “BILD-Informationen” bestätigen — und den anderen damit gewissermaßen auch, denn beides gehört ja irgendwie zusammen, wie der Satz davor suggeriert. “Bild” präsentiert also Fotos, die Küblböck an Bord des Schiffes in Frauenkleidern zeigen sollen (praktisch, dieses W-LAN an Bord!) und die sehr danach aussehen, als wären sie ohne sein Einverständnis oder auch nur sein Wissen gemacht worden.
Es folgt ein neuer Absatz, der anscheinend direkt auf den vorherigen Bezug nimmt: “die Nachricht” ist “ein Schock” — das klingt bei unbedarftem Lesen erstmal so, als ginge es hier immer noch um die mutmaßlichen Aggressionen und die Frauenkleider. Dann wird einem allerdings klar: Es geht natürlich eigentlich um das Verschwinden. Und man wünscht Angehörigen in einer solchen Situation sicherlich vieles, aber bestimmt keine “Bild”-Reporter, die knackige O-Töne einholen wollen.
Besonders die Sache mit den Frauenkleider hat es den “Bild”-Leuten angetan — umso mehr, als sie entdeckten, dass Küblböck selbst ein Foto, das ihn geschminkt und offenbar in einem Kleid zeigt, auf Instagram veröffentlicht hatte.
Die Autorin Sophie Passmann kritisierte in einer Instagram-Story die Nebeneinanderstellung der Informationen, dass Küblböck verschwunden sei und Frauenkleider getragen haben soll, als Musterbeispiel für tendenziöse Berichterstattung:
Das ist natürlich mehr als zwei Informationen nebeneinander. Wenn man diese beiden Informationen hintereinander gibt, möchte man damit ja irgendwas sagen. Nämlich: “Daniel Küblböck hat Frauenkleider getragen. Irgendwas scheint nicht mit ihm zu stimmen — wahrscheinlich hat er sich selbst in den Tod gestürzt.”
Mehr noch: Weil Daniel Küblböck im August in einem inzwischen gelöschten Facebook-Post auf einer Fanseite Vorwürfe erhoben haben soll, an seiner Schauspielschule Opfer von Mobbing geworden zu sein, konnten die Gerüchteküchenpsychologen von “Bild” aus den zusammengeraunten Zutaten “Mobbing”, “Depression” und “Frauenkleider” einen geschmacklosen Unheilsbrei anrühren.
Oder, wie sie es nennen: sich auf “Spurensuche” begeben.
Was trieb ihn zu seinem Sprung in die Atlantik-Fluten?
Vieles spricht dafür, dass Ex-DSDS-Sänger Daniel Küblböck (33) unter psychischen Problemen litt. Doch niemand ahnte, dass sich seine Seele schon so verdunkelt hatte.
BILD auf Spurensuche.
In immer neuen Artikeln tackert die Redaktion Puzzleteile, die sie mutmaßlich, angeblich, vielleicht, offenbar irgendwo aufgetrieben hat, zusammen. Dabei stets im Fokus: das vermeintlich Abnorme.
Seit September 2015 studierte Küblböck am “Europäischen Theaterinstitut” (ETI) in Berlin. Zuletzt lernte er wie besessen seinen Text für das Abschluss-Stück “Niemandsland”. Darin spielte er “Aurora” — einen Transvestiten. Auch privat trat er fast nur noch in Frauenkleidern auf.
Der Artikel, der weitere “BILD-Informationen”, Konjunktive und Formulierungen wie “einige seiner Kommilitonen berichten” und “sei gemunkelt worden” enthält, endet ernsthaft so:
Schon in seiner Kindheit fühlte sich Küblböck nicht geliebt.
In seiner Autobiografie “Ich lebe meine Töne” (2003) schreibt er: “Ich bin nicht erwünscht. Zumindest nicht von meiner Mutter. (…) Sie hat mich nicht haben wollen. Aber wenn schon mich, dann ein Mädchen.”
Bei der Lektüre nimmt man zweierlei mit: Wer als Mann in Frauenkleidern herumläuft, hat offensichtlich psychische Probleme — und wer sich als Kind ungeliebt fühlte, springt halt zwangsläufig irgendwann von einem Kreuzfahrtschiff.
Unter den meisten Artikel zum Thema prangt pflichtschuldig ein Hinweis auf Hilfsangebote, die Menschen mit Depressionen oder anderen psychischen Erkrankungen in Anspruch nehmen können. Ausgerechnet unter dem “Bild plus”-Artikel “So entglitt Daniel Küblböck das Leben” (auch Titelgeschichte der gedruckten “Bild” am Dienstag) fehlt er.
