Archiv für Februar, 2010

Dr. Hope, Restauranttester, Tatort

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “‘Dr. Hope’: Wortvogel unter Beschuss”
(wortvogel.de, Torsten Dewi)
Torsten Dewi wendet sich in einem langen Artikel gegen die im “Münchner Merkur” und der “Süddeutschen Zeitung” gegen ihn und Katrin Tempel gerichteten Plagiatsvorwürfe. “Historische Fakten sind nicht schützbar, ein Sachbuch ist kein Roman, und ‘Dr. Hope’ ist weder die Adaption noch die Verfilmung eines Sachbuches (oder einer anderen Quelle).”

2. “Wo gekocht wird, fallen Krümel”
(faz.net, Peer Schader)
Peer Schader hat sich bei verschiedenen Gastronomen erkundigt, wie die Auswirkungen von Sendungen wie “Rach, der Restauranttester” oder “Rosins Restaurants” sind.

3. “Falscher Prof muss vor Gericht”
(meedia.de)
Henner Ertel, Gründer des von vielen, auch seriösen Medien immer wieder zitierten Instituts für Rationelle Psychologie, muss sich “vor dem Amtsgericht München gegen den Vorwurf verteidigen, den Professorentitel zu Unrecht zu führen”.

4. “Falscher Enkel landet einen Kobuk – Schuld? Twitter!”
(kobuk.at, Helge Fahrnberger)
Der kanadische Folksänger Gordon Lightfoot wird von mehreren kanadischen Zeitungen und TV-Sendern für tot erklärt. Darauf ruft dieser selbst bei einem Radiosender an und erklärt die Meldung zum Hoax.

5. “Vorabend. Eine Reise durchs TV-Programm”
(youtube.com, Video, 3:44 Minuten)
Lukas Domnick singt sich durchs TV-Vorabendprogramm. Dwdl.de hat ihm dazu einige Fragen gestellt.

6. “Tatort”
(ichwerdeeinberliner.com, Wash Echte, englisch)
Wash Echte, “Auslander” in Berlin, widmet sich dem Sonntagskrimi Tatort: “Mirroring the German society, in Tatort, everybody is a victim. Even the detectives.”

Voll Fett, Napf!

Eine Online-Umfrage hat ergeben, dass etwa 5.000 Briten Amerikaner für die bestaussehenden Menschen auf der Welt halten.

Vorwand Grund genug für Bild.de, eine 40-teilige Klickstrecke zu bauen, ein eigenes “Voting” zu starten — und falsche Zahlen zu verbreiten:

Es wird noch schlimmer: Die Umfrage ergab, dass die schönsten Menschen in Amerika leben. Die Briten wählen ausgerechnet die Nation auf Platz eins, in der laut WHO (Weltgesundheitsorganisation) 93,5 Prozent der Bevölkerung übergewichtig sind.

Da hat wohl jemand beim Gang ins eigene Archiv nur auf den Wortanfang geguckt: Das Land, in dem 93,5 Prozent der Bevölkerung übergewichtig sind, heißt jedenfalls nicht Amerika (oder USA), sondern Amerikanisch Samoa — in den USA sind es zwei Drittel.

Mit Dank an Samuel D. und Chris J.

Nachtrag, 21. Februar: Bild.de ist auf Nummer Sicher gegangen und hat den ganzen Absatz mit Prozenten und Übergewicht entfernt und durch diesen Satz ersetzt:

Die schönsten Menschen leben, glaubt man den Briten, in Amerika.

Bild  

Verwirbelte Verantwortung

Eine Woche vor dem Traditions-Derby des FC Schalke 04 gegen Borussia Dortmund bemüht sich “Bild” weiterhin redlich, die Stimmung auf ein ungesundes Niveau anzuheizen. Nachdem “Sportbild” dem Dortmunder Profi (und erklärtem BVB-Fan) Kevin Großkreutz in einem Fragebogen einen Seitenhieb auf den Gelsenkirchener Konkurrenten untergejubelt hatte und sich daraus eine Schlagzeile zurechtbog (BILDblog berichtete), kann “Bild” heute in der Ruhrgebietsausgabe folgendes berichten:

KLOPP SCHÜTZT GROSSKREUTZ: "Ich habe schallend darüber gelacht"

Wirbel um den Kinderheim-Spruch von Kevin Großkreutz. Gestern schaltete sich sogar BVB-Trainer Jürgen Klopp (42) ein…

Das ist natürlich auch eine Art von Journalismus: Erst Windmaschinen aufstellen und dann den “Wirbel” beschreiben — fast so wie Feuerwehrmänner, die selber Brände legen.

