Archiv für September 13th, 2010

Ups, verfickt!

In den USA konnte sich ein Mann einige Tage nicht in ein Online-Spiel-Netzwerk einloggen, weil dessen Betreiber den Wohnort des Mannes für einen Witz hielt: Fort Gay.

“Hihi”, dachte man sich da bei “Spiegel Online”, “‘Schwulburg’, das ist ja witzig”, und kalauerte weiter:

Spott macht dünnhäutig – die Bewohner von Hodenhagen, Sexau, Fickdorf, Petting oder Tuntenhausen werden es nachfühlen können.

Es ist kein Zufall, dass “Fickdorf” – im Gegensatz zu den anderen genannten Orten – nicht mit einem Link unterlegt ist: Ein Ort dieses Namens ist nämlich nirgends zu finden.

Mit Dank an Horst.

Meinungsmache mit der Meinungsfreiheit

In der Debatte um Thilo Sarrazin und seine “unbequemen Wahrheiten” haben sich “Bild” und Bild.de zu den größten Verteidigern des SPD-Mitglieds aufgeschwungen. Immer wieder werden dabei auch die Begriffe “Meinungsfreiheit” und “Sprechverbot” strapaziert — als wäre Sarrazins Meinung irgendwo unterdrückt worden und nicht etwa in einer konzertierten Medienkampagne der beiden deutschen Leitmedien “Bild” und “Spiegel” sowie durch anschließende Talkshow-Teilnahmen im Tagestakt auch noch ins letzte Kämmerlein getragen worden.

Einen vorläufigen Höhepunkt hatte der Kampf für Meinungsfreiheit und gegen Sprechverbote vor gut einer Woche:

BILD kämpft für Meinungsfreiheit — Wir wollen keine Sprechverbote!

Doch wie halten es “Bild” und Bild.de selbst mit Meinungsfreiheit und Sprechverboten? Ein näherer Blick lohnt sich.

Nachdem in der SPD-Zentrale 2.000 E-Mails eingegangen waren, in denen zu 90 Prozent der drohende Parteiausschluss von Sarrazin kritisiert wurde, sprach Bild.de von einer “Online-Revolte” und führte auch gleich ein prominentes Mitglied als Sarrazin-Verteidiger an:

Der SPD-Bundestagsabgeordnete und Sprecher des konservativen Seeheimer Kreises, Johannes Kahrs, wandte sich gegen einen Parteiausschluss von Sarrazin. “Man darf keinen Märtyrer aus Sarrazin machen”, warnte er im “Tagesspiegel”.

Für das, was Kahrs praktisch im gleichen Atemzug sagte, war offensichtlich kein Platz. Das vollständige Zitat lautet:

“Ich bin gegen ein solches Ausschlussverfahren, weil man keinen Märtyrer aus Sarrazin machen darf”, warnte Kahrs. “Das Buch disqualifiziert sich selbst.”

Als sich Verteidigungsminister Theodor zu Guttenberg zu Sarrazin äußerte, interpretierte Bild.de das als “Rückendeckung”:

Überraschende Rückendeckung bekam Sarrazin übrigens heute von einem Mitglied aus Merkels Kabinettsrunde. Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CDU) [sic] sagte [bei] einem Volksfestauftritt in der Nähe von München, Sarrazin habe eine richtige Debatte angestoßen.

Von den weniger schmeichelhafte Dinge, die zu Guttenberg außerdem über Sarrazin gesagt hat, erfährt man nur in anderen Medien:

“Dass wir Missstände (bei der Integration) haben, ist unbestritten.”, so Guttenberg. Er machte aber zugleich klar, dass er die Schlussfolgerungen Sarrazins nicht teilt. Die Frage nach Versäumnissen bei der Integration betreffe Deutsche ebenso wie Migranten. Der CSU-Politiker warf die Frage auf, ob an Einwanderer nicht Forderungen gestellt würden, die die einheimische Bevölkerung selbst nicht erfülle. Dies gelte zum Beispiel für Leistungsbereitschaft und Familiensinn.

Der Trend zum Weglassen setzt sich fort. Auf Bild.de kann man lesen:

Unterdessen hat Innenminister Thomas de Maizière (CDU) ein neues, bundesweites Integrationsprogramm vorgestellt. U. a. geplant: mehr Lehrer mit Migrationshintergrund. De Maizière räumte Versäumnisse auf allen Ebenen ein: “Da ist im Grunde zwei Jahrzehnte nichts oder zu wenig gemacht worden.” Größte Herausforderung, so der Minister weiter, sei die Sprache: 1,1 Millionen Ausländer sprächen nicht ausreichend Deutsch, 10 – 15 Prozent seien nicht zur Integration bereit und hätten Probleme mit dem deutschen Alltag.

Zur ganzen Wahrheit gehört aber, dass de Maizière auch folgendes gesagt hat:

Er wolle bestehende Probleme nicht kleinreden, so de Maizière, diese Zahl sei im internationalen Vergleich aber durchaus “nicht so schlecht. Zum ganzen Bild gehören auch die anderen 90 Prozent.”

