Archiv für Dezember 1st, 2009

tz  etc.

Peter Doherty singt Medien in Nazirausch

— Ein Gastbeitrag von Daniel Erk

Seit der britische Sänger und Gitarrist Peter Doherty mit Modell Kate Moss liiert war, ist er für die Boulevardpresse faktisch Freiwild. Wo immer der durchaus von Drogen- und Alkoholsucht geplagte Sänger der Babyshambles auftritt (oder eben nicht auftritt), reibt sich eine Boulevardjournalistin die Hände — denn so einfach kommt man selten an eine Geschichte, in deren Überschrift man ungestraft und ungeprüft von einem “Skandalrocker” wechselweise auch “Rüpelrocker” schwadronieren darf. Und wenn auf diesen ohnehin schon absurden Nährboden der Erregung noch ein wenig Nazismus fällt, dann macht die deutschsprachige Boulevardpresse offenbar gleich den Schampus auf und die Lexika zu. Anders lässt sich kaum erklären, welch einem skandalgetünchten Taumel der hiesige Gossenjournalismus in den letzten Tagen versank.

“Nazi-Hymne im BR-Funkhaus” fantasierte die Münchner Boulevardzeitung “tz”, um sich in ihrem Bericht in einen wahren Skandalrausch zu schreiben:

Noch mal grölt [Peter Doherty] “Deutschland, Deutschland über alles”. Diese erste Strophe des Deutschlandliedes war unter Hitler zur Nationalhymne gemacht worden. Diese Nazi-Hymne erklingt im Bayerischen Rundfunk!

Der schweizerische “Blick” will gar eine “Hymne an Hitler” vernommen haben.

Überall sonst tut man sich Doherty und Nationalsozialismusverdacht zum Trotz deutlich schwerer, das Wesen dieses Skandals zu erläutern: Die “Bild”-Zeitung konnte gerade noch einen “Eklat” ausmachen, ohne allerdings erklären zu können, worin dieser denn nun bestanden haben soll. Die Nachrichtenagentur dpa konnte sich gerade noch zur wenig skandalträchtig klingenden Schlagzeile “Doherty singt live im Radio Deutschlandlied” durchringen. Ähnlich vage vermeldete die Nachrichtenagentur AFP am Montag “Rocker Doherty stimmt bei Konzert erste Deutschlandlied-Strophe an”, liefert aber freundlicherweise in der Dachzeile einen Baukasten mit den Stichworten “D/Musik/Leute/Nationalsozialismus” — auf dass ich jede Redaktion ihren Skandal selber bastle.

Noch ahnungsloser als die deutschen Boulevardmedien erwiesen sich nur die Schreiber des britischen Popmagazins “NME”, die fantasierten:

Doherty’s performance at they [sic!] city’s On3 Festival was reportedly cut short when he began singing a right-wing version of the German national anthem “Das Deutschlandlied” that has been prohibited since the end of the Second World War.

(Dohertys Auftritt beim Münchner On3-Festival wurde laut Berichten verkürzt, als er anfing, eine rechte Version der deutschen Nationalhymne ‘Das Deutschlandlied’ zu singen, die seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges verboten ist.)

Was war passiert? Peter Doherty, der derzeit als Solokünstler durch Deutschland tourt, war als Überraschungsgast beim Münchener “On3”-Festival des gleichnamigen Jugendsenders des Bayerischen Rundfunks eingeladen worden. Wie nüchtern Doherty zu diesem Zeitpunkt gewesen sein mag, darüber kann nur spekuliert werden. Allerdings war er offenbar klar genug, um zu verstehen, dass ein Teil des Publikums — vor allem wohl die Fans der Deutschrockband Kettcar — seinen Auftritt nicht sonderlich goutierte, worauf sich eine Art Dialog entwickelte zwischen dem zeitweilig in Krefeld aufgewachsenen und also des Deutschen mächtigen Sänger (“Ich spreche Deutsch. Ich verstehe — ich bin kein Dummkopf”) und dem desinteressierten bis krakeelenden Publikum. In diese schon recht aufgebrachte Atmosphäre hinein, schrammelte Doherty die Akkorde der österreichischen Kaiserhymne und sang “Deutschland, Deutschland über alles. Das Publikum, zurecht empört und entnervt, begann zu buhen, so dass der Bayerische Rundfunk Dohertys Auftritt bald beendete.