“Eingeschaltet” hat sich Klopp übrigens gestern, als er auf einer Pressekonferenz auf den “Fall Großkreutz” angesprochen wurde. Und sich alsbald die Pressevertreter selbst vornahm:

… und die Freunde hier schaffen es tatsächlich, heute so’n Ding draus zu machen, um anschließend uns alle dazu aufzufordern, Ruhe zu bewahren, damit die Zuschauer sich nicht gegenseitig rund um so’n Spiel auf den Kopf hauen. (…)

Dann schafft Ihr’s jetzt tatsächlich, da so’n Thema draus zu machen — find ich beeindruckend, weil wir müssen anschließend dafür sorgen: “Ja, so war’s doch gar nicht gemeint …” (…) Bin ich gespannt, wie wir das hinkriegen.

“Bild” tut unterdessen so, als falle der Veröffentlichungstermin eines “Sportbild”-Fragebogens in den Zuständigkeitsbereich des Spielers:

Jetzt der dritte Großkreutz-Akt – nur eine Woche vorm nächsten Revier-Derby.

So richtig erfolgreich scheint “Bild” beim Anheizen aber nicht zu sein: Den Satz

Was für Klopp ein Scherz ist, empfinden viele Schalke-Fans als erneute Provokation von Großkreutz

untermauert “Bild” mit keinem einzigen Beispiel — dabei hätte sich in Schalker Fan-Foren sicherlich der ein oder andere böse Kommentar über Großkreutz gefunden.

Allerdings auch Einschränkungen wie diese:

Wobei man hier mal wieder sehr schön die perfide Stimmungsmache der BLÖD sehen kann: Sie titeln “Peinlicher Spruch von Großkreutz… der BxB-Profi heizt die Stimmung an, hat er denn nix gelernt?” , obwohl es sich um eine VORFORMULIERTE ANTWORTMÖGLICHKEIT in einem Sportblöd-Fragebogen handelt! Erst locken sie erwiesene geistige Tiefflieger auf derlei Aussagen und dann zündeln sie, um dann hinterher “unschuldig” auf Großk*** zu verweisen… Wahrscheinlich hoffen sie insgeheim auf “richtig schöne” Derbyausschreitungen, die sie dann genüßlich ausschlachten können.

Bei derlei Methoden kann ich gar nicht so viel essen, wie ich k**zen möchte! Und weder Schalker noch Dortmunder Fans sollten darauf reinfallen.

Offenbar wollte man nicht mal beim FC Schalke selbst auf den Zug aufspringen, den “Bild” so schön ins Rollen zu bringen versucht:

Die Königsblauen schütteln ob des neuen Vorfalls nur mit dem Kopf. Neuer: “Dazu sage ich nichts mehr…”

Das stand jedenfalls so ähnlich auch schon gestern in der Zeitung:

Nun der provozierende Heim-Spruch. Und Neuer? Der gibt sich cool: “Dazu sage ich nichts mehr.”

Drei Mal bezeichnet “Bild” im Artikel die von Kevin Großkreutz angekreuzte Antwortmöglichkeit im “Sportbild”-Fragebogen als “Kinderheim-Spruch”. So auch im letzten Satz des Artikels:

Großkreutz und der Kinderheim-Spruch – gestern hat Klopp ihm ein striktes Interview-Verbot erteilt. Bis zum Derby…

Und was das für ein Interview-Verbot war, erklärt Klopp vielleicht am Besten selbst im Wortlaut auf der Pressekonferenz:

Ich werde [Kevin] raten, einfach mit niemandem mehr über dieses Spiel zu sprechen. Sollten irgendwelche Interviews abgemacht sein, sind die in diesem Moment abgesagt, zum Thema Schalke. Weil er anscheinend machen kann, was er will, es wird anschließend ‘ne Riesengeschichte draus gemacht, weil er nun mal ‘n Dortmunder ist. Und deswegen wird’s keine Geschichte geben. Und ich bin am Überlegen, ob wir meine Termine, die in diesem Bereich abgeschlossen wurden, ob wir die nicht auch absagen. Es ist einfach zu gefährlich: Man kann nicht oft genug drüberlesen, um nicht anschließend ‘ne Geschichte zu machen, die man vier Tage wieder glattbügeln muss.

