“Zeit”-Journalist Marc Brost hat daeinen Punkt: Wenn man Innenminister Horst Seehofer schon seine Aussage vorhält, wenn man aufgrund dieser Aussage seinen Rücktritt fordert, dann sollte man die Aussage zumindest richtig zitieren — das gilt für Journalistinnen und Journalisten genauso wie für jeden anderen.
Brost könnte mit seinem Doppel-Tweet allerdings gleichzeitig auch falschliegen. Es gibt Hinweise darauf, dass Seehofer beides gesagt hat: “Migration” als “Mutter aller Probleme” und die “Migrationsfrage” als “Mutter aller Probleme”.
Die “Rheinischen Post” veröffentlichte gestern ein Interview mit Horst Seehofer. Darin diese Antwort-Einwurf-Antwort-Kombination:
Seehofer Wir haben erstmals eine Partei rechts der Union, die sich mittelfristig etablieren könnte, ein gespaltenes Land und einen mangelnden Rückhalt der Volksparteien in der Gesellschaft. Glauben Sie, das hat alles nichts mit der Migrationspolitik zu tun?
Nicht nur.
Seehofer Natürlich nicht alleine. Aber die Migrationsfrage ist die Mutter aller politischen Probleme in diesem Land. Das sage ich seit drei Jahren. Und das bestätigen viele Umfragen, das erlebe ich aber auch in meinen Veranstaltungen. Viele Menschen verbinden jetzt ihre sozialen Sorgen mit der Migrationsfrage.
Also: “die Migrationsfrage ist die Mutter aller politischen Probleme in diesem Land.” Die “Rheinische Post” strich für ihre Überschrift die beiden Eingrenzungen “politischen” und “in diesem Land”:
Dass diese Schlagzeile in der weiteren Diskussion noch stärker eingedampft wurde zu “Migration ist die Mutter aller Probleme” liegt unter anderem auch an Michael Bröcker, dem Chefredakteur der “RP”, der das Interview zusammen mit seiner Kollegin Eva Quadbeck führte. Bröcker twitterte:
Man kann Seehofers Aussage im Interview mit der “RP” immer noch für völlig falsch halten und sie kritisieren. Sie zielt aber in eine etwas andere Richtung als “Migration ist die Mutter aller Probleme”.
An dieser Stelle könnte man also sagen, dass “Zeit”-Journalist Marc Brost mit seiner Kritik recht hat. Allerdings gibt es Hinweise darauf, dass Horst Seehofer beides gesagt haben soll, also: “die Migrationsfrage ist die Mutter aller politischen Probleme in diesem Land” und “Mutter aller Probleme ist die Migration”.
“Welt”-Journalist Robin Alexander schrieb bereits vorgestern am frühen Abend, also einige Stunden bevor das “RP”-Interview mit Seehofer erschienen ist, bei Twitter:
Natürlich gibt es da noch einen qualitativen Unterschied: Während das Zitat aus der “Rheinischen Post” direkt von Horst Seehofer stammt, zitiert Robin Alexander Teilnehmer einer CSU-Sitzung, die Seehofer zitieren. Durchaus möglich, dass die Sitzungsteilnehmer beim Weiterleiten “Migrationsfrage” zu “Migration” verkürzt haben. Wie schnell das passiert, haben wir ja gerade erst gesehen.
Nach gerade mal 50 Sekunden im Song “Wir” erklärt Nico von K.I.Z eigentlich alles, was “Bild”-Mitarbeiter über die Berliner Hip-Hop-Gruppe wissen muss:
Es liegt an eurem geistigen Fassungsvermögen,
wenn ihr bei K.I.Z nicht lacht, ihr Amöben.
