Archiv für Juli 11th, 2012

Keine Lieder über Liebe

Als der damalige Bundespräsident Christian Wulff dem “Bild”-Chefredakteur auf die Mailbox quatschte, ließen sich Kai Diekmann und seine Redaktion nicht von einer Veröffentlichung eines geplanten Artikels über Wulffs private Hausfinanzierung abbringen. Nun ist es offenbar einigen rangniederen Politikern gelungen, einen auf den ersten Blick deutlich weniger brisanten Artikel, der bereits auf Bild.de erschienen war, wieder löschen zu lassen. Das behauptet zumindest der Bundestagsabgeordnete Diether Dehm.

Dehm ist nicht nur Politiker der Partei Die Linke, sondern auch Musiker, Komponist und Produzent. In dieser Funktion (und der des “Kondom-Erfinders”) hat ihn die “Bild”-Redakteurin Angi Baldauf anlässlich der Veröffentlichung seiner neuen CD “Grosse Liebe. Reloaded” für die Zeitung porträtiert. Ihr Artikel erschien am Samstagabend auf Bild.de:

Diether Dehm (62): Dieser Linke ist der erste Popstar im Bundestag. Hit-Schreiber, Sänger, Kondom-Erfinder — Der Abgeordnete Diether Dehm hat alle Hände voll zu tun.

Etwa 18 Stunden später war der Artikel wieder verschwunden, ist aber auf Dehms Internetpräsenz noch nachzulesen (PDF).

Es spricht wenig dafür, dass der Artikel bei Bild.de versehentlich veröffentlicht und dann wieder zurückgezogen wurde. Bild.de hatte ihn über den offiziellen Twitter-Account beworben:

So erregte der Artikel offenbar auch die Aufmerksamkeit der CDU-Abgeordneten Erika Steinbach, die sich öffentlich empörte:

Frau Steinbach und Herrn Dehm verbindet eine Jahrzehnte alte Feindschaft: 1990 hatte Steinbach behauptet, Dehm sei vor Jahren Stasi-Mitarbeiter gewesen. Dehm ließ diese Behauptung gerichtlich verbieten, doch 1996 tauchte eine Stasi-Akte auf, aus der hervorging, dass Dehm als von 1971 bis 1978 als Informeller Mitarbeiter die Staatssischerheit der DDR mit Informationen aus seinem Umfeld versorgt hatte. Es folgte eine längere Auseinandersetzung, die mit der Feststellung endete, dass Steinbach Dehm als “Stasispitzel” bezeichnen darf.

Dehm war von 1976 bis 1988 Manager des Liedermachers Wolf Biermann gewesen. Biermann hatte hinterher behauptet, Dehm habe sich ihm gegenüber 1988 als ehemaliger Stasi-Mitarbeiter offenbart, weswegen er ihn als seinen Manager entlassen habe.

Ein Vorfall, der auch im Bild.de-Artikel thematisiert wurde:

Den Vorwurf seines ehemaligen Liedermacher-Mitstreiters Wolf Biermann, er habe ihn bei der Stasi verpfiffen, hält er triumphierend das Dokument der Stasi selbst entgegen. Danach hatte die Stasi versucht, ihn als 24-Jährigen anzuwerben. Als Dehm aber 1977 Biermanns Manager geworden war und in Ostberlin sein Protestflugblatt gegen dessen Ausbürgerung verteilt hatte, stempelte die Stasi den “Perspektiv-IM” zum DDR-Staatsfeind. Sogar mit Fahndungsbefehl, welcher heute eingerahmt neben den neun goldenen und vier Platin-LPs hängt.

Diether Dehm hält es dann auch für möglich, dass sich einige politische Gegner daran störten, “dass ausgerechnet ‘Bild’ das entlastende Dokument erwähnt”.

Beschwert haben sich offenbar einige, wenn auch niemand so öffentlich wie Erika Steinbach. Im vom Liedermacher Konstantin Wecker herausgegebenen Blog “Hinter den Schlagzeilen” heißt es:

Dann prasselte der Druck auf die Redaktion. Aus höchsten Kreisen von CDU, SPD, FDP usw.

Die Bildspitze wurde zur Ordnung gerufen. Zur herrschenden Ordnung.

Diether Dehm selbst erklärte uns auf Anfrage, ihm seien inzwischen Namen “aus den Fraktionsspitzen der drei Parteien” zu Ohren gekommen, die am Sonntag bei “Bild” “vorstellig geworden” sein sollen, um sich über die positive Berichterstattung über Dehm und seine neue CD zu beschweren.