Und ich finde es so wichtig, dass es in diesem Spiel nur um Fußball geht und um nichts anderes; dass jeder dafür in der Verantwortung steht. Und ich werde meine Spieler darauf hinweisen, dass sie dieser Verantwortung gerecht werden. Ich werde ihr gerecht werden — und dann gibt’s Menschen, die wir nicht beeinflussen können, die müssen ihr aber auch gerecht werden. Und das ist anscheinend nicht so leicht.

Offensichtlich steht dem verantwortungsbewussten Verhalten von “Bild” vor allem eines im Wege: das Fehlen von Verantwortungsbewusstsein.

Krokodilstränen, Enke, Karnevalsberichte

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Jüngstes Trauma der Kritik”
(freitag.de, Dorothea Dieckmann)
Dorothea Dieckmann über Krokodilstränen, fernsehkompatible Trivialliteratur und “Des Kaisers neue Kleider” im Fall “Axolotl Roadkill”. “(Auch) ich habe den Hype bedient wie viele abhängige Rezensenten, die für eine dreistellige Summe über Hegemann schrieben, die derweil eine mindestens achtstellige Summe anschafft.”

2. “Der Enke-Effekt”
(sz-magazin.sueddeutsche.de, Christoph Cadenbach)
Drei Monate nach Stefan Niggemeier schreibt auch das Magazin der “Süddeutschen Zeitung” über durch die Berichterstattung über Selbstmorde angeregte Selbsttötungen. Statistische Zahlen dazu erscheinen erst in zwei Jahren: “Nachdem sich Enke im vergangenen November das Leben nahm, habe es eine ‘drastische’ Steigerung der Suizide in Deutschland gegeben, sagt der Leipziger Psychiatrieprofessor Ulrich Hegerl. Von viermal so vielen Toten allein Mitte November ist die Rede.”

3. “Kampf mit dem Verleger”
(taz.de, Steffen Grimberg)
Bei den Redaktionsmitgliedern von Zeitungen wie “Frankfurter Rundschau” und “Berliner Zeitung” kehrt Ernüchterung ein nach einer anfänglichen Begeisterung für den neuen Verleger M. DuMont-Schauberg: “In den Musterverträgen für die neue Redaktionsgemeinschaft aller vier Blätter, die am 1. April ihre Arbeit aufnehmen soll, finden sich gut drei Seiten Kleingedrucktes zum Urheberrecht und an wen der Verlag die Artikel alles weiterverkaufen darf. ”

4. “Widerstand zwecklos”
(sueddeutsche.de, Alexander Kissler)
Alexander Kissler mit einer Kritik zur RTL-Sendung “Teenager außer Kontrolle”: “Wann immer die Hauptpersonen lachen, fallen die Posen von ihnen ab. Dann sind sie tatsächlich, was ein Vater lakonisch ausspricht, ‘die Kinder’ und nicht ‘Teenager außer Kontrolle’. Lange darf solche Besinnung nicht währen. RTL, Deutschlands erfolgreichster Kontrolleur, hat die nächste Eskalationsstufe längst im Köcher.”

5. “Kreativservice für Lokaljournalisten”
(thomastrappe.wordpress.com)
“Nach Studie mehrerer bundesweiter Karnevalsberichte der vergangenen Tage stelle ich den folgenden von mir großzügig erstellten Text kostenlos zum Kopieren zur Verfügung.”

6. “Deutschland degeneriert in ein Entwicklungsland”
(netzwertig.com, Marcel Weiss)
Dritter und letzter Teil einer Serie über Deutschland und das Internet. “Das Internet ist kein Medium neben anderen. Es läuft nicht parallel. Es ist das Medium. Es wird langfristig alle anderen Übertragungsformen von Medien und Kommunikation ersetzen.”

Bild  

Kurz korrigiert (499 & 500)

Kein Schwein will Spiele von Hertha BSC sehen, erklärt “Bild” heute in der Berliner Ausgabe:

Das letzte Liga-Heimspiel gegen Mainz (1:1) wollten nur noch 3715 Fans sehen. Saison-Minusrekord.

Nun weiß man nicht, wie viele Zuschauer beim Spiel gegen Mainz auch Fans waren, aber selbst davon dürften es mehr als 3.715 gewesen sein. Im Stadion waren jedenfalls 36.715 Menschen, wie mehrere Quellen übereinstimmend berichten.

* * *

Jetzt wurden Liebesbriefe von John F. Kennedy († 38) an eine schwedische Geliebte veröffentlicht.

