Archiv für Oktober 12th, 2016

Gabor Steingart und “Bild” pöbeln im Geistersupermarkt gegen die EU

Gabor Steingart, der frühere Chefredakteur des “Handelsblatt”, hat ein neues Buch geschrieben. “Weltbeben — Leben im Zeitalter der Überforderung” heißt es, und die “Bild”-Medien veröffentlichen seit Montag exklusiv Auszüge daraus. Im heutigen Teil der Serie geht es um die Gier der Manager. Gestern ging es um die Gier der Banken. Und am Montag schrieb Steingart in “Bild” über die Gier der EU-Beamten:

Bild.de versuchte mit einem “Bild plus”-Artikel auch noch, ein paar Euro damit zu verdienen:

Der Untertitel verrät es schon: Gabor Steingart glaubt nicht, dass die EU viel mit Demokratie zu tun hat (“Demokratie ist in der EU daher nicht viel mehr als eine dekorative Zutat, die man nicht aus Überzeugung, sondern als Zugeständnis an den Publikumsgeschmack bei den Planungen berücksichtigt hat”). Sein erster Vorwurf: Die EU-Kommission unterstehe keiner parlamentarischen Instanz:

Die EU-Kommission ist mächtiger als jedes Ministerium, was man schon daran erkennt, dass man die 28 Kommissare weder wählen noch abwählen kann.

Nun zählen die Kommissare ja zur Exekutive der Europäischen Union, entsprechen also in etwa einer Regierung. Und Regierungen werden nur selten gewählt. Keine Ministerin und kein Minister ist je in Deutschland gewählt worden, zumindest nicht direkt vom Volk. Gewählt sind die Parlamente, und tatsächlich hat auch das EU-Parlament ein bisschen mitzureden bei der Auswahl und der Abberufung der Kommissare. Es kann zum Beispiel einzelne Kommissare ablehnen, so geschehen bei Alenka Bratušek aus Slowenien. Das EU-Parlament kann auch einen Misstrauensantrag stellen. Wird er angenommen — was bisher freilich noch nie geschehen ist –, muss die Kommission geschlossen zurücktreten. Außerdem wählt das EU-Parlament den Kommissionspräsidenten. Es mag nicht so mächtig sein wie ein nationales Parlament, aber man kann durchaus davon sprechen, dass das Parlament der Europäischen Union die Kommissare kontrolliert.

Der nächste Vorwurf Steingarts: Die vielen Privilegien, die sich die ganzen EU-Beamten gönnen:

Die höchste Besoldungsstufe in Deutschland ist B11 mit 13 430 Euro, im Vergleich zur höchsten Besoldungsstufe AD16 innerhalb der EU mit einer Besoldung von rund 16 000 Euro.

Man könnte an dieser Stelle natürlich erwähnen, dass es nicht bei allen 32.966 Menschen, die bei der Kommission beschäftigt sind (PDF), um Beamte handelt und dass sie nicht alle Besoldungsstufe AD16 genießen. Tatsächlich gibt es beim Grundgehalt eine große Bandbreite, es beginnt bei 2300 Euro für einen neu eingestellten Assistenten. Ob wirklich “Tausende von Mitarbeitern” mehr als die nationalen Minister verdienen, wie Steingart schreibt, müsste man sich für jedes Land einzeln anschauen. Für Deutschland dürfte das jedenfalls nicht stimmen — nur die dienstältesten AD16-Beamten der Kommission verdienen mehr als deutsche Bundesminister.

Für solche Genauigkeiten haben Gabor Steingart und die “Bild”-Medien aber keine Zeit. Sie sind bereits beim nächsten Punkt:

Die soziale Absicherung im Falle von Krankheit, Arbeitslosigkeit und Alter ist europaweit ohne Beispiel.

Was Steingart nicht sagt: Als Beamter der Kommission (was eben nicht jeder Beschäftigte dort ist) muss man bei den meisten Behandlungen 20 Prozent der Kosten selbst tragen. Außerdem gibt es “bestimmte Höchstgrenzen” bei der Kostenerstattung.

Und dann ist da noch ein EU-Privileg, das Gabor Steingart stört:

Den EU-Parlamentariern in Straßburg steht im Inneren des Parlamentskomplexes ein nur für sie und ihre Mitarbeiter zugänglicher Supermarkt zur Verfügung

Nur: Es gibt diesen Supermarkt nicht. Ein Pressesprecher des Europäischen Parlaments teilte uns auf Anfrage mit:

Das ist Unsinn. Es gibt in Straßburg in den Gebäuden des Europäischen Parlaments keinen Supermarkt. In Brüssel und in Luxemburg gibt es jeweils einen kleinen, aber dort können alle einkaufen, die Zugang zum Parlament haben. Und zwar zu normalen Preisen inklusive Mehrwertsteuer.

Eine Kleinigkeit, natürlich. Aber gerade “im Zeitalter der Überforderung” sollte man beim EU-Bashing nicht schon beim Abbilden solcher Kleinigkeiten überfordert sein.

Mit Dank an Moritz D. für den Hinweis!