Und:

Das vorgelegte Programm bezeichnete de Maizière als “Beitrag zur Sachlichkeit” in der Integrationsdebatte. Mit Blick auf die muslimkritischen Thesen des Bundesbank-Vorstandsmitglieds Thilo Sarrazin mahnte er, das Thema Integration “sachlich, wahrhaftig und fair” zu diskutieren. Es sei nicht die Aufgabe politischer Führung, alarmistisch zu sein und Probleme verbal zu verschärfen. Es gehe darum, “Wunden zu heilen und nicht noch Eiter hineinzuträufeln”. Integrationsprobleme von Migranten haben dem Minister zufolge nicht in erster Linie mit Religion oder gar dem muslimischen Glauben zu tun: “Es gibt keinen Eins-zu-eins-Zusammenhang zwischen Integrationsverweigerung und Religionszugehörigkeit.”

Selbst vor der Kanzlerin macht “Bild” nicht halt. Als diese sich bei der Ehrung des dänischen Karikaturisten Kurt Westergaard kritisch über die Kampagne von “Bild” äußerte und einen Bogen zur Axel Springer AG schlug, ließ “Bild” diese Seite der Geschichte dezent unter den Tisch fallen (siehe “Carta”).

Es ist deshalb auch kein Wunder, dass die meisten Umfragen auf Bild.de 90 Prozent Zustimmung für Sarrazin ergeben oder dass eine Aktion, bei der “Bild” seine Leser aufforderte, Briefe an den Bundespräsidenten zu schicken, auf große Resonanz gestoßen ist.

Erstaunlich ist dabei aber immer wieder, mit welcher Dreistigkeit regelmäßig aus einem Teil der Leser von “Bild” und Bild.de die Gesamtheit aller Deutschen gemacht wird:

Damit Christian Wulff weiß, wie Deutschland wirklich denkt

Wie denken die Deutschen wirklich über den umstrittenen Banker?

Aktion: "So denken Deutsche wirklich über Sarrazin"

Eine Gefährdung der Meinungsfreiheit entsteht nicht, wenn den Thesen von Sarrazin widersprochen wird, sondern dann, wenn “Bild” und Bild.de immer wieder essentielle Teile der öffentlichen Debatte verschweigen.

Politikjournalisten, Fox News, CCC

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Die Fußballreporter von Berlin”
(sprengsatz.de, Michael Spreng)
Michael Spreng bemerkt, dass Poltikjournalisten “immer häufiger und schneller von einem Extrem ins andere” fallen – “so, als würden sich Können und Leistungskraft von Politikern und Regierungen monatlich ändern. In einer Woche rufen sie ‘Hossiana’, in der nächsten schon wieder ‘Kreuzigt ihn’ – oder umgekehrt.”

2. “USA: Hetzjagd auf Barack Obama”
(ardmediathek.de, Video, 7:49 Minuten)
Der “Weltspiegel” zum US-“Kampfsender” Fox News: “Fox News geht es nicht um Information und Fakten. Alles, was nicht ins Glaubenskonzept passt, wird ausgeblendet.”

3. “Dem traurigen Trend des Lärms trotzen”
(journal21.ch, Moritz Leuenberger)
Für den Schweizer Medienminister Moritz Leuenberger gibt es “nur noch wenige Medien”, “die sich nicht primär an den quantitativen Kriterien ausrichten, wie sie die Inseratewirtschaft diktiert”: “Die Reihenfolge der Artikel auf den Online-Portalen verändert sich ständig; was nicht angeklickt wird, verschwindet bald wieder. Und so buhlen die Artikel, wollen sie nicht einen schnellen Tod sterben, mit reisserischen, personalisierten Titeln um Aufmerksamkeit.”

4. “ABC News Coverage of San Bruno Explosion a Bit ‘Lost'”
(aolnews.com, Joe Peacock)
Auf der Website von “ABC News” gerät ein Bild aus der TV-Serie “Lost” in die Berichterstattung über die Gasexplosion in San Bruno.

5. “Die Akte CCC”
(netzpolitik.org, Video, 27:56 Minuten)
Die 3sat-Sendung “neues” widmet sich dem Chaos Computer Club. Für Klaus Kornwachs (ab 10 Minuten) besteht die Weitsichtigkeit, die der Club auch heute noch habe, darin, “dass er der etwas zur Grossmäuligkeit neigenden IT-Branche auf die Finger guckt und hier ungerechtfertige Versprechungen und voreilige Behauptungen etwas zurückstutzt.”

6. “Allein im Wald”
(dasmagazin.ch, Mathias Plüss)
Mathias Plüss besucht Biologieprofessor und Ultramarathonläufer Bernd Heinrich in seiner selbst gebauten Blockhütte in den Wäldern von Maine, wo er mit zwanzig Litern Wasser pro Woche auskommt. “Andere Leute verschwenden ihre Zeit mit Fernsehen oder mit Schwatzen. Ich nicht.”