“Bild”-Chefreporter Peter Tiede lacht ganz offenbar nicht bei K.I.Z. Stattdessen schreibt er solche Artikel:
Es geht um den K.I.Z-Auftritt am Montagabend beim Konzert #wirsindmehr in Chemnitz vor 65.000 Menschen. Tiedes Text ist auch bei Bild.de hinter der Paywall erschienen:
In Deutschland gibt es kaum eine Band, die in ihren Songs so viel Ironie, Sarkasmus, Satire, maßlose Übertreibungen und Parodien einbaut wie K.I.Z. Keine Frage, ihre Texte sind provokant. Aber eben immer mit mehreren Ebenen versehen. Die kann oder will Peter Tiede nicht erkennen.
Er macht es sich dabei ziemlich einfach. Zum Beispiel mit einer Zeile aus dem Song “Urlaub fürs Gehirn”, die “Bild” groß zitiert:
Ich schleich mich ein bei den Sarrazins, sechs Uhr, alles pennt noch,
Selbstmordattentat!
Tiede übersetzt das alles eins zu eins:
In Bezug auf Thilo Sarrazin rappen sie von einem “Selbstmord-Attentat”.
Und wie wollen die Jungs von K.I.Z dieses Selbstmordattentat begehen, Peter Tiede? Mit einem Sprengstoffgürtel? Einer Autobombe? Oder vielleicht doch durch eine geschickte Selbstexplosion, die durch ein ausgetüfteltes Gemisch von Cola und Mentos-Bonbons herbeigeführt wird?
Die Textstelle, die “Bild” und Tiede zitieren, endet nämlich gar nicht mit einem Ausrufezeichen nach “Selbstmordattentat”, sondern geht noch weiter:
Ich schleich mich ein bei den Sarrazins, sechs Uhr, alles pennt noch,
Selbstmordattentat, ich trink drei Liter Cola mit Mentos
Wer darin ernsthaft die Ankündigung eines Selbstmordattentats erkennt, denkt auch, dass “Titanic”-Mitarbeiter immer alles ernst meinen und beim “Postillon” richtige Nachrichten zu finden sind.
Tiede zitiert noch weitere Textpassagen von K.I.Z:
“Ich ramm die Messerklinge in die Journalisten-Fresse”
Und:
“Eva Herman sieht mich, denkt sich: ‘Was’n Deutscher!’/Und ich gebe ihr von hinten wie ein Staffelläufer/Ich fick sie grün und blau, wie mein kunterbuntes Haus/Nich alles was man oben reinsteckt, kommt unten wieder raus.”
Wie gesagt: Die Texte sind zweifelsohne provokant.
Beide zitierten Stellen stammen aus dem Song “Ein Affe und ein Pferd”. Ein Lied, das mit einer Pippi-Langstrumpf-Melodie beginnt, bei dem es im Refrain heißt: “Ich war in der Schule und habe nix gelernt, doch heute habe ich einen Affen und ein Pferd, eine Pferd und einen Affen, ein Pferd und einen Affen, ratatatatatatata, wer will was machen?” Im Video hüpft ein Pippi-Double rum, die K.I.Z-Mitglieder Nico, Tarek, Maxim und DJ Craft ziehen mit anderen “Taka-Tuka-Ultras” durch Berlin.
Viel deutlicher kann man nicht in andere Rollen schlüpfen. Aber das erkennt man natürlich nur, wenn man sich nicht dagegen wehrt, es zu erkennen.
Stattdessen legt Tiede zum Ende seines Artikels noch mal richtig los:
Der K.I.Z.-Auftritt: symptomatisch: “Gegen rechts” dürfen auch Linksradikale und Gewalt-Verherrlicher ran!
Wieder die Spaltung: rechts und links. Die richtige Antwort? Gab die SPD-Geschäftsführerin für Südwest-Sachsen, Sabine Sieble. Im Partei-Blatt “vorwärts” bemängelt sie schon vor dem Skandal-Auftritt: “eine militante Antifa”, dass “eine Band mit ihren Songtexten und Ansprachen alles tat, um das Motto ins Gegenteil zu verkehren”. Sieble: “Da habe ich geweint. (…) Ich habe aber in dem Moment geweint, als mir bewusst wurde, dass Chemnitz zu einem bloßen Austragungsort im Kampf um die Deutungshoheit eines tragischen Ereignisses wurde.”
