Archiv für September 3rd, 2010

Von Fehlern und Fehlerinnen

Zugegeben: Das mit Europa, das ist unübersichtlich. Es gibt die Europäische Union (EU), die auf die Europäischen Gemeinschaften (nicht zu verwechseln mit der Europäischen Gemeinschaft) zurückgeht, den Europarat (nicht zu verwechseln mit dem Europäischen Rat oder dem Rat der Europäischen Union), den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (nicht zu verwechseln mit dem Europäischen Gerichtshof der Europäischen Union, obwohl genau das immer wieder geschieht), das Europäische Parlament und die Europäische Kommission, die wiederum Teil der EU sind, außerdem die Europäische Rundfunkunion, die UEFA und die Band Europe. Da kann man schon mal durcheinander kommen.

Trotz dieser offensichtlichen Verwechslungsgefahren nähern sich Journalisten Themen, in denen es irgendwie um Europa geht, häufig mit großer Ahnungslosigkeit Sorglosigkeit. Statt noch mal eben schnell nachzugucken, wird da gerne mal einfach vor sich hinbehauptet. Denn letztlich wissen vor allem die Leser: Europa, das ist immer auch Bürokratie-Irrsinn und irgendwie schlecht für Deutschland.

Im Mai rief die Schweizer Politikerin Doris Stump bei einer Gleichstellungskonferenz des Europarats zum Kampf gegen sexistische Stereotype in den Medien auf, im Juni schließlich schloss sich der Europarat ihren Forderungen an und empfahl dem Ministerkomitee (und damit seinen Mitgliedsstaaten), in den eigenen Verwaltungen auf eine Verwendung “nicht-sexistischer Sprache” zu achten. Beobachter(innen), die zur Resignation neigen, werden festgestellt haben, dass die Fortschritte auf dem Gebiet in den letzten 20 Jahren anscheinend nicht sehr groß waren.

Gestern veröffentlichte dann “Bild” auf Seite 1 eine kleine Meldung, deren Langfassung auf Bild.de erschien. Autor Stefan Ernst ging dabei nicht nur auf die Empfehlung des Europarats ein, sondern füllte seinen Text auch mit zahlreichen Beispielen geschlechtsneutraler Sprache aus Frau Stumps Schweizer Heimat an, die allerdings in keinem direkten Zusammenhang zur Empfehlung des Europarats standen. Das alles war also nicht gerade neu und einigermaßen irreführend, aber auch nicht falsch.

“Welt Online” verkürzte schon etwas und hob den “Leitfaden zum geschlechtergerechten Formulieren” der Schweizer Bundeskanzlei (PDF) in neue Höhen:

Der Rat in Straßburg will Sexismus bekämpfen und rät zu geschlechtsneutraler Sprache. Es gibt bizarre Ersatzvorschläge.

Europamäßig war da aber noch alles im grünen Bereich.

Schlimmer erwischt hat es da schon den “Berliner Kurier”, der dem Thema heute gleich zwei Kommentare, geschlechtergerecht geschrieben von Mann und Frau, widmet: Martin Geiger echauffiert sich über den “EU-Irrsinns-Stadl” und fragt angesichts der Straßburger Empfehlungen und des Schweizer Leitfadens:

Wie viel Fantasie muss in Brüsseler Amtsstuben herrschen, um im Wort “Fußgängerzone” den puren Sexismus der übelsten, chauvinistischen Art auszumachen.

Geigers Kollegin Stefanie Monien geht gleich noch einen Schritt weiter und listet unter der Überschrift “EU will Mama und Papa abschaffen” noch ein paar “Gaga-Empfehlungen für die EU” (“zum Schmunzeln”) auf und erklärt, dass die Schweiz “im Übrigen” gar nicht zum Europarat gehöre — was dann richtig wäre, wenn es tatsächlich um die EU ginge und nicht um den Europarat. Konsequenterweise hat die “Hamburger Morgenpost” Moniens Kommentar gleich die Dachzeile “EU total verrückt” verpasst.

Mit Dank an Florian S. und Henning.

Sarrazin, Sonntagsbären, Lucia R.

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Das verstehe ich nicht”
(sz-magazin.sueddeutsche.de, Andreas Bernard)
Andreas Bernard kann nicht verstehen, warum Thilo Sarrazins Buch “Deutschland schafft sich ab” von “Spiegel” und “Bild” vorabgedruckt wurde und es nun seit zehn Tagen “mit solcher Vehemenz als Debattenstifter in Erscheinung tritt”.

2. “Wo Rauch ist, da ist auch Feuer”
(zeit.de, Bernd Ulrich)
Bernd Ulrich stellt zur Sarrazin-Debatte fest, dass in den Medien “zumeist migrantenfreundliche Menschen tätig sind”. Jedoch wirke das, was sie sagen, oft steril, “die Absichten scheinen durch, Correctness ersetzt Kenntnis”. “Mittelschicht allüberall, mit sehr ähnlichen Biografien. Dass sich daraus keine lebendige Wahrnehmung der wirklichen Welt der Migranten ergibt, liegt auf der Hand.” Abgeholfen werden könnte dem durch die Verpflichtung von bisher in den Redaktionen unterrepräsentierten Gruppen (genannt werden Migranten, Arbeiterkinder oder Ostdeutsche).

3. Interview mit Lucia R.
(derstandard.at, Harald Fidler)
Die unbeteiligte Lucia R. wird von österreichischen Medien als Mordopfer und Prostituierte präsentiert. “Es verletzt wirklich sehr, wenn das eigene Bild in einem solchen Zusammenhang missbraucht wird. Sowas können nur wirklich unverantwortliche Menschen tun.”

4. “Branchenkritik – Sonntags gibt’s Enten”
(persoenlich.com, Peer Teuwsen und Ralph Pöhner)
Peer Teuwsen und Ralph Pöhner thematisieren die Schweizer Sonntagszeitungen: “Die wirtschaftlich lukrativen Wochenend-Titel züchten zwei Tiere, die bislang in der Zoologie unbekannt waren: erstens den Sonntagsbären, mit dem der Leserschaft eine übertrieben zugespitzte Wahrheit aufgebunden wird. Zweitens die Sonntagsente: Hier wird eine Nachricht (gestützt auf ‘Insider’ oder ‘gutinformierte Personen’) selbst bei wackliger Quellenlage veröffentlicht, wobei man notfalls eine Falschmeldung riskiert.”

5. “Gekaufter TV-Auftritt”
(beobachter.ch, Otto Hostettler)
Der medizinische Leiter der im Schweizer Fernsehen ausgestrahlten Sendung “Gesundheit Sprechstunde” kontaktiert per E-Mail “gezielt PR-Agenturen, die zahlungskräftige Pharmaunternehmen zu ihren Kunden zählen. Diese sollen einen fünfstelligen Betrag bezahlen, damit sie einen pharmagenehmen Experten für die Sendung vermitteln dürfen.” Siehe dazu auch “Fragwürdige Methoden bei Suche nach Sponsoren für ‘Gesundheit Sprechstunde'” (tagesanzeiger.ch, Maurice Thiriet).

6. “Bitte aufblättern”
(magda.de, Sabine Böhne)
Sabine Böhne versucht, Studenten das Zeitungslesen beizubringen.