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Paris-Attentäter doch nicht “als Flüchtling in Bayern registriert”

Gestern Abend verkündete die “Welt” über alle Kanäle:

(Wie die „Welt“ auf „drei Terroristen“ kam, wissen wir nicht. Im Text war auf jeden Fall nur von zwei Attentätern die Rede, von denen die Ermittler ohnehin annehmen, dass sie als Flüchtlinge gereist sein könnten.)

Jedenfalls: Bayern.

Feldkirchen bei München. Die 7.000-Einwohner Gemeinde östlich der bayerischen Landeshauptstadt ist seit Monaten ein Anlaufpunkt für Flüchtlinge. Im Oktober ließ sich in Feldkirchen auch ein Mann als Asylbewerber registrieren, der womöglich wenige Wochen später in Paris mordete. Einer der Attentäter vom 13. November. Das Bundeskriminalamt (BKA) hat dies nach Informationen der „Welt“ ermittelt.

Wenig später klang die „Welt“ allerdings nicht mehr so sicher:

Feldkirchen bei München. Die 7.000-Einwohner Gemeinde östlich der bayerischen Landeshauptstadt ist seit Monaten ein Anlaufpunkt für Flüchtlinge. Im Oktober ließ sich in Feldkirchen auch ein Mann als Asylbewerber registrieren, der womöglich wenige Wochen später in Paris mordete. Einer der Attentäter vom 13. November. Das Bundeskriminalamt (BKA) hat dies nach Informationen der „Welt“ ermittelt. Deutsche Ermittler gehen dem Verdacht in der bayerischen Aufnahmestation für Flüchtlinge nach. Noch werde überprüft, ob es sich um eine Verwechslung handelt. Dies sei noch nicht abschließend geklärt, heißt es aus Sicherheitskreisen.

(Hervorhebung von uns.)

Und schließlich musste das Blatt einräumen:

Die “Welt” hatte ursprünglich berichtet, einer der Pariser Attentäter, der mutmaßlich mit einem gefälschten syrischen Pass gereist war, habe sich in Feldkirchen bei München als Flüchtling registrieren lassen. Dies soll allerdings nach bisherigem Ermittlungsstand nicht der Fall sein. Weiter ist unklar, ob die Terroristen von Paris durch Deutschland reisten.

Da hatte die Falschmeldung aber schon längst die Runde gemacht (auch dank der Agentur AFP, die sie etwa eine halbe Stunde lang verbreitet hatte, bevor sie sie zurückzog) — und den Rechtspopulisten und Ausländerfeinden mal wieder eine wunderbare Steilvorlage geboten:



Übrigens hatte auch der Münchner “Merkur” geschrieben, dass einer der Paris-Attentäter möglicherweise als Flüchtling in Bayern registriert worden sei. Quelle dafür war Bayerns Innenminister Joachim Hermann (CSU), der dem “Merkur” erzählt hatte, es spräche “im Moment sehr viel dafür”. Kurz darauf ruderte der Innenminister aber wieder zurück:

Nach derzeitiger Erkenntnislage hat sich der Verdacht, einer der Paris-Attentäter sei zuvor in Bayern als Flüchtling registriert worden, doch nicht bestätigt. “Es handelt sich offensichtlich nicht um den entsprechenden Menschen”, sagte der Sprecher des bayerischen Innenministers Joachim Herrmann (CSU), Oliver Platzer, am Dienstagabend der Nachrichtenagentur AFP. Ein Flüchtling mit selbem Namen wie einer der Attentäter sei in Feldkirchen registriert worden. Die französischen Behörden hätten den Flüchtling vor Ort angetroffen und mit ihm gesprochen.

Auch die dpa schreibt:

Oliver Platzer [der Sprecher des bayerischen Innenministers] sagte nun: «Es handelt sich nicht um den gestorbenen Attentäter.» Das habe sich bei einer Überprüfung herausgestellt.

Damit gibt es nicht nur “keinen Beleg” für die Geschichte der “Welt” (so ja der neueste Stand bei der “Welt”) — es spricht auch alles dagegen.