Na, gemerkt? Sabine Sieble schriebt gar nicht über den Montag in Chemnitz und den Auftritt von K.I.Z. Peter Tiede deutet das an (“bemängelt sie schon vor dem Skandal-Auftritt”), gibt sich aber auch keine große Mühe, es zu verdeutlichen und klarzustellen, worüber Sieble wirklich schreibt. Ihr Text, aus dem der “Bild”-Chefreporter zitiert, ist schon am Montagmittag erschienen — also einige Stunden bevor K.I.Z sie zum Weinen hätte bringen können. Tatsächlich äußert sich Sieble über die Veranstaltung “Herz statt Hetze”, die bereits am Samstag in Chemnitz stattfand. Die Band, die sie erwähnt, muss eine andere sein, vermutlich Egotronic.
Dass K.I.Z in “Bild” und bei Bild.de nun als Hass-Botschafter und “Gewalt-Verherrlicher” dargestellt werden, ist übrigens etwas überraschend. Früher haben die “Bild”-Medien völlig anders über die Band geschrieben. Zum Beispiel als sie 2015 bei “Rock am Ring” aufgetreten ist:
★ Noch ein Gewinner des Wochenendes ★
Die deutsche Musik! Vor allem der Freitag zeigte, wie beliebt deutschsprachige Musik bei den Kids ist. (…)
Auch Acts wie “K.I.Z.”, “Trailerpark” und “Deichkind” bewiesen, dass wir in Deutschland absolute Weltspitze sind
K.I.Z — “Hurra, die Welt geht unter” ft. Henning May
Vor allem im Deutschrap tut sich politisch gerade etwas. Die Band K.I.Z. ist schon länger dafür bekannt, sich zu Gesellschaftsthemen zu äußern. Auf ihrem letzten Album “Hurra, die Welt geht unter” machen sie das sehr deutlich — vor allem zum Thema Flüchtlinge.
Die Berliner Hip-Hop-Band K.I.Z. hat Kultstatus. Unter anderem auch wegen ihrer Texte, die oft ziemlich weit unter die Gürtellinie gehen.
Als all diese Artikel erschienen sind, waren die K.I.Z-Songs “Ein Affe und ein Pferd” und “Urlaub fürs Gehirn” längst veröffentlicht. Die Texte der Lieder hat die “Bild”-Redaktion damals offensichtlich nicht gestört.
Dass das nun anders ist, liegt vielleicht aber auch gar nicht an den Texten. Der Artikel von heute ist nur der nächste in einer Reihe von Beiträgen, die das #wirsindmehr-Konzert am Montag in Chemnitz schlecht dastehen lassen.
Für die “Bild”-Redaktion und ihren Chef Julian Reichelt scheint es momentan kaum etwas Bedrohlicheres zu geben als eine Handvoll Bands und ein paar Solo-Musiker, die sich gegen rechten Hass und Neonazis stellen. Seit Tagen versuchen sie bei “Bild” und Bild.de krampfhaft, #wirsindmehr und die mitwirkenden Künstler zu diskreditieren.
Nachdem Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier auf seinem Facebook-Account #wirsindmehr bewarb, fragte “Bild” am Montag:
Während des Konzerts, bei dem 65.000 Menschen eine gute, friedliche Zeit hatten, ging es bei Bild.de um Probleme rund um das Konzert:
Nach dem Konzert verbreitete Julian Reichelt bei Twitter ein Gerücht über Jan Gorkow, den Sänger von Feine Sahne Fischfilet:
Der Tweet, auf den sich Reichelt dabei bezieht, stammt von einem NPD-Funktionär und Neonazi (über diese problematische Herkunft klärt der “Bild”-Chef natürlich nicht auf). Dieser hatte das Gerücht gestreut. Tatsächlich hat er das Foto, um das es geht, völlig aus dem Zusammenhang gerissen: Es ist ein Standbild aus einem Video, das die Band bei Instagram hochgeladen hat. Jan Gorkow zeigt dort nicht den Hitlergruß.