Soweit, so banal. Ob der Fauxpas nun dem möglichen Delirium Dohertys, fehlender Sensibilität oder mangelndem Wissen zuzuordnen ist, darüber mag ja diskutiert werden. Dass es aber recht unwahrscheinlich ist, dass jemand wie Doherty, der die britische Anti-Rassismus-Initiative “Love Music, Hate Racism” unterstützt, mit nationalsozialistischem Gedanken- oder Kulturgut sympathisiert, das hätte man recherchieren können. Wenn man gewollt hätte.

Denn der Skandal liegt im Falle der ersten Strophe des Deutschlandliedes nicht im Gegenstand, sondern weitgehend im Auge der Betrachter. August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, der 1841 auf der damals britischen Insel Helgoland den Text des “Liedes der Deutschen” auf die Melodie der österreichischen Kaiserhymne schrieb, zu unterstellen, sein Lied sei “eine Hymne an Hitler” oder eine “Nazi-Hymne”, das trifft den Kern nicht. Mit gleichem Recht könnte man auch die Autobahnen als “Nazi-Straßen” oder “Wege für Hitler” bezeichnen. Zudem Hoffmanns “Lied der Deutschen” nicht von Hitler, sondern vom ersten demokratisch gewählten deutschen Kanzler Reichspräsidenten — dem SPD-Politiker Friedrich Ebert — zur Hymne gemacht worden war. Hätte Pete Doherty das Horst-Wessel-Lied angestimmt, ja, dann wären die Nazi-Hitler-Überschriften vielleicht gerechtfertigt gewesen. Hat er aber nicht.

So aber funktioniert die Dialektik der Aufregung: Weil sich das Große im Kleinen spiegelt und Mahner ein ständiges “Wehret den Anfängen” raunen, wird aus einer Mücke ein Tyrannosaurus Rex gemacht. Unter dem Banner von Wehrhaftigkeit und Aufklärung geistert dann der so schön gruselige Geist des Dritten Reiches durch die billigen Gazetten, selbst wenn er da so gar nichts zu suchen hat. Und ganz im Sinne der Aufmerksamkeit darf sich die Boulevardjournalistin zweimal freuen — einmal, wenn sie sich den Skandal herbeischwadroniert. Und einmal, wenn sich der Protagonist dann für den vermeintlichen Skandal entschuldigt. Und so geschah es, und sueddeutsche.de, “Focus Online”, “RP Online”, die “Welt”, die “tz” und all die anderen, sie hatten wieder eine Seite mit irgendeinem Unsinn gefüllt und zugleich das gute, aber unberechtigte Gefühl, etwas im Kampf gegen den Faschismus getan zu haben.

Bild  

Auspackhilfe für den Ausbrecher

Die Suche nach den beiden Schwerverbrechern, die am Donnerstag aus der Justizvollzugsanstalt Aachen ausgebrochen sind, hat in den letzten Tagen Polizei, Bevölkerung und vor allem Medien in Atem gehalten.

Noch bevor heute Morgen der zweite Ausbrecher gefasst werden konnte, machte “Bild” mit einer packenden Geschichte auf:

Der Ausbrecher packt aus! - Die Pistole kaufte ich im Knast - Ein Wärter gab mir den Schlüssel - Seinen Kollegen fesselten wir mit Handschellen

Drei Tage lang war er auf der Flucht, dann wurde Geiselgangster Michael Heckhoff (50) gefasst. Sein Komplize Peter Paul Michalski (46) ist weiter auf der Flucht. Zuletzt jagte ihn die Polizei in Gütersloh.

In BILD spricht Heckhoff über die unglaublichen Umstände seines Ausbruchs, erzählt, wie einfach Michalski und er entkommen konnten: “Die Waffe haben wir im Knast von einem Mitarbeiter gekauft!”

In einem fast ganzseitigen Artikel kommt Heckhoff ausführlichst in direkter Rede zu Wort, aber wie genau “Bild” an die Aussagen kam, lässt Autor Josef Ley offen.