Aber wenigstens in der „Welt“-Chefetage sieht man die Sache nicht so eng:

Siehe auch:

Nachtrag, 26. November: Unsere Leser Alex B. und Benedikt H. sowie der “Merkur” haben noch einen weiteren Fehler in der “Welt”-Geschichte entdeckt:

Der in Bayern registrierte Flüchtling lebt, Sicherheitskräfte haben ihn besucht. Er wurde auch nicht, wie von der Zeitung Welt beharrlich verbreitet, in Feldkirchen bei München, sondern in Feldkirchen bei Straubing registriert – aus außerbayerischer Sicht schien das alles recht nahe beieinander zu liegen. In der Realität hat das niederbayerische Feldkirchen aber eine sehr große Unterkunft, das oberbayerische nur eine sehr kleine, in der auch keine syrischen Flüchtlinge registriert wurden.

n24.de  

Über tote Flüchtlinge lachen mit N24

Am Wochenende berichtete N24 auf seiner Onlineseite:

Wegen der hohen Zahl von Flüchtlingen haben in Südschweden in der Nacht zum Freitag einige Menschen unter freiem Himmel übernachten müssen. Im südschwedischen Malmö liegen die Temperaturen nachts derzeit knapp über dem Gefrierpunkt.

Zuvor hatte die Ausländerbehörde mitgeteilt, dass das Land nicht mehr allen Asylbewerbern ein Dach über dem Kopf anbieten könne.

Und wie reagierten die Leser auf diese Nachricht?

(“belustigt”, “inspiriert”, “überrascht”, “informiert”, “egal”, “erschreckt”, “traurig”, “verärgert”)

Eine ähnliche Emotions-Funktion (“Lachen”, “Weinen”, “Wut”, “Staunen”, “Wow”) gab es bis vor Kurzem auch bei den Springer-Kollegen von Bild.de. Der Unterschied: Die Leser von N24 lachen (im Gegensatz zu denen von Bild.de) nicht über alles. Wenn Menschen Deutsche zu Schaden kommen, reagieren sie sogar meist “erschreckt” oder “traurig”. Wenn jedoch Flüchtlinge die Leidtragenden sind, kommt Freude auf:




































Der Presserat hat sich in seiner letzten Sitzung mit diesem Emotions-Tool beschäftigt. Im konkreten Fall ging es nicht um N24, sondern um Bild.de, und zwar um einen Artikel mit der Überschrift “Schläger attackieren homosexuellen Politiker” (224-mal “Lachen”). Es schade dem Ansehen der Presse, so der Presserat, “wenn ein Medium bei einem Beitrag, der sich mit einer Gewalttat gegen einen Menschen beschäftigt, den Usern die Möglichkeit eröffnet, den Artikel mit einer Emotion wie ‘Lachen’ zu bewerten”. Darum sprach der Presserat einen folgenlosen “Hinweis” gegen Bild.de aus; inzwischen gibt es die Funktion dort nicht mehr.

Bei N24 muss man fairerweise dazusagen: Nicht bei allen Artikeln über Flüchtlinge reagieren die Leser mehrheitlich belustigt.


Mit Dank an Thomas O.!

Nachtrag, 25. November: N24 hat die Funktion jetzt komplett von der Seite entfernt. Übrigens kam die hohe “belustigt”-Zahl im ersten Screenshot (“In Schweden schlafen Flüchtlinge nun in der Kälte”) vor allem dadurch zustande, weil auf der Plattform “pr0gramm” jemand auf die Voting-Funktion hingewiesen hatte.

Die exklusive München-Terror-Falschmeldung von “Focus Online”

“Focus Online” behauptet aktuell:

Da heißt es:

Antiterror-Fahndung in München: Spezialeinsatzkräfte der Polizei haben am späten Donnerstagabend nach Informationen von FOCUS Online eine verdächtige arabische Gruppe entdeckt, die offenbar einen Anschlag in der bayerischen Landeshauptstadt vorbereitet hat.

Für die Durchführung der Tat wollten die Verdächtigen offenbar mehrere deutsche Polizei-Uniformen benutzen, die auf dem Zimmer des Central Apart Hotels im Münchner Stadtteil Berg am Laim beschlagnahmt wurden. Außerdem fanden die Ermittler auf dem Zimmer mehrere Gasflaschen.

Vier der insgesamt acht Verdächtigen, darunter ein Deutscher mit iranischer Herkunft, flohen mit einem 5er und einem 3er BMW. Die Münchner Polizei leitete eine Großfahndung ein, an der sich auch Fahnder der Bundespolizei beteiligen.