Nun könnte es sein, dass Julian Reichelt nicht in der Lage ist, zweieinhalb Minuten selbst zu recherchieren, sodass er bei Twitter um Hilfe bitten muss. Es kann aber auch sein, dass er sich lediglich dumm stellt, und es sich um einen in eine unschuldige Frage gekleideten Versuch handelt, ein bisschen mitzündeln zu können.
Am Dienstag fragte “Bild” dann noch einmal:
Gemeint war wieder Feine Sahne Fischfilet. In der Zwischenzeit titelte Bild.de:
Und heute dann eben die K.I.Z-Geschichte.
Wenn das so weitergeht, erfahren wir morgen noch, dass Casper, der ebenfalls in Chemnitz aufgetreten ist, in seinem Song “Sirenen” rappt: “Denn zehn Flaschen Wein könnten zehn Waffen sein”. Und übermorgen, dass Campino vor drei Jahren mal einen Strafzettel nicht bezahlt hat.
Manchmal schafft es die “Bild”-Redaktion, mit einem einzigen Wort für maximale Verwirrung zu sorgen. Dieser Teaser bei Facebook ist so ein Fall*:
1773 Likes, 199 Kommentare, 419 Mal geteilt. Geht ordentlich ab, die Geschichte — es ist ja auch unglaublich tragisch, dass der Junge positiv auf HIV getestet wurde. Bloß: Das wurde er gar nicht. Es ist nicht klar, ob das Kind sich angesteckt hat. Kann es noch gar nicht sein.
Ärzte haben bisher die Spritze und deren Inhalt getestet. Dabei wurden HI-Viren gefunden. Bei Bild.de steht:
Spritzen-Schock in Berlin-Kreuzberg! Auf einem Spielplatz ist ein fünfjähriger Junge auf eine blutige Kanüle getreten. Im Krankenhaus testeten die Ärzte sie auf HIV — positiv!
“sie”, nicht “ihn”.
Bei dem Jungen kann eine mögliche Ansteckung noch gar nicht festgestellt werden. Das steht auch bei Bild.de:
Per Schnell-Check, so die Mutter, sei festgestellt worden, dass in der Spritze HI-Viren gewesen seien. “Bei Hassan kann eine Infektion frühestens in sechs Wochen festgestellt werden.”
Jens Petersen (48), Sprecher der Berliner Aids-Hilfe erklärt: “So lange braucht der Körper, bis er Antikörper gegen das Virus bildet, die dann im Blut nachgewiesen werden können.” Auf eine vierwöchige prophylaktische Behandlung mit HIV-Medikamenten, die starke Nebenwirkungen haben, verzichten die Ärzte.
Petersen: “Das Virus ist außerhalb des Körpers nicht lange überlebensfähig, die Ansteckungswahrscheinlichkeit gering. Es müsste sich schon um eine Spritze mit ganz frischem Blut gehandelt haben.”
Das alles erfährt allerdings nur, wer ein “Bild plus”-Abo hat. Für alle anderen gibt es lediglich den falschen Facebook-Teaser.
*Nachtrag, 16:59 Uhr: “Bild” hat auf unsere Kritikreagiert und den Teaser bei Facebook angepasst. Dort steht nun:
Im Krankenhaus testeten die Ärzte das Blut an der Spritze auf HIV — positiv! Eine Ansteckungswahrscheinlichkeit sei zwar “gering”, ob sich der Junge infiziert hat, kann aber frühestens in einigen Wochen festgestellt werden.
Einen Hinweis darauf, dass da mal was falsch war, gibt es leider nicht.
