Archiv für September 20th, 2010

Ausgebildet und sensibel

Felix Disselhoff ist erschüttert:

Nach dem Amoklauf in Lörrach wettern Deutschlands User auf Twitter gegen die Sinnlosigkeit von Killerspielverboten. Ohne Rücksicht auf die Opfer der Tragödie.

“Zynisch” habe sich “das Web” “gegeben”, “Futter für Häme” habe die Biographie der Amokläuferin “geliefert”, “Häme” habe auch den CDU-Politiker Wolfgang Bosbach “getroffen”, einen “sarkastischen Unterton” glaubt Disselhoff erkannt zu haben.

In welche Kategorie sein eigener Text fällt, lässt der Autor offen:

Das Problem ist wie so oft nicht die Nachricht, sondern wie mit ihr umgegangen wird. Während ausgebildete Journalisten darin geschult sind, sensibel mit Daten von Personen umzugehen und Fakten zu recherchieren, steht hingegen bei Twitter die Meinung schnell fest. Der Pressekodex gilt nun einmal nur für die Presse. Und nicht für ein Medium, welches von vielen fälschlicherweise als die Zukunft des Journalismus betrachtet wird.

Erschienen ist Disselhoffs Text bei stern.de, dem Internetportal jener Zeitschrift, deren ausgebildete Journalisten sich nach dem Amoklauf von Winnenden im vergangenen Jahr geweigert hatten, die Herkunft der von ihnen veröffentlichten Privatfotos der Opfer zu erklären, und die derart sensibel mit Daten von Personen umgegangen waren und Fakten recherchiert hatten, dass sie das Foto eines Unbeteiligten als Porträt des Täters ausgaben.

Mit Dank an Steffen, Tino M. und Merrick.

Verhinderung ungeschehener Vorkommnisse

Auf der Titelseite der “Rheinischen Post” prangte am Samstag diese Schlagzeile:

Anschlag auf Papst vereitelt

Und auch bei der “Berliner Morgenpost” nahm ein Bericht mit ähnlicher Schlagzeile einen guten Teil der Titelseite ein:

Polizei verhindert Anschlag bei Papst-Besuch

Der “Daily Express” titelte übrigens “Muslim Plot To Kill Pope” — und korrigierte diese Schlagzeile heute in wenigen Zeilen auf Seite 9.

Denn tatsächlich passiert ist gar nichts: Es wurden lediglich sechs Männer verhaftet und dann wieder freigelassen, wie die Metropolitan Police in London gestern Sonntag vermeldete:

Sechs Männer, die aufgrund des Terrorism Act 2000 am Freitag, 17. September, festgenommen wurden, wurden am späten Samstagabend (18. September) und heute früh (Sonntag, 19. September) alle ohne Anklage freigelassen.

(Übersetzung und Link von uns.)

Es kann also weder von einem Anschlag, noch ernsthaft von der Verhinderung oder Vereitelung eines Anschlags gesprochen werden. Es brachte die “Berliner Morgenpost” allerdings dazu, sich heute (indirekt) über die eigene Berichterstattung zu beklagen:

Die sechs Straßenkehrer, deren Festnahme am Freitag fast ein Viertel der Berichterstattung über diese historische Reise erobert hatte, waren da schon wieder auf freiem Fuß und in den Straßen Londons unterwegs. Die überempfindlichen Antennen und Scanner von Scotland Yard hatten bei ihnen offenbar etwas zu fein reagiert.

Aber natürlich! Unschuldig Verhaftete “erobern” mit ihrer Festnahme die Berichterstattung und zwingen die Journalisten der “Berliner Morgenpost” sozusagen dazu, ihnen Platz auf der Titelseite einzuräumen! Vielleicht werden sie wenigstens dafür bestraft.

Ottfried Fischer, Hans Paul, Mel Gibson

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Hat ‘Bild’ Ottfried Fischer genötigt?”
(sueddeutsche.de, Nicolas Richter)
Die Staatsanwaltschaft München erhebt Anklage gegen einen ehemaligen “Bild”-Mitarbeiter, der Ottfried Fischer genötigt haben soll: “Der damalige Bild-Mann soll – laut Anklage – Mitte Oktober 2009 die PR-Agentin Fischers kontaktiert und von dem kompromittierenden Film erzählt haben. Fischer habe sich daraufhin bereit erklärt, Bild das Exklusiv-Interview zu gewähren, das im Oktober erschien.” Der Axel-Springer-Verlag dementiert: “Herr Fischer wurde zu keinem Zeitpunkt erpresst, an diversen Artikeln mitzuwirken.”

2. “Halt die Fresse Freifrau”
(motor.de/motorblog, Tim Renner)
Tim Renner hält nicht viel vom von “Bild” auf der Titelseite (“Besorgte Minister-Gattin schlägt Alarm”) thematisierten Buch “Schaut nicht weg” von Stephanie Freifrau von und zu Guttenberg.

3. “Peter Hahne ist gegen Kinderpornographie und lästige Details”
(faz-community.faz.net, Stefan Niggemeier)
Stefan Niggemeier kommentiert das Gespräch (zdf.de, Video, 26:59 Minuten) zwischen Peter Hahne und Stephanie zu Guttenberg zum Thema Kindesmissbrauch: “Hahne hat in der Sendung systematisch fast jede Gelegenheit gemieden, die Zuschauer aufzuklären, klüger zu machen. Er hat sie nur in ihren Gefühlen bestärkt.”

4. “Und alle noch einmal: Wempf!”
(medienspiegel.ch, Martin Hitz)
Die “Neue Zürcher Zeitung” wiederholt einen Tippfehler, den sie 2004 gemacht hat. “Steht das denn so im Korrekturprogramm?”

5. “Wie ein Paparazzo Promis jagt”
(mainpost.de, Gisela Rauch)
Ein Porträt von Hans Paul, der von sich sagt, “einer von drei ernst zu nehmenden Paparazzos in Deutschland” zu sein. “Paul sagt, People-Zeitschriften wie die deutsche ‘Gala’, die amerikanische ‘inTouch’ und Boulevardzeitungen wie der englische ‘Mirror’ würden sich um private Bilder der schwangeren Kerr reißen. Am besten mit Babybauch drauf.”

6. “Mel Gibson Paps the Paps”
(kara.allthingsd.com, Video, 2:12 Minuten, englisch)
Mel Gibson filmt zurück: “What’s the matter, got nothing better to do?”