Die Polizei schreibt jedoch:

Nachtrag, 20. November, 8 Uhr: Trotzdem herrschte auch in anderen Medien sofort …




Die Polizei betonte aber weiter:



Daraufhin kamen auch die aufgeschreckten Spätdienstler in den Newsrooms wieder runter und gaben (vorerst) Entwarnung.

Nur „Focus Online“ blieb – scheinbar – stur:

Die Polizei dementierte, dass der Einsatz im Zusammenhang mit einem Terror-Verdacht steht. FOCUS Online bleibt jedoch bei seiner Darstellung.

Allerdings hatte „Focus Online“ seine Darstellung da schon unauffällig geändert. Aus dem Terror-“Alarm” hatte die Redaktion einen Terror-“Verdacht” gemacht, und von der „verdächtigen arabischen Gruppe“, die zuvor noch einen „Anschlag in der bayerischen Landeshauptstadt vorbereitet” hatte, ging plötzlich nur noch eine unkonkrete “Gefahr aus“:

Und das „exklusiv“ war verschwunden. Und das Foto hatte sich geändert – auf dem neuen war zwar noch weniger zu erkennen, aber: geschossen vom „Focus Online“-Chef persönlich.

Jedenfalls hat die Polizei inzwischen in einer Pressemitteilung erklärt:

MÜNCHEN. Am Donnerstag, 19.11.2015, rief eine Angestellte eines Hotels im Stadtteil Berg am Laim die Polizei an. Ihr kamen mehrere Gäste verdächtig vor, da sie eine Butangasflasche bei sich hatten.

Im darauffolgenden Polizeieinsatz wurden ein 30-jähriger Iraner und eine 44-jährige Landsfrau kontrolliert. Bei der Absuche fanden sich keine verdächtigen Gegenstände. Abklärungen ergaben, dass die Butangasflasche zu einem Campingkocher gehört und als Kochgelegenheit benutzt wurde.

Drei weitere Iraner, die zu dem Appartement gehören, wurden im Anschluss ausfindig gemacht und zwischenzeitlich ebenfalls befragt.

Nach jetzigem Kenntnisstand war das Appartement zur Familienzusammenfindung angemietet worden. Bei den Personen handelt es sich ausschließlich um Asylbewerber, die der 30-jährige Iraner dort zusammenführte.

Und “Focus Online”?

FOCUS Online bleibt jedoch bei seiner Darstellung.

Nachtrag, 15.30 Uhr: Jetzt doch nicht mehr. In einem neuen Artikel müssen die Leute von „Focus Online“ nun einräumen, dass sie völligen Quatsch berichtet haben. Natürlich verpacken sie es etwas anders:

Das Portal schreibt:

„Bei der intensiven Absuche fanden sich keine verdächtigen Gegenstände. Es wurden drei kleine 0,5 Liter Butangasflaschen aufgefunden. Des Weiteren ein handelsübliches Baseball-Cap mit der Aufschrift „Police“ und eine schwarze Weste. Bei der Durchsuchung wurden keine Uniformteile gefunden“, so die Polizei über die Razzia. Die Kappe sei als Geschenk für einen „polizeiaffinen Neffen“ eines der Gäste bestimmt. Ermittlungen hätten ergeben, dass die Gasflaschen zu einem Campingkocher gehörten.

Nachtrag, 27. Januar 2016: Wir haben uns beim Presserat über die Berichterstattung von “Focus Online”, FAZ.net und “Huffington Post” beschwert. Bei den letzten beiden konnte er aber “keinen Verstoß gegen die presseethischen Grundsätze feststellen” (hier ausführlicher). Mit “Focus Online” beschäftigt sich der Beschwerdeausschuss im März.

Kein Sprengstoff-Rettungswagen und andere Dochnichtnews aus Hannover

Die Terrorpanikberichterstattung geht also weiter. Kurz nach dem abgesagten Fußball-Länderspiel am Dienstag in Hannover verkündete „Bild“:

Auch die Agenturen Reuters und AP berichteten (ohne Quellenangabe), die Arena sei aus Sicherheitsgründen geräumt worden, und so zog die Geschichte in Windeseilmeldungen ihre Kreise.