Nachtrag, 17:12 Uhr: “Bild” hat auf unsere erneute Kritikreagiert und klärt nun in einem Kommentar unter dem Facebook-Post auf:
Wir hatten im Teaser des Artikels ursprünglich geschrieben, dass der Junge positiv auf HIV getestet wurde. Das war nicht korrekt. Vielmehr wurden an der Spritze wurden HI Viren gefunden. Wir haben den Teaser oben korrigiert.
Nachtrag, 14. September: Der Verein Berliner Aids-Hilfe hat bereits am 6. September eine Pressemitteilung zur Berichterstattung von “Bild” und “B.Z.” herausgegeben. Darin heißt es unter anderem:
In dem Artikel macht die B.Z. in ihrer Überschrift auf Seite 1 daraus: “Berliner Junge (5) tritt in HIV-verseuchte Spritze / Aids-Angst auf dem Spielplatz”, die BILD-Zeitung übertitelt: “Drama auf Berliner Spielplatz / Kind tritt in HIV-verseuchte Drogen- Spritze”.
Mit dem heutigen Wissensstand zu HIV, den Übertragungswegen und den Behandlungsmöglichkeiten ist eine solche Berichterstattung unangemessen und unhaltbar. Die Berichte treffen keine Unterscheidung zwischen einer HIV-Infektion und einer Aids-Erkrankung. Vielmehr suggerieren sie, dass man durch den Stich an einer Nadel mit Blutresten, an der HIV-Antikörper nachgewiesen werden, unmittelbar an Aids erkranken könne. Tatsächlich ist Aids vielmehr die Folge einer langjährig unbehandelten HIV-Infektion.
Dazu sagt die Geschäftsführerin der Berliner Aids-Hilfe e.V. Ute Hiller: “Diese Art der Berichterstattung macht mich fassungslos. Die Schlagzeilen sind aufhetzend und wie aus der Zeit gefallen. Sie schüren Ängste und schlagen in die Kerbe der schlimmsten Diffamierungen von HIV-positiven Menschen, wie wir sie in den 1980er Jahren gesehen haben. Wir wissen es heute viel besser: HIV zerfällt mit dem Kontakt von Sauerstoff. HIV kann nicht durch getrocknetes Blut an Spritzennadeln weitergegeben werden. Offensichtlich haben auch die behandelnden Ärzte, daher auf die Einleitung einer Postexpositionsprophylaxe verzichtet.”
Und:
Als Berliner Aids-Hilfe klären wir zu Übertragungswegen und Behandlungsmöglichkeiten auf. Wir treten dafür ein, dass Menschen mit HIV nicht länger diskriminiert und stigmatisiert werden. HIV-positive Menschen unter erfolgreicher antiretroviraler Therapie sind nicht ansteckend und weit entfernt von einer Aids-Erkrankung. Sie haben dank der Medikamente zudem eine gleiche Lebenserwartung wie Menschen ohne HIV. Das ist die Botschaft, die es zu verbreiten gilt – anstelle von Panikmache und reißerischen Titeln einer rückwärtsgewandten Berichterstattung.
Die Berliner Aids-Hilfe stellt klar:
Das HI-Virus wird bei Kontakt mit Sauerstoff zerstört. Getrocknetes Blut ist nicht infektiös. Für ganz Deutschland ist kein Fall dokumentiert, bei dem sich ein Mensch an einer Spritze mit getrocknetem Blut mit HIV infiziert hat.
Die Berliner Aids-Hilfe e.V. legt Beschwerde gegen die B.Z. und gegen die BILD-Zeitung beim Deutschen Presserat ein.
Aber Google! Google war 2014 schon 397 Billionen Dollar wert. Das behauptet Bild.de jedenfalls seit gestern Abend:
2014 beträgt der Börsenwert 397 Billionen Dollar ∙ Viele Arbeitnehmer, die von Anfang an dabei waren, werden über Nacht Millionäre
Wir wissen nicht, wo die Redaktion ihre “Chronik” zum Google-Geburtstag abgeschrieben hat. Aber die Quelle dürfte englischsprachig gewesen sein. Und der anonyme Bild.de-Autor dürfte nicht gewusst haben, dass das englische “billion” im Deutschen “Milliarde” heißt, und das deutsche “Billion” im Englischen “trillion”.