Anders als “Bild” heute behauptet, ist John F. Kennedy nicht im Alter von 38 Jahren gestorben, sondern mit 46. Da muss wohl jemand den US-Präsidenten beim Googeln mit seinem Sohn John F. Kennedy, Jr. verwechselt haben, der 1999 mit 38 tödlich verunglückt ist.

Mit Dank an Horst, Basti, Martin K., und H.

Nachtrag, 19. Februar: Bild.de hat beide Fehler korrigiert.

Jeder nur ein Großkreutz

Sie sind Sportjournalist, es sind nur noch zehn Tage bis zum Derby zwischen dem FC Schalke 04 und Borussia Dortmund und es liegt noch nicht genug Spannung in der Luft? Nichts, worüber Sie berichten könnten?

Kein Problem, bauen Sie sich einfach Ihre Schlagzeile selbst — “Sportbild”, “Bild” und Bild.de zeigen in einer konzertierten Aktion, wie es geht:

  • Gehen Sie zu dem Dortmunder Spieler, von dem überliefert ist, dass er “Schalke wie die Pest hasst” und der schon beim letzten Derby für Diskussionen gesorgt hatte.
  • Legen Sie ihm einen Fragebogen vor, dessen Antwortmöglichkeiten möglichst großes Konfliktpotential bieten, und hoffen Sie auf das Beste:
    2. Wenn mein Sohn Schalke-Fan wird ... dann kommt er ins Heim
  • Übergeben Sie das Thema an Deutschlands meistgeklicktes “Nachrichten-Portal” und drehen Sie richtig auf:

    BVB-Star Großkreutz in einem Fragebogen: Wenn mein Sohn Schalke-Fan wird, kommt er ins Heim. KEVIN GROSSKREUTZ: Dortmund-Profi ledert wieder gegen Schalke. Dortmunds Kevin Großkreutz ist schon länger das Hass-Objekt aller Schalke-Fans. 10 Tage vor dem Revier-Derby gießt der Jung-Profi erneut Öl ins Feuer.  mehr ...

    Peinlicher Spruch von BVB-Star Kevin Großkreutz (21)!

    10 Tage vor dem Derby Schalke gegen Dortmund macht sich Großkreutz bei den königsblauen Anhängern richtig unbeliebt.

    Verzichten Sie nicht auf selbsterfüllende Prophezeihungen:

    Großkreutz heizt die Stimmung an. Hat er denn nichts gelernt?

    Im letzten Sommer machte sich der Dortmunder schon zum Hass-Objekt aller Schalke-Fans.

    Für den Fall, dass der Artikel komplett gelesen wird, können Sie gegen Ende auch noch Ihre Hände in Unschuld waschen:

    Jetzt die nächste überflüssige Provokation in Richtung Schalke. Übrigens: Mit “Stimme ich ihn um” und “Gibt es keinen Fußball-Gott” gab es zwei viel harmlosere Alternativen.

  • Am nächsten Tag übernimmt dann einfach die regionale Print-Ausgabe:

    Großkreutz spottet: Wenn mein Sohn Schalke-Fan wird, dann kommt er ins Heim!

    Erinnern Sie die Leser auch noch mal daran, um wen es da eigentlich geht:

    Die nächste Anti-Königsblau-Aktion von Großkreutz (stand vor seiner Karriere als Fan auf der Dortmunder Südtribüne), der sich offen zu seiner Schalke-Allergie bekennt: “Die sind mein Feindbild Nr. 1. Ich hasse Schalke wie die Pest!”

  • Wenn die ersten anderen TrashPortale auf das Thema anspringen (und dabei dankenswerterweise die Information unterschlagen, dass “kommt er ins Heim” eine vorgegebene Antwortmöglichkeit war), können Sie sich entspannt zurücklehnen und bis zum Derby über die “angeheizte Stimmung” schreiben.

Mit Dank an Marcus H.

Bild  

Entsetzliche Bilder, exakt so dargestellt

Am 6. April 2008 veröffentlichten “Bild am Sonntag” und Bild.de das Foto einer nackten Kinderleiche auf einem Obduktionstisch: Es zeigte die fünfjährige Lea-Sophie, die ihre Eltern verhungern ließen. Die Redaktion, die behauptete, lange über das Für und Wider der Veröffentlichung diskutiert zu haben, hatte ihre Entscheidung damals mit dem Satz begründet: “Denn wir wollen, dass so etwas nie wieder in Deutschland passiert!” (BILDblog berichtete).

