Archiv für Dezember 22nd, 2009

AFP, AP, Bild  etc.

Journalistische Kurzzeitgedächtnisarbeiter

Diese Schlagzeile ist aus der “Bild” vom 20. Mai 2009:

Und diese aus der “Bild” von heute:

Und wenn Sie jetzt meinen, dass dieser Herr Schäfer von der “Bild”-Zeitung entweder sehr leicht zu schockieren ist oder ein sehr schlechtes Gedächtnis hat (oder beides), dann haben Sie natürlich Recht.

Allerdings ist er damit nicht allein. Weil die alte Geschichte, dass auf viele Kurzarbeiter Steuer-Nachzahlungen zukommen, heute noch einmal auf der Titelseite der “Bild”-Zeitung steht, halten sie diverse andere Medien reflexartig für eine Neuigkeit. Die Nachrichtenagentur AFP meldete eilig noch mitten in der Nacht: “‘Bild’: Hunderttausende Kurzarbeiter müssen Steuern nachzahlen”. Die Konkurrenz von AP, die schon im Mai unter Berufung auf “Bild” berichtet hatte: “Hunderttausende Kurzarbeiter erwartet höhere Steuerlast”, titelte diesmal: “Finanzamt bittet Hunderttausende Kurzarbeiter zur Kasse”.

“Focus Online”, “Spiegel Online” — sie alle trotten kopflos hinterher und meldeten unter Bezug auf “Bild” aufgeregt, was lange bekannt ist und in den vergangenen Monaten vielfach aufgeschrieben wurde.

Und wetten? Sie würden es jederzeit wieder tun.

Mit großem Dank an das Finblog!

Brittany Murphy und das Schweinegrippenfoto

Immer wenn ein Star stirbt und die Todesursache nicht binnen fünf Minuten gekärt ist, fühlen sich die (Boulevard-)Medien aufgefordert zu spekulieren, was das Zeug hält. Beim Tod der amerikanischen Schauspielerin Brittany Murphy ist das nicht
anders. Das neueste Gerücht besagt, dass das Immunsystem der 32-Jährigen durch die Schweinegrippe geschwächt gewesen sei.

Bild.de beteiligt sich unter der Überschrift “Medien spekulieren, dass Brittany Murphy Schweinegrippe gehabt haben könnte” an den Spekulationen und zeigt auf der Startseite ein Foto von Brittany Murphy, auf dem sie tatsächlich schwer angeschlagen wirkt:

Was die meisten Leser vermutlich nicht wissen und Bild.de ihnen nicht verrät: Es handelt sich um kein aktuelles Foto, sondern um eine acht Jahre alte Aufnahme aus dem 2001 gedrehten Film “Spun”. Darin spielt Murphy eine Drogenabhängige. Und deshalb sieht sie auf dem Bild so aus.

Korrespondenz-Klitterung

Kai Diekmann, Nachwuchs-Komiker und Chefredakteur der “Bild”-Zeitung, ärgert sich, dass das “Medium Magazin” Stefan Kornelius von der “Süddeutschen Zeitung” mit einem Preis für Enthüllungen über den tödlichen Luftangriff in Kundus würdigt, der seiner Meinung nach der “Bild”-Redaktion gebührt. Diekmann findet das Votum der Jury lachhaft und lehnt es deshalb ab, bei derselben Gelegenheit in der Kategorie “Unterhaltung” für sein oft für selbstironisch gehaltenes Blog ausgezeichnet zu werden.

Das teilte er dem “Medium Magazin” gestern in einem Brief mit, den er heute in seinem Blog veröffentlichte und der angesichts der Forderung, die Recherchequalität seiner Zeitung anzuerkennen, einen lustigen kleinen Fehler enthält. Diekmann schreibt den Namen seines “von mir als guten Freund geschätzten Kollegen” falsch:

Das ist ein bisschen peinlich, weshalb Diekmann inzwischen so tut, als sei ihm das gar nicht passiert. Ein paar Stunden später sah derselbe Brief von gestern in seinem Blog plötzlich so aus:

Welche Fassung Diekmann tatsächlich losgeschickt hat, weiß man beim “Medium Magazin” noch nicht. Es ist natürlich auch völlig egal. Bemerkenswert ist nur, dass Diekmann sich zwar über anderer Leute Tipp- und Namensfehler mokiert, seine eigenen aber einfach unauffällig nachträglich ungeschehen macht.

Bild  

Eheleute Deutsche und Commerz Bank

Borussia Dortmund feierte am Samstag das hundertjährige Bestehen des Vereins — natürlich auch ein großes Thema für die Ruhrgebietsausgabe von “Bild”.

Um zu zeigen, wie gut sich die Zeitung im Umfeld des Vereins auskennt, erwähnt sie auch Gäste, die dem ungeübten Beobachter vielleicht nicht so ohne Weiteres ins Auge gefallen wären:

Auch unter den rund 1000 Ehrengästen: Investmentbanker Morgan Stanley, der sich ausgiebig mit Watzke (50) unterhielt.

Und damit man sich auch mal ein Bild davon machen kann, wie dieser Herr Stanley so aussieht, hat Bild.de ein Foto von ihm in die Bildergalerie vom Festakt gepackt:

BVB-Boss Hans-Joachim Watzke mit Investmentbanker Morgan Stanley (l.) und dessen Frau

Die Sache hat nur einen kleinen Haken: Morgan Stanley ist der Name einer Bank — und die wurde nicht von einem Mr. Morgan Stanley gegründet, sondern von Henry S. Morgan und Harold Stanley. Das war 1935. Morgan starb 1982, Stanley bereits 1963.