Als Bundeskanzlerin Angela Merkel vergangene Woche verschiedene afrikanische Länder besuchte, ging es für “Bild”, Bild.de und “Bild”-Parlamentsbüro-Leiter Ralf Schuler vor allem um eine Frage:
Die Dringlichkeit dieser Frage unterstreicht Schuler unter anderem mit dieser Aussage:
Aber es ist auch ein Wettlauf gegen die rasant steigenden Geburtenraten, zwischen fünf und sieben Kinder sind üblich.
Das ist schlicht falsch.
Es gibt kein afrikanisches Land, in dem die Geburtenrate “rasant steigt” (wobei Schuler sowieso wohl eher die Fruchtbarkeitsrate und nicht die Geburtenrate meint). Im Gegenteil: Die Geburtenraten auf dem afrikanischen Kontinent gehen seit Jahren und Jahrzehnten zurück. Für die drei Länder Senegal, Ghana und Nigeria, in die Ralf Schuler die Bundeskanzlerin bei ihrer Reise begleitet hat, sieht das laut Weltbank so aus:
Schulers Behauptung, dass “zwischen fünf und sieben Kinder” üblich seien, passt auch nicht mit den vorliegenden Statistiken zusammen. Laut Weltbank hatten 2016 nur zwölf der 54 afrikanischen Länder (mit der nur teilweise anerkannten Westsahara sind es 55) eine Fruchtbarkeitsrate von über fünf: Niger (7,2), Somalia (6,3), Demokratische Republik Kongo, Mali (je 6,1), Tschad (5,9), Burundi, Angola (je 5,7), Uganda (5,6), Nigeria (5,5), Gambia, Burkina Faso (je 5,4) und Mosambik (5,2). Im “World Factbook” der CIA, wo es bereits die geschätzten Zahlen für 2017 gibt, sind es 13: Niger (6,5), Angola (6,2), Mali, Burundi (je 6,0), Somalia (5,8), Burkina Faso, Uganda (je 5,7), Sambia (5,6), Malawi (5,5), Mosambik, Südsudan, Nigeria und Liberia (je 5,1). Üblich ist also eine Fruchtbarkeitsrate von weniger als fünf Kindern.
Bevor man mit großen Fragen (etwa: “Kann Merkel in Afrika Flüchtlinge aufhalten?”) in den Diskurs eisnteigen will, sollte man vielleicht erstmal die kleinen Fakten richtig haben.
“Bild”-Chef Julian Reichelt ist wütend, und schuld ist mal wieder ein Gerichtsurteil:
(Unkenntlichmachung durch uns.)
Dafür gibt’s selbstverständlich volle Populismuspunktzahl und reichlich Applaus von der Gefolgschaft: Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Beitrags gab es für Reichelts Wut-Spruch 548 Retweets und 1375 “Gefällt mir”-Angaben. Einer von Reichelts erfolgreicheren Tweets.
Was kaum noch jemanden — und Julian Reichelt schon gar nicht — zu interessieren scheint: Die Aussage des “Bild”-Chefs ist mindestens verzerrend, wenn nicht falsch.
Dass der nun verurteilte Abdul D. bei seiner Tat “volljährig” war, ist nicht so sicher, wie Reichelt tut. Die für den Fall zuständige Staatsanwaltschaft hatte ein Gutachten in Auftrag gegeben, mit dem D.s Alter festgestellt werden sollte. Nach Untersuchungen von Schlüsselbein, Handwurzel und Gebiss kamen die Gutachter zu dem Ergebnis, dass D. vermutlich etwa 20 Jahre alt ist, auf jeden Fall aber mindestens 17,5. Aufgrund der Unsicherheit entschied das Landgericht Landau, nach dem Grundsatz “Im Zweifel für den Angeklagten”, beim Prozess das Jugendstrafrechtanzuwenden.