Kurz darauf „Bild“:

Dann, „Breaking News“ bei Bild.de:

++ Söhne-Mannheims-Konzert in TUI-Arena abgebrochen

Dann „Bild Hannover“:

Tatsächlich hat das Konzert stattgefunden. Einer der “Söhne Mannheims” schrieb danach auf Facebook:

Mit ihrer rastlosen Falschmelderei schaden sich die Medien aber nicht nur selbst, sondern auch denen, die ihnen vertrauen (wollen), ihren Lesern, Hörern und Zuschauern. Sie stiften Verwirrung und Angst, ausgerechnet in Situationen, in denen besonnene Aufklärung so wichtig wäre.

Woher „Bild“ und die Agenturen die Falschinfo hatten, ist unklar. Es war jedenfalls nicht die einzige an diesem Abend.

Unzählige Journalisten und Medien verbreiteten die Tweets von „@PNiedersachsen“, zitierten sie in den Nachrichten und bauten sie in ihre Liveblogs ein, weil es ja ganz offensichtlich „offizielle Tweets der Polizei Niedersachsen“ waren. Dabei hätten sie nur ein einziges Mal klicken müssen, um das hier zu sehen:

Allein der Liveticker des NDR verwies im Laufe des Abends fünfmal auf die Tweets der „Polizei“, der offizielle Twitter-Account der Stadt Hannover schrieb:

Für weitere Infos an diesem Abend empfehlen wir, der Polizei Niedersachsen zu folgen.

… mit Link zum Fake-Account.

Der hätte alles mögliche behaupten können, viele hätten sicher auch weiterhin geglaubt, er wäre von der Polizei. Der Twitterer nutzte seine plötzliche Macht aber nicht weiter aus, inzwischen hat er auch sein Profilbild und seinen Namen geändert und mehrfach klargestellt, dass er kein offizieller Account ist (was uns auch die echte Polizei bestätigt hat).

Und dann war da ja noch der Sprengstoff-Rettungswagen. Beziehungsweise nicht.

Die „Kreiszeitung“ und (was allerdings kaum registriert wurde) auch die „Hamburger Morgenpost“ hatten online behauptet:

Im Bereich des Stadions in Hannover soll ein so genannter Gefährder gesichtet worden sein, der den Behörden bekannt ist. Sicherheitskräfte haben zudem einen Rettungswagen entdeckt, in dem sich Sprengstoff befand.

(kreiszeitung.de)

Vor dem Stadion wurde ein Rettungswagen mit Sprengstoff entdeckt. Das erfuhren wir aus zuverlässiger Quelle. Auch ein sogenannter Gefährder, der der Polizei bekannt ist , wurde gesichtet.

(mopo.de)

Die Geschichte wurde so ziemlich überall aufgegriffen. Manchmal mit Fragezeichen, manchmal mit “Angeblich”, manchmal ohne jeden Zweifel.


(stern.de)

(ksta.de)

(“Focus Online”)

Am Dienstagabend hat der Innenminister Niedersachsens die Meldungen auf einer Pressekonferenz dementiert. Es sei kein Sprengstoff gefunden worden, auch das Rettungswagen-Gerücht lasse sich nicht bestätigen, sagte er. Das schreibt auch die „Bild“-Zeitung, es hat sie aber nicht davon abgehalten, in der Überschrift groß zu fragen:

In einer weiteren Pressekonferenz erklärte eine Sprecherin der Polizei Hannover gestern erneut, es sei kein Sprengstoff gefunden worden.

Von wem die “Kreiszeitung” und die “Mopo” die Infos hatten, ist immer noch offen. Die “Mopo” ist diesbezüglich ganz still geworden und hat bloß noch vermeldet, dass kein Sprengstoff gefunden wurde. Dass sie anderthalb Stunden zuvor “aus zuverlässiger Quelle” noch das Gegenteil erfahren haben wollte, hat die Redaktion offenbar lieber schnell vergessen.

Anders die “Kreiszeitung”, die gestern einen zweiten Artikel veröffentlichte, in dem sie ihre Version verteidigt. Darin beruft sie sich allerdings weiterhin auf “eine seriöse Quelle”. Ach ja, und:

Auch Hans-Joachim Zwingmann, 1. Vizepräsident des Deutschen Sportjournalisten Verbandes, bestätigte am Mittwoch gegenüber der Kreiszeitung: „Nach meinen Informationen hat ein Schnüffelhund bei der Untersuchung eines Krankenwagens angeschlagen. Es soll aber angeblich keine Auffälligkeiten gegeben haben. Das ist alles schon ein bisschen dubios. Kurz nach 19 Uhr standen mehrere Krankenwagen direkt vor dem Haupteingang des Stadions und sind rein- und rausgefahren. Warum, weiß ich nicht.“

Oha. Rein- und rausgefahren! Und ein Schnüffelhund! Bestätigt vom 1. Vize vom Dingsverband!