Die Kölner Polizei reagierte auf die Veröffentlichung mit einer knappen Pressemitteilung:

Die Polizei hat den Text der BILD-Zeitung und das dort veröffentlichte Foto zur Kenntnis genommen. Wir müssen derzeit davon ausgehen, dass in dem Artikel Informationen verarbeitet sind, die unbefugt an die BILD-Zeitung gelangten.

Ein entsprechendes Ermittlungsverfahren wurde eingeleitet.

Ermittelt wird nach unseren Information zunächst einmal gegen Unbekannt.

Auf einer Pressekonferenz am Nachmittag sagte der Robert Deller, Pressesprecher der Staatsanwaltschft Aachen, ein Interview von “Bild” mit der Polizei oder dem Verhafteten Michael Heckhoff habe es “definitiv nicht gegeben”. Genauer ging er auf den Vorfall nicht ein, sagte aber, dass die (teilweise sehr detaillierten) Angaben von Heckhoff in “Bild” “nicht zutreffend sein” dürften.

Ebenfalls zum Thema:

  • blogmedien.de mit einem etwas anderen Schwerpunkt und einer persönlichen Dimension.

Mit Dank auch an die vielen Hinweisgeber.

Tages-Anzeiger, N24, Anklam

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Dürfen Zeitungen von Bloggern klauen?”
(teczilla.de, Bernd Kling)
Tagesanzeiger.ch schreibt einen Artikel offensichtlich aufgrund eines Blogeintrags von Teczilla.de: “Die Übernahmen durch den Tages-Anzeiger aber sind nicht etwa als Zitate gekennzeichnet, sondern erscheinen als eigene Leistung. Wenigstens eine freundliche Verlinkung zurück zur offensichtlich benutzten Quelle? Fehlanzeige, der anonyme (Um-)Schreiber lässt es einfach als sein ‘Werk’ erscheinen.”

2. “Offener Brief an den Vorstandsvorsitzenden Thomas Ebeling”
(nachrichtensindwichtig.blogspot.com)
Journalisten des TV-Senders N24 wenden sich gegen die Pläne von ProSiebenSat.1-Chef Thomas Ebeling, das Nachrichtenangebot drastisch zu kürzen, weil Nachrichten “nicht unbedingt” allen Zuschauern wichtig seien: “Diese Auffassung lehnen wir entschieden ab. Wir fordern, dass die größte private TV-Sendergruppe in Deutschland auch weiterhin ihrer Informationspflicht im Sinne des Rundfunkstaatsvertrages gerecht wird.”

3. “Sollten freie Journalisten auf Twitter aktiv werden?”
(frei.djv-online.de)
Ein frischer, allerdings von einer gewissen Twitter-Ängstlichkeit geprägter Beitrag im “DJV freienblog”. Freiberufler würden beim Twittern Gefahr laufen, “durch das offenherzige Freigeben der eigenen Bezugsquellen (die angezeigten Tweets, denen man folgt) wie auch der Abonnenten (derjenigen, die einem folgen) schnell kopierbar zu werden.”

4. “Ideologie statt Recherchen”
(nzz.ch, ras.)
Rainer Stadler glaubt, dass die Annahme der Volksinitiative “Gegen den Bau von Minaretten” teilweise den mehr ideologischen als genau recherchierenden Schweizer Medien geschuldet sei: “Die Medien schauten nicht so genau hin, weil sie annahmen, die Vernunft würde in dieser politischen Auseinandersetzung sowieso obsiegen.”

5. “Deutschland, entblättert”
(zeit.de, Anita Blasberg und Götz Hamann)
Journalismus unter Druck: “Etwas Grundlegendes geschieht, nicht nur in Anklam, sondern im ganzen Land. In bislang nicht gekanntem Umfang entlassen Zeitungsverlage ihre Leute, schließen ganze Redaktionen, lagern sie aus, ersetzen fest angestellte Redakteure durch billige Leihkräfte.”

6. “Information goes out to play”
(news.bbc.co.uk, David McCandless, englisch)
Man muss Statistiken nicht immer in Balken darstellen – hier ein paar Ideen, wie man das auch machen kann.