Genützt hat der selbstlose Einsatz nichts: Am 11. März 2009 fanden Notärzte und Polizisten in einer Hamburger Wohnung die Leiche der neun Monate alten Lara-Mia — “jämmerlich verhungert”, wie “Bild” am Samstag in der Hamburger Regionalausgabe kommentierte.

Der Text von Christian Kersting beginnt mit den Worten:

Die Bilder sind entsetzlich, brennen sich unauslöschlich ins Gedächtnis ein.

Und weil “Bild” die Gedächtnisse von Notärzten, Polizisten und anderen mit dem Fall betrauten Personen offenbar nicht ausreichten, hat man sich dazu entschieden, das Bild (“Der kleine Körper ist völlig abgemagert”) auch noch in die Gedächtnisse der Leser am Frühstückstisch einzubrennen.

Dabei war “Bild” natürlich nicht so blöd, noch einmal Fotos unbekannten Ursprungs zu verwenden und damit eine weitere – hilf- wie folgenlose – “Missbilligung” des Deutschen Presserats wegen Verletzung der Würde des Opfers zu riskieren — Nein!

Man gab einfach eine fast fotorealistische Zeichnung in Auftrag, die die Fotos brutalst möglich detailreich wiedergibt, großflächig in der Zeitung und auf der Startseite von Bild.de:

Wie viel Schuld tragen die Behörden am Tod der kleinen Lara-Mia?

Neben der Zeichnung steht:

BILD-Zeichnerin Nora Nowatzky hat die Situation exakt so dargestellt, wie sie auf den Fotos in den Akten zu sehen ist. Der kleine Körper ist völlig abgemagert. So fanden Notärzte und Polizisten das Mädchen.

Wie “Bild” an diese Fotos gekommen ist, konnten Polizei und Staatsanwaltschaft auf unsere Anfrage nicht erklären — nur, dass sie nicht zur Veröffentlichung bestimmt gewesen seien.

Mit Dank an Daniel K., Eagle und Sarah H.

Scripted Reality, Homestorys, Haie

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “RTL, eine Millionärin und ihre falsche Villa”
(dwdl.de, Thomas Lückerath)
Thomas Lückerath vermutet, dass sich bei RTL die Scripted Reality auf den Infobereich ausgedehnt hat. RTL dagegen betont ausdrücklich, “dass die Wochenserie ‘Millionärin sucht Mann’ nicht geskriptet gewesen sei”. Bei einem Infotainment-Magazin wie “Punkt 12” schliesse sich das von selbst aus.

2. “Am besten gehirnamputiert”
(berlinonline.de, David Sarkar)
Ein Besuch in einer Berliner Agentur, die Laiendarsteller an Scripted-Reality-Formate vermittelt.

3. “WISO ermittelt – ziemlich oberflächlich”
(2nd-interactive.com, Volker Walter)
Volker Walter, Professor für Medien und Kommunikation, kritisiert die “offensichtlich einseitige Berichterstattung” eines Beitrags der ZDF-Sendung WISO über die Diät Metabolic Balance.

4. “Wie die Literaturkritiker überfahren werden”
(welt.de, Uwe Wittstock)
Uwe Wittstock fordert etwas Nachsicht für Literaturkritiker, die auch nicht immun seien gegenüber den Tricks der Verlage. Zudem neige der etablierte Kulturbetrieb dazu, rebellische Naturen zu bejubeln, aufgrund eines schlechten Gewissens in Anbetracht der eigenen Etabliertheit: “Einer der typischen Zornigen Jungen Männer der Gegenwartsliteratur war Rainald Goetz. Ich habe seinerzeit seinen Roman ‘Kontrolliert’ in hohen Tönen gelobt. Inzwischen bedeutet mir das Buch literarisch lange nicht mehr so viel wie damals: Ich fürchte, ich habe zu einem Gutteil das Image von Goetz rezensiert, nicht seinen Roman. Ob es einigen der Hegemann-Rezensenten ähnlich ging?”

5. “Homestory und so – Wie sich das Feuilleton verändert”
(freitag.de/community/blogs, Ingo Arend)
Ingo Arend bemerkt vermehrt Homestorys in den Feuilletons: “Wie jemand aussieht, mit wem er wohnt, was er gern isst – alles scheint mehr über seine Kunst auszusagen, als diese selbst.”

6. “Wiesbadenerin von Hai attackiert”
(der-postillon.com)
“Augenzeugenberichten zufolge attackierte der Tigerhai die Frau, als diese den Wiesbadener Marktplatz überqueren wollte.”