Wer der Herr auf dem Foto wirklich ist, haben wir bisher leider nicht herausfinden können.

Mit Dank an Stephan und Carmo C.

Nachtrag, 16.30 Uhr: Herr Stanley ist aus der Bildergalerie auf Bild.de verschwunden. Im Text wird er aber nach wie vor als Ehrengast geführt.

“LG Klaus”

Am vergangenen Freitag wurde eine Lehrerin in Bremen vor ihrem Wohnhaus erstochen. Weil es sich bei dem Täter offenbar um einen ihrer früheren Mitschüler Schüler handelt, der als “psychisch auffällig” gilt und “massiv” für das spätere Opfer “schwärmte”, berichten “Bild”, “Bild am Sonntag” und Bild.de ausführlich über den Fall.

Bebildert sind die Artikel mit einem Foto der toten Lehrerin, das erstaunliche Ähnlichkeit mit einem Foto aufweist, das an ihrem Gymnasium inmitten von Blumen und Kerzen zum Gedenken an die Verstorbene abgelegt wurde.

Am Samstag richtete die Schule ein Online-Kondolenzbuch für die Tote ein. Als einer der Ersten meldete sich 40 Minuten später ein Mann zu Wort, bei dem es sich offensichtlich um Klaus Schlichtmann handelte, Chefreporter der “Bild am Sonntag”.

Er hinterließ seine E-Mail-Adresse und schrieb:

Klaus Schlichtmann schrieb: Auch mein Mitgefühl gilt den Angehörigen und Freunden von Frau Block sowie den Schülern, die sie kennen- und schätzen gelernt haben.
Hat denn jemand eine Vorstellung, was hinter dieser schockierenden Tat stecken könnte (Motiv) bzw. gibt es Hinweise auf den ehemaligen Schüler, der zum Mörder wurde ...? LG Klaus
Admin: Emaillink wurde entfernt.

Auch eine Art, seine Anteilnahme zu zeigen.

Mit Dank an die vielen Hinweisgeber.

Paid Content, ZDFneo, Krawatten

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Doppelt missverstehen heißt trotzdem nicht verstehen”
(print-wuergt.de, Michalis Pantelouris)
Langer, aber lesenswerter Artikel über die Mühen mit dem Online-Journalismus: “Wenn man sich ansieht, wie viele Millionen der Aufbau der Online-Redaktionen und der Seiten, die sie betreuen, bis heute gekostet hat, ist es fast unerträglich zu sehen, wie wenig dabei herausgekommen ist. Einfach nur, weil es niemand gewagt hat, sich auf das zu konzentrieren, was seine Marke ausmacht.”

2. “RSS-Feeds: Eine Option für Paid Content?”
(netzwertig.com, Martin Weigert)
Martin Weigert liefert einen Paid-Content-Vorschlag: “Warum bieten führende Anbieter von journalistischen Angeboten ihren Lesern nicht an, vollständige RSS-Feeds gegen ein monatliches Entgelt zu abonnieren?”

3. “10 noch erwähnenswerte Flops 2009”
(fernsehkritik.tv, Video, ca. 15 Minuten)
10 TV-Flops 2009 mit “Zimmer frei!”, dem TV-Duell zwischen Merkel und Steinmeier, Til Schweiger, Johannes B. Kerner und, überraschend auf Platz 1, ZDFneo. Die Website Fernsehkritik.tv ist derzeit übrigens dazu gezwungen, Inhalte offline zu stellen, siehe dazu den Beitrag “Einfach mal den Stecker gezogen…”.

4. “Dirk Mantheys Medientrends für 2010”
(meedia.de, Dirk Manthey)
“1. Paid Content wird viele Enttäuschungen bringen, 2. Markenartikel werden auf breiter Front ins Internet gehen, 3. Der ganz große Trend heißt Mobiles Internet, 4.Das iPhone wird weltweit Smartphone Nr. 1 – trotz Google, 5. Das Print-Sterben wird auch 2010 weitergehen, 6. Verlage konzentrieren sich auf Internet-Only-Produkte, 7. Digitale Lesegeräte schaffen 2010 den Durchbruch, 8. Der Widerstand gegen Google dürfte stärker werden, 9. Echtzeitsuche wird keine große Rolle spielen, 10. Noch ein Winner für 2010: Foursquare”

5. “Jahrelange Desinformation”
(spiegelblog.net, T. Engelbrecht)
“Wie der SPIEGEL nun endlich realisiert, dass die ‘Spanische Grippe’ von 1918 nicht allein durch ein Virus verursacht worden sein kann.”

6. “Guttenberg-Krawatten-Gedächtnis-Spiel”
(extra3.blog.ndr.de, Pausenbrot)
Unter der investigativen Lupe der Satiresendung “Extra 3” sind die Krawatten von Verteidigungsminister zu Guttenberg, auf denen süße, harmlose Tiere zu finden sind. “Hoppelhäschen und Tintenfischbabys, die sich fröhlich tanzend an den Ärmchen halten, nehmen auch aus den härtesten Verhandlungen ein wenig Schärfe.” Erst kürzlich widmete sich Kurt Kister in der “Süddeutschen Zeitung” den Kleidern des Ministers.