Und außerdem habe ja auch …

TV-Moderatorin Katrin Müller-Hohenstein im ZDF von Hinweisen berichtet, “es gäbe wohl eine konkrete Gefahrensituation was Einsatzkräfte betrifft, sprich Polizeiwagen, sprich Krankenwagen”.

Ja, liebe “Kreiszeitung”, dabei sprach sie aber explizit über “Gerüchte” (ab 5:30):

Erst hieß es – gibt natürlich viele Gerüchte – eine Bombe im Stadion, dann hieß es, es droht Gefahr von den Einsatzkräften vor Ort, also Polizei, Krankenwagen sind eine mögliche Bedrohung.

Hätten wir also: “eine seriöse Quelle”, den Schnüffel-Vize und Müller-Hohenstein. Und noch einen weitere Kronzeugin, die gestern Abend in einem dritten Rettungswagen-Artikel der “Kreiszeitung” hinzugekommen ist: die “Bild”-Zeitung.

Laut „Bild“-Zeitung bestätigt ein Geheimpapier des Verfassungsschutzes Berichte unserer Zeitung, wonach Sprengsätze in einem Rettungswagen ins Stadion geschmuggelt werden sollten.

Nein. Also ja: Das schreibt die “Bild”-Zeitung. Damit bestätigt sie aber, wenn überhaupt, nur, dass es solche Pläne gab. Aber nicht, dass, wie die “Kreiszeitung” behauptet hatte, ein “Rettungswagen entdeckt” wurde, “in dem sich Sprengstoff befand”.

Umstritten bleibt bislang, ob ein solcher Sprengsatz auch tatsächlich in einem Fahrzeug gefunden worden ist.

… schreibt die “Kreiszeitung”, und irgendwie haben wir das Gefühl, dass sie so langsam selbst nicht mehr weiß, was sie eigentlich glauben soll.

Am Dienstagabend hatte Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD) das dementiert. Ein Zeuge berichtet allerdings, dass ein Schnüffelhund bei der Untersuchung eines Rettungswagens angeschlagen habe.

Jaja, der Schnüffelhund. So einer hatte (wie auch die “Kreizeitung” berichtete) in Hannover auch bei einem Paket in einem Zug angeschlagen, das dann doch keine Bombe war, nur so viel zur Beweiskraft einer solchen Beobachtung. Von der anderen seriösen Quelle für den Sprengstoff-Rettungswagen ist in der “Kreiszeitung” übrigens keine Rede mehr.

Evakuierungen, die doch nicht stattgefunden haben, Polizei-Tweets, die doch nicht von der Polizei sind, Bomben, die doch nicht gefunden wurden — so kann’s gehen, wenn jeder der erste sein und keiner was versäumen will, wenn alles, was man in die Finger kriegt, erst mal schnell rausgehauen wird, wie im Rausch, alles geben, alles zeigen.

In der heutigen Ausgabe macht “Bild” das ZDF übrigens zum “Verlierer”:

Gut, ein Info-Laufband gab es doch, und das “heute-journal spezial” kam — mit Live-Schalte — um 19.54 Uhr. Aber “Bild” hat Recht: Die ZDF-Leute haben sich Zeit gelassen. Bestimmt noch mal tief durchgeatmet, vielleicht sogar recherchiert. Was für Luschen.

Mit Dank an O.M. und Mikey.

Fallen, Fake, Alarm: Die Paris-Berichterstattung von Bild.de

“Sehr reibungslos und sehr schnell und sehr professionell“ sei die “Bild”-Berichterstattung über die Anschläge von Paris abgelaufen, hat Bild.de-Chef Julian Reichelt gestern im “Aufwachen!”-Podcast erzählt. Die “Bild”-Medien hätten ihren Usern und Lesern …

alles geboten, was es an Nachrichtenlage gab, ohne, das kann man jetzt mit dem Rückblick sagen, in irgendeine Falle zu tappen, irgendeinen Fake zu veröffentlichen, der kursiert hat, ohne, aus meiner Sicht, eine zu alarmistische Sprache zu verwenden, was ja in dieser Situation gerade mit der Flüchtlingskrise in Deutschland meiner Meinung nach sehr wichtig ist, da nicht auf Sprache hereinzufallen, die sozusagen dann eine Religion kriminalisiert, sondern die nah bei den Fakten bleibt, und ich glaube, das ist uns sehr gut gelungen.