Solche Informationen sind, neben dem Hinweis, dass man “normalerweise” nicht über Selbsttötungen berichte, auch bei seriösen Medien seit einiger Zeit üblich. Bei Bild.de allerdings wirkt es so, als würde sich die Redaktion damit selbst einen Freifahrtschein ausstellen: Solange wir hinschreiben, wo man sich Hilfe holen kann, können wir das Thema so ausführlich und gedankenlos ausbreiten, wie wir wollen. Also quasi sowas wie Warnhinweise auf einer Zigarettenschachtel.
Und so begannen die “Bild”-“Spurensuchen” schon, als die Rettungs- und Suchaktionen noch liefen, und hörten nach deren Einstellung (“ER stellte die Suche nach dem DSDS-Star ein” — ganz so, als sei “ER”, der kanadische Einsatzleiter, “der perfekt Deutsch spricht”, irgendwie schuld) natürlich nicht auf.
Vorläufiger Tiefpunkt: Ein “Bild plus”-Artikel, in dem referiert wird, was “Reiseexperte Ralf Benkö bei RTL” vorgetragen habe.
Zum Beispiel:
“Es gibt einige Gerüchte und unbestätigte Informationen, wonach es Augenzeugen gegeben haben soll, für das was passiert ist”
Passiert ist “nach weiteren Gerüchten”, “möglicherweise”, “vielleicht” etwas, denn “es gibt Informationen, die das sagen”. Nach weiteren Konjunktiven stellt der Bild.de-Artikel am Ende wieder so etwas ähnliches wie Klarheit her:
Was es mit all diesen unbestätigten Informationen auf sich hat, muss nun die kanadische Polizei herausfinden.
Aber das ist natürlich noch lange nicht alles zum Thema: In einem Artikel beschreiben mehrere Passagiere die Stimmung an Bord des Kreuzfahrtschiffs, das weiter auf dem Weg nach New York ist, als wahlweise “gelassen”, “ganz gut” und “sehr gedämpft”, wodurch der informative Mehrwert für Leserinnen und Leser in Deutschland gegen Null tendiert.
Weil Dieter Bohlen, der als Juror von “Deutschland sucht den Superstar” dabei war, als Daniel Küblböcks Karriere begann, auf Instagram ein Video zu dem Vorfall veröffentlicht hatte, in dem er ausgerechnet einen Kapuzenpulli mit der Aufschrift “Be one with the ocean” (“Sei eins mit dem Ozean”) trägt, konnte Bild.de fleißig weitere Artikel (“Ist dieser Pulli dein Ernst, Dieter?!”, “Dieter Bohlen erklärt seinen Geschmacklos-Pulli”) zum Thema (also: “zum Thema”) veröffentlichen.
Und weil der Comedian Oliver Kalkofe auf Facebook einen Post über Daniel Küblböcks Verschwinden veröffentlicht hatte, in dem er die “die Auswirkungen der Casting-Shows und des immer seelenloser werdenden Fernsehens” kritisierte, kann Bild.de Kalkofes Fernseh-Kritik munter weiterverbreiten — und so tun, als hätten Boulevardzeitungen und Onlinemedien mit alledem nichts zu tun.
Unsere Zusammenstellung hier ist natürlich unvollständig — und “Bild” und Bild.de sind längst nicht die einzigen Medien, die sich jetzt durch das Privatleben von Daniel Küblböck mutmaßen. Bei RTL und der “Bunten” kommen jede Menge “enger Freunde” zu Wort, die man, wenn sie wirklich enge Freunde sein sollten, in ihrer aktuellen Verfassung tunlichst nicht in die Öffentlichkeit zerren sollte, und deren Einschätzungen, wenn sie dem Verschwundenen nicht so nahe standen, wie sie behaupten, erst rechts nichts zur Sache tun. Bei DerWesten.de fragen sie, ob es einen Zusammenhang zwischen Küblböcks Sexualität und seinem Verschwinden gibt. Rosenheim24.de hat einen News-Ticker eingerichtet, den das Portal seit Tagen mit Meldungen zu Daniel Küblböck füllt. Express.de berichtet über eine “intime SMS”. Bei Stern.de sind sogar noch mehr Artikel erschienen als bei Bild.de.
Über Medien wie diese hat sich der Youtuber David Hain bereits am Dienstag ausgelassen:
Diese Art der Berichterstattung kann jetzt noch länger so weitergehen: Bild.de hat vorsorglich schon mal erklärt, dass Daniel Küblböck frühestens sechs Monate nach seinem Verschwinden für tot erklärt werden kann.
Mit Dank an die vielen Hinweisgeber!
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Du bist depressiv oder steckst in einer schwierigen Situation? Hilfe gibt es bei der TelefonSeelsorge — auf telefonseelsorge.de sowie unter den kostenlosen Telefonnummern 0800 – 111 0 111 und 0800 – 111 0 222.