Dass Abdul D. “ein Kind ermordet” habe, wie Julian Reichelt schreibt, ist mindestens für diejenigen, die sich mit dem Fall nicht so gut auskennen, ebenfalls verwirrend. Das Opfer war eine 15-jährige Jugendliche, was den Tod des Mädchens natürlich nicht weniger schlimm werden lässt. Mit der Verwendung des Wortes “Kind” verleiht Reichelt seinem Tweet aber noch mehr Wut-Potential.
“Die mögliche Höchststrafe”, die Julian Reichelt mindestens indirekt fordert, liegt im Jugendstrafrecht bei zehn Jahren Haft. Abdul D. hatte zu Prozessbeginn ein Geständnis abgelegt. Das könnte ein Grund fürs Gericht gewesen sein, nicht die Höchststrafe zu verhängen, sondern 8,5 Jahre Gefängnis.
Die Antwort auf Julian Reichelts Frage “Wie soll man bei so einem Urteil nicht wütend werden?” wäre, all das zumindest verstehen zu wollen.
Was viele ja nicht wissen: Die “Bild”-Medien wollen mit ihrer realistischen Skandal-Berichterstattung eigentlich nur aufrütteln, im besten Fall jene, um die es darin geht. Zum Beispiel Jan Ullrich. “Bild”, “Bild am Sonntag” und Bild.de haben Artikel um Artikel über den früheren Rad-Profi rausgehauen, allein bei Bild.de waren es 43 Beiträge in 17 Tagen. Ist der oder die Betroffene durch die ganzen Details aus seinem oder ihrem Privatleben, die “Bild”-Mitarbeiter genüsslich der Öffentlichkeit präsentieren, dann endlich aufgerüttelt, macht die Redaktion auch direkt Schluss.
In etwa so verteidigte “Bild”-Ombudsmann Ernst Elitz am 20. August jedenfalls die vielen, vielen Artikel über Jan Ullrich:
BILD berichtete am Beispiel von Jan Ullrich über die Hölle, die ein Drogensüchtiger durchläuft, bis er sich zum Entzug entscheidet. Leser Bennop Jonas fand diese Berichterstattung “untragbar”.
Aber sie war höchst realistisch und rüttelte auf. Nachdem der Ex-Profisportler sich für den Entzug entschieden hat, sieht die Redaktion keinen Anlass für weitere Berichterstattung.
So schaut es in der Praxis aus, wenn eine “Redaktion keinen Anlass für weitere Berichterstattung” sieht:
Entweder verarschen die “Bild”-Mitarbeiter den viel zu leichtgläubigen “Bild”-Ombudsmann bei seinen Nachfragen zur “Bild”-Berichterstattung. Oder der “Bild”-Ombudsmann verarscht die Leserinnen und Leser, die ihm schreiben, weil er eigentlich weiß, dass es Unsinn ist, was er ihnen antwortet. Schwer zu sagen, was trauriger wäre.
Von den fünf Bild.de-Artikeln über Jan Ullrich, die erschienen sind, seit bei Bild.de eigentlich keine Artikel mehr über Jan Ullrich erscheinen, kann man drei nur mit einem “Bild plus”-Abo lesen. Von den 43 Artikeln über Ullrich, die Bild.de zuvor veröffentlicht hat, befinden sich 22 hinter der Bezahlschranke. Dass es bei der Ullrich-Dauerberichterstattung auch ums Geldmachen mit dem tragischen Absturz einer Person geht, die dringend Hilfe braucht — das wäre mal ein Thema für einen Ombudsmann.
Das Wörtchen “statt” kann ein sehr vergiftetes sein. Zum Beispiel wenn man es so falsch einsetzt wie die “Bild”-Redaktion vorgestern in ihrer Bundesausgabe …
Das “statt” ist in diesem Zusammenhang Unsinn. Es lässt die Leserinnen und Leser glauben, dass an einer Berliner Grundschule Islam-Kunde an die Stelle des evangelische Religionsunterrichts gerückt ist. Oder eine Ebene höher: Der Islam verdrängt das Christentum. Doch das stimmt nicht.
Tatsächlich gab es an der Teltow-Grundschule in Berlin-Schöneberg, über die die “Bild”-Medien schreiben, schon länger parallel christlichen Religionsunterricht, Islam-Kunde und Lebenskunde, wo es um Ethik geht. Die Kinder konnten mit ihren Eltern auswählen, worüber sie in zwei Schulstunden pro Woche etwas lernen möchten.
Diese Fächer werden allerdings nicht von Lehrern der Schule unterrichtet, sondern von Vertretern der religiösen oder humanistischen Träger. An der Teltow-Grundschule ist für den christlichen Religionsunterricht die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz zuständig. Und die hat seit einiger Zeit nicht mehr genug Personal, um den Unterricht an allen Berliner Schulen anzubieten, so auch an der Teltow-Grundschule.
Das wäre eigentlich auch schon die ganze Geschichte: Die Evangelische Kirche hat Personalmangel, daher können die Kinder aktuell nur zwischen Islam- und Lebenskunde wählen. Wäre da nicht ein Vater, der sich in “Bild” aufregt, dass etwas schieflaufe “‘im christlichen Abendland'”, “‘wenn in einer normalen Grundschule nur noch Islam-Unterricht, aber kein evangelischer Religionsunterricht mehr angeboten wird'”.
Sein neunjähriger Sohn habe nun “statt Religionsunterricht jeweils eine Freistunde”, schreiben die “Bild”-Medien. Das stimme allerdings nicht, wie uns die Schulleitung auf Nachfrage sagt. Der Junge und seine Eltern könnten derzeit zwischen Lebenskunde und Islam-Unterricht wählen. Auf dem Stundenplan des Kindes, den “Bild” und Bild.de zeigen, sieht man auch zumindest am Dienstag in der fünften Stunde neben dem Kürzel “Isl”, das wohl für Islam-Kunde stehen soll, auch das Kürzel “Lk”, das für Lebenskunde stehen dürfte:
So richtig neu sei der Ausfall des christlichen Religionsunterrichts laut Schulleitung übrigens nicht. Das sei auch schon im vergangenen Schuljahr so gewesen, aus demselben Grund. Und die Eltern seien auch bereits früh informiert worden, etwa über die Elternvertretung.
Die Schulleitung bedauert es ebenfalls, dass der christliche Religionsunterricht derzeit nicht wie gewohnt angeboten werden kann. Sie hat schon vor einiger Zeit Maßnahmen ergriffen, damit er nicht für die komplette Schule ausfällt: Mit der Evangelischen Kirchengemeinde Alt-Schöneberg habe man vereinbaren können, dass diese Pfarrer schickt, die den christlichen Religionsunterricht für die Jahrgangsstufen 1 und 2 übernehmen. Für die Klassen 3 bis 6, also auch für den Jungen, dessen Stundenplan “Bild” abdruckt, werde es Projekttage zum Thema “Kinder begegnen Religionen” geben, geplant von der Evangelischen Kirche. Außerdem werde wie immer eine Weihnachtsfeier stattfinden, man werde wie immer einen großen Weihnachtsbaum aufstellen. Dass der Islam an der Teltow-Grundschule das Christentum verdrängt, kann man nun wirklich nicht sagen.
Von all diesen Bemühungen liest man in dem “Bild”-Artikel: nichts.
Immerhin schreiben auch die “Bild”-Medien, dass der Grund für den Ausfall der Personalmangel bei der Evangelische Kirche ist. Bloß: Bei Bild.de erfahren das nur die knapp 400.000 Personen, die ein “Bild plus”-Abo haben. Die anderen Millionen, die Bild.de besuchen, sehen lediglich die falsche Schlagzeile und ziehen mehr oder weniger empört weiter.