Dass Bild.de den Artikel dann wieder offline genommen habe, sieht Dehm als Teil einer Kampagne gegen seine Partei, wie er uns schreibt:

Es ist nicht nur “Bild”, sondern das Gros der Verlagskonzerne, die LINKE nur skandalisiert in ihre Blätter lassen. Wir erleben gerade eine Auferstehung von Zensur a la McCarthy und Berlusconi, damit um Gotteswillen die Wut über die Zockerbanken in der Eurokrise nicht nach links geht.

Das treffe dann sogar seine “kleine, ziemlich unverdächtige Liebeslieder-CD”.

Die Pressestelle der Axel Springer AG antwortete auf unsere Anfrage, wir wüssten ja, dass der Verlag “zu Redaktionsinterna keine Auskunft” gebe. So sei es auch in diesem Fall.

Mit Dank an Nico R. und Rita B.

Steffen Seibert, NAIIC, RTL 2 News

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “‘Im Zug des Lebens in Fahrtrichtung'”
(faz.net, Werner D’Inka und Peter Lückemeier)
Steffen Seibert, Ex-Journalist und aktuell Regierungssprecher, im ausführlichen Interview: “Wer sagt, es lasse ihn kalt, Herrn Obama, Herrn Putin oder Herrn Hollande so gegenüberzusitzen, wie ich es jetzt erlebe, der lügt. Journalisten kommen immer nur bis zu einem gewissen Punkt, dann schließt sich die Tür. Kann auch sein, dass dieser Abstand für die Berichterstattung hilfreich ist. Ich stelle fest, auf der anderen Seite der Tür dabei zu sein ist faszinierend. Und es hilft mir viel besser zu verstehen, warum Regierungen so oder so handeln.”

2. “Die Mühlen der PR”
(weltraumer.de, Daniel Raumer)
Das Bild des Pressesprechers als “Nicht-mit-Presse-Sprecher”: “Ich habe es erlebt, dass Pressesprecher ohne Skrupel bei meinem Vorgesetzten anriefen und sich beschwerten, weil ich seriös um eine Stellungnahme gebeten hatte und auch nach mehrfachem telefonischem Abwimmeln durch die Assistentin hartnäckig blieb. Ein Pressesprecher, der sich echauffiert, weil die Presse mit ihm sprechen will, offenbart eine erstaunlich von meinem Verständnis abweichende Interpretation seines Berufs.” Siehe dazu auch “SPD: Pressesprecher will privat bleiben” (blogs.taz.de/hausblog, Sebastian Heiser).

3. “Ein offener Brief an Martin Kölling, Japan-Korrespondent des Handelsblatts”
(schnellinterkulturell.de, Marco)
Marco Damm fragt den “Handelsblatt”-Japan-Korrespondenten, ob er, als er über den am 5. Juli veröffentlichten Bericht der NAIIC schrieb, “den Wortlaut der japanischen Fassung mit dem der englischen Fassung” verglichen habe. “Falls ja, haben Sie übersehen, dass der, an das internationale Publikum gerichtete, englische Report völlig anders formuliert ist und das Reaktorunglück ganz bequem als ‘made in Japan’ tituliert und den Zwischenfall somit auf schwammige kulturelle Besonderheiten und Einzigartigkeiten der japanischen Obrigkeitshörigkeit, etc. schiebt? Der japanische Report enthält dagegen keinerlei ‘made in Japan’ Formulierungen, sondern legt den Fokus viel mehr auf das zu enge Verhältnis zwischen Industrie und Politik. Auch hier ist Aussparung des ‘made in Japan’ wohl überlegt.”

4. “RTL News statt Tagesschau”
(fr-online.de, Peer Schader)
Peer Schader schaut “RTL 2 News”: “Regelmäßige Zuschauer der ‘RTL 2 News’ wissen aus den vergangenen beiden Wochen, dass in Ecuador ein Hochhaus gebrannt hat, dass sich auf einer chinesischen Autobahn ein riesiges Loch aufgetan hat und dass in Budapest eine Wasserleitung geplatzt ist – aber nichts über den IWF-Jahresbericht zur US-Wirtschaft und fast gar nichts zur Arbeit des NSU-Ermittlungsausschusses.”

5. “Intern: Wenn aus Bildern Brötchen werden”
(iphone-ticker.de)
Die “Wirtschaftswoche” übernimmt ein Bild von ifun.de. “24 Stunden und zwei freundliche eMails später ist die Geschichte nun aus der Welt. Unkompliziert und ohne einen Anruf beim Anwalt, spendet die WiWo jetzt 100€ an den Bundesverband Deutsche Tafel e.V. – und auch wir legen noch mal 100€ drauf.”

6. “Neues aus Kalau”
(noemix.twoday.net)