Samantha Fox ist ein Teekesselchen

Als Teil seiner, äh, Berichterstattung über die gestern in London verliehenen Brit Awards zeigt stern.de Bilder vom Roten Teppich und lässt die Leser über das Aussehen der Stars abstimmen.

Und obwohl man von der Sängerin Samantha Fox wirklich schon lange nichts mehr gehört hat…

…bis sie sechzig wird, ist es noch sechzehn Jahre hin. Der diensthabende Klickstreckenbefüller hat auf der Suche nach Informationen über die ihm offenbar unbekannte Frau die falsche “Samantha Fox” erwischt.

Danke an Sandra S.!

dpa  

Auch Löschen will gelernt sein

Nachdem Bundespräsident Horst Köhler am Aschermittwoch das umstrittene Zugangserschwerungsgesetz zur Einführung von Websperren gegen Kinderpornografie unterzeichnet hat, gibt es ungewohnte Allianzen — so zumindest in der Zusammenfassung der dpa von heute Nachmittag:

Nach dem Regierungswechsel vereinbarte Schwarz-Gelb im Koalitionsvertrag, dass Union und FDP ein Löschen der Seiten bevorzugen. Jedoch stößt auch dies auf Kritik: So erklärte der Bund Deutscher Kriminalbeamter vor wenigen Tagen, Löschen sei nicht wirkungsvoller als Sperren. Auch die Piratenpartei, in der sich viele Netzaktivisten engagieren, bezeichnete das Löschen als überflüssig.

Das wäre allerdings höchst erstaunlich, schließlich hatte die Piratenpartei im vergangenen Jahr sogar zu einer Demonstration unter dem Motto “Löschen statt Sperren” aufgerufen. Woher kommt der plötzliche Sinneswandel?

Aufklärung bietet der Blick in eine dpa-Meldung vom 9. Februar:

Doch der neue Plan, Internetseiten mit Fotos und Videos sexuell missbrauchter Kinder, zu löschen, greift aus Sicht von Netzgemeinde und Polizei ebenfalls zu kurz. “Das ist total überflüssig und lächerlich”, sagte der Sprecher der Piratenpartei, Simon Lange. Bestehende Gesetze reichten bereits aus, um Kinderporno-Seiten zu löschen.

So wurde aus einer Opposition gegen ein Löschgesetz die pauschale Ablehnung des Löschens von Kinderpornografie im Internet. Da hat wohl jemand zu oft auf die Löschtaste gedrückt.

Nachtrag 19:45 Uhr: Nach eiliger Krisenkommunikation hat die dpa am Abend zwar nicht wie gewünscht eine Richtigstellung veröffentlicht, aber immerhin eine Meldung, in der die Position der Piratenpartei nicht ins Gegenteil verkehrt wird:

Die Piratenpartei, in der sich viele Netzaktivisten engagieren, erklärte am Mittwoch in Berlin, es sei “unfassbar”, dass Köhler das Gesetz unterschrieben habe. Sprecher Simon Lange kritisierte zudem, für das Löschen von Seiten brauche man keine neuen Gesetze. Die bisherige Gesetzeslage erlaube dies bereits.

Hinweise auf eine vorher falsche Berichterstattung fehlen. Und so ist es auch kein Wunder, dass viele Tageszeitungen morgen mit der sinnentstellten Kurzfassung erscheinen werden. So heißt es zum Beispiel im “Tagesspiegel” von morgen:

Politische Meriten sind mit dem Thema also schwer zu erwerben. Die Piratenpartei erklärt, auch Löschen bringe nichts.

Nachtrag, 18.2.2010: Auf unsere Nachfrage erklärt die dpa, dass sie die Meldung nach Leserbeschwerden korrigiert und eine Berichtigung verschickt hat:

Berichtigung: Im letzten Absatz wurde der dritte Satz dahingehend geändert, dass die Piratenpartei ein Lösch-Gesetz rpt Lösch-Gesetz (nicht: das Löschen) für überflüssig hält. Damit wird klargestellt, dass die Partei nicht gegen das Löschen der Internetseiten ist, sondern gegen ein neues Gesetz zum Löschen der Seiten, weil die bestehenden Gesetze ausreichend seien

Warum diese Korrektur im Basisdienst der Agentur nicht angekommen ist, war bisher nicht zu klären. Die oben verlinkte Zusammenfassung im Angebot der “Märkischen Allgemeinen” wurde inzwischen durch einen korrekten Text ersetzt – der Leser wird über die nachträgliche Änderung allerdings nicht informiert.

Blättern:  1 2 3 4 ... 7