Es ist schon sehr bezeichnend für Julian Reichelt und sein Verständnis von Journalismus, dass er offenkundig stolz auf diese Punkte ist, aber es ist noch bezeichnender, dass keiner davon stimmt.

Fangen wir mit einem harmlosen Beispiel an:

Der Eintrag stammt aus dem Liveticker von Bild.de. Damit verbreitete das Portal einen der ersten Fakes, die nach den Anschlägen kursierten. In Wahrheit wurde die Beleuchtung des Empire State Buildings am Freitagabend ausgeschaltet. Rot-weiß-blau beleuchtet war es im Januar nach dem Anschlag auf „Charlie Hebdo“.

Eine andere Falschmeldung, die (nicht nur) von Bild.de verbreitet wurde, ist die mit der Playstation.

Nach den Terror-Anschlägen in Paris hat Belgiens Innenminister davor gewarnt, dass die Playstation 4 sich bei Terroristen zunehmender Beliebtheit erfreut.

Grund: die Spielkonsole bietet ein eigenes Netzwerk für private Gruppen und Sprach-Chats. Zudem gibt es die Möglichkeit, direkt in Online-Spielen zu kommunizieren. (…)

Auch bei den Ermittlungen zu den Anschlägen in Paris sollen in Brüssel Beweise gefunden worden sein, die nahelegen, dass die Attentäter mindestens eine PS4-Konsole genutzt haben, berichtet „Forbes“.

Es stimmt, dass der belgische Innenminister gesagt hat, Terroristen könnten die Playstation als Kommunikationskanal benutzen. Das war allerdings am 10. November — drei Tage vor den Anschlägen in Paris.

Auch dass bei den Ermittlungen irgendwelche PS4-Beweise gefunden worden seien, ist falsch. Der Autor des „Forbes“-Artikels hat auf Nachfrage des Videospiel-Portals kotaku.com gestern eingeräumt:

“This was actually a mistake that I’ve had to edit and correct,” writer Paul Tassi told me this afternoon. “I misread the minister’s statement, because even though he was specifically saying that PS4 was being used by ISIS to communicate, there is no public list of evidence list of what was found in the specific recent raids. I’ve edited the post to reflect that, and it was more meant to be about discussing why or how groups like ISIS can use consoles. It’s my fault, as I misinterpreted his statement.”

Immerhin: Heute hat Bild.de den Artikel korrigiert.

Ein anderes Beispiel. In den ersten Stunden nach Bekanntwerden der Ereignisse verkündete Bild.de immer neue Opferzahlen:



Laut offiziellen Angaben (Stand 15. November) gab es 129 Tote.

Natürlich war die Lage in den Stunden nach den Anschlägen völlig chaotisch, niemand konnte genau sagen, wie viele Menschen getötet wurden oder was überhaupt passiert war. Aber wäre es nicht gerade in solchen Situationen die Aufgabe von Journalisten, die gesicherten Informationen zusammenzutragen, statt Gerüchte als Gewissheiten zu verkaufen und mit Ausrufezeichen in die Welt zu posaunen?

Welche Folgen so etwas unter Umständen haben kann, zeigt ein anderer Fall.

Am Samstag tauchten Berichte auf, nach denen an einem der Anschlagsorte der Pass eines syrischen Flüchtlings gefunden wurde. Wenig später teilte der griechische Minister für Migration mit, dass der Pass im Oktober von einem Flüchtling zur Einreise nach Griechenland benutzt worden sei.