Nachtrag, 13. Oktober: Gabor Steingart hat gestern Abend noch auf unseren Blogpost reagiert.

Es fing damit an, dass der Branchendienst “turi2” eine kurze Zusammenfassung unseres Blogposts veröffentlicht hat. Steignart antwortete bei Twitter:

“Bild”-Chefin Tanit Koch retweetete und likete fleißig. In einem weiteren Tweet fasste Gabor Steingart dann die “EU-Bestätigung” zusammen:

Im “Bild”-Artikel mit den exklusiven Auszügen aus Steingarts Buch war allerdings gar nicht von Luxemburg die Rede, sondern von Straßburg. Und daran orientierte sich eben unsere Kritik an dieser Passage:

Sendeschluss, Medien-Honorare, Bundesliga

1. Das war’s dann
(taz.de, Jürgen Gottschlich)
Ein Besuch bei der letzten Mitarbeiterversammlung des türkischen Senders “IMC TV” brachte die traurige Gewissheit: Der unabhängige, linke Fernsehsender muss dicht machen, die mehr als 100 Mitarbeiter sind arbeitslos. Nun bleibt nur noch der Gang nach Straßburg zum Gerichtshof für Menschenrechte. Doch das kann Jahre dauern und der bisherige Finanzier befürchtet eine Enteignung, sollte er den Sender finanziell unterstützen. Damit seien im türkischen Fernsehen jetzt praktisch nur noch regierungsnahe Kanäle zu sehen.

2. “Tichys Einblick” – die konservative Alternative
(sueddeutsche.de, Johannes Boie)
Johannes Boie hat sich das Monatsmagazin “Tichys Einblick” angeschaut, hinter dem der Ex-Chef der “Wirtschaftswoche” Roland Tichy steckt. “Tichy kann es”, befindet der Autor. Das neue Heft habe eine Auflage von 70 000, erste Abos seien verkauft, Immobilienmaklern und Banken würden Inserate schalten. Unter den Autoren würden sich bekannte Konservative, aber auch “Internetkrawallos” befinden. “Tichy positioniert sich seriös, profitiert aber selbstverständlich vom Pegida-Narrativ der “Lücken- und Lügenpresse”. Es klingt nur vornehmer bei ihm: Sein Blatt, so schreibt er, sei “für Menschen, die die Nase voll haben vom bevormundenden Mainstream-Journalismus, die selber denken, die die Wahrheit vertragen”. Das stimmt. Jedenfalls solange die eigene Wahrheit ist, dass Merkel dringend abgewählt werden muss.”

3. Medien-Honorare: David gegen Goliath
(carta.info, Laurent Joachim)
Laurent Joachim fragt sich, warum Deutschlands Journalisten in fremden Angelegenheiten so mutig seien, aber innerhalb ihrer Verlage so verzagt. In kaum einer anderen Branche seien die Stundenlöhne so schlecht wie in den Medien. Und kaum irgendwo sonst würden sich die Betroffenen so selten dagegen wehren. Joachims trauriges Fazit: “Inzwischen ist Lohndumping überall so verbreitet, dass keine Krähe einer anderen ein Auge aushacken kann, ohne sich selbst in Verlegenheit zu bringen. Eigentlich ein perfektes Machtsystem samt Schweigekartell.”

4. Erdogan geht gegen Einstellung des Böhmermann-Verfahrens vor
(zeit.de)
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan wehrt sich gegen die Einstellung der strafrechtlichen Ermittlungen gegen den ZDF-Moderator Jan Böhmermann. Die Generalstaatsanwaltschaft in Koblenz muss nun über die Beschwerde Erdoğans entscheiden.

5. Seniorbook heißt jetzt Wize.life
(horizont.net, Katrin Ansorge)
Das Netzwerk “Seniorbook” weicht einem Rechtsstreit mit Facebook aus und benennt sich “freiwillig” um in “wize.life”. Laut IVW hätte “Wize.life” im September dieses Jahres 5,9 Millionen Visits verzeichnen können, bei 320.000 registrierten Nutzern.

6. Wie sich das Facebook-Wachstum der Bundesliga-Klubs ins Ausland verschiebt
(andreasrickmann.de)
Der FC Bayern hat 39 Millionen Fans auf Facebook. Doch nicht einmal mehr 10 Prozent kommen aus Deutschland. Ein Trend, der auch bei anderen Bundesligisten zu sehen ist und die Vereine vor neue Herausforderungen stellt, findet Andreas Rickmann. So habe der FC Bayern seine Teamvorstellung im August via Facebook Live auf Englisch gestreamt. Dies sei im Sinne von über 90 Prozent der Facebook-Fans und konsequent am (Facebook) Publikum ausgerichtet gewesen, hätte aber für Unmut bei den heimischen Fans gesorgt. Rickmann spricht von einem Spagat, vor dem gerade Traditionsklubs im Bereich der Internationalisierung stehen würden: “Die Emotionen und Identität der wichtigen deutschen Fans respektieren, die Werte und die Seele des Klubs wahren und zugleich neue Zielgruppen erschließen.”