Viele Medien warnten daraufhin vor voreiligen Schlussfolgerungen. Es sei „noch völlig unklar, ob es sich bei dem Mann, auf den der Pass ausgestellt ist, auch tatsächlich um den toten Attentäter handelt“, schrieb etwa sueddeutsche.de am Sonntagabend:

Zwischen all den Toten lag ein syrischer Pass. In der Nähe eines der Männer, die sich am Freitag während des Länderspiels in Paris am Stadion in die Luft sprengten, wurde das Dokument gefunden. Es wurde Anfang Oktober bei der Einreise nach Griechenland genutzt, der Besitzer ließ sich als Asylbewerber registrieren. Sollten einer oder mehrere Attentäter auf diesem Weg nach Europa gekommen sein, wäre das eine Steilvorlage für jene Politiker und Gruppen, die versuchen, das Attentat in Zusammenhang mit den gestiegenen Flüchtlingszahlen zu bringen. Sie wollen die Flüchtlingsdebatte mit jener über Terrorismus verknüpfen. Doch noch ist es zu früh, um eindeutig zu sagen, ob tatsächlich ein Syrer an den Anschlägen beteiligt war.

Dennoch verkündete Bild.de schon am Samstag:


Da war sie also, die Steilvorlage.



Noch einmal: Zu diesem Zeitpunkt war lediglich klar, dass der Pass eines angeblichen syrischen Flüchtlings in der Nähe des Stade de France gefunden wurde. Dass er dem Attentäter gehörte, war eine Mutmaßung, kein Fakt. Er hätte auch einem der Opfer gehören können. Oder jemand ganz anderem.

Es gab beispielsweise auch Berichte von einem ägyptischen Pass, der an einem Anschlagsort gefunden wurde. Einige Medien behaupteten auch in diesem Fall, er gehöre einem der Terroristen. Inzwischen hat der ägyptische Botschafter in Paris mitgeteilt, dass der Besitzer des Passes keiner der Attentäter sei, sondern eines der Opfer — ein Fußballfan, der bei den Anschlägen schwer verletzt wurde.

Was, wenn sich herausgestellt hätte, dass es im Fall des syrischen Passes ähnlich war?

Dieser Frage kann Bild.de jetzt allerdings locker aus dem Weg gehen, denn seit gestern gibt es neue Erkenntnisse: Die französische Staatsanwaltschaft gab bekannt, dass die Fingerabdrücke eines der Attentäter zu denen eines Mannes passen, der im Oktober als Flüchtling in Griechenland registriert wurde.

Wie wir Julian Reichelt und seine Truppe kennen, werden sie darin vermutlich den Beleg sehen, dass sie von Anfang an Recht hatten, dass sie das mit dem Flüchtling schon wussten, bevor es die Staatsanwaltschaft wusste, weil sie ja so reibungslos und schnell und professionell arbeiten. Und nicht, dass sie einfach bloß geraten haben, bevor es überhaupt irgendwelche Belege gab.

Mit Dank an Martin, Christoph und Peter W.

“Jede Woche eine neue Zahl”

Heinz Buschkowsky mag die Medien, und die Medien mögen Heinz Buschkowsky. Der ehemalige Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln ist oft in Talkshows, er gibt Interviews, schreibt Gastbeiträge und Bücher. Buschkowsky ist ein zuverlässiger Gast, ein bissiger, aber beherrschter „Klartext“-Redner, Schwerpunkt: Migration, oder eher: Schattenseiten der Migration. Er wirkt besonnen und erfahren, aber schön steil in seinen Thesen, ein bisschen wie Sarrazin ohne die Beklopptheiten.

Buschkowskys Vorteil ist seine Erfahrung, er hat in Neukölln gearbeitet, hat das Multi-Kulti jeden Tag am eigenen Leib gespürt, er hat erlebt, worüber viele andere bloß reden. Darum wird er immer wieder eingeladen, als Kronzeuge quasi, mal hier, mal dort, Heinz Buschkowsky erzählt, und die Medien hören zu. Und widersprechen ihm selten.

Gestern Abend war er zu Gast bei Anne Will im Ersten. Thema der Sendung: „Familiennachzug begrenzen – Unchristlich, aber unvermeidlich?“ Buschkowskys Metier. Für die Islamhasser von „Politically Incorrect“ war er schon vor Beginn der Sendung unter den Gästen die „einzige Hoffnung“ auf eine „kompetente Auseinandersetzung mit dem Asylirrsinn“, und er dürfte sie nicht enttäuscht haben.

Routiniert gab Buschkowsky den Auf-den-Tisch-Packer unbequemer Wahrheiten, warnte vor diesem und jenem und sagte Dinge wie (ab Minute 14:50):

Wir wissen, dass etwa 70 Prozent junge Männer unterwegs sind und kommen, dass die geschickt werden, weil sie die Stärksten sind, um zu schauen, wo es für die Familie eine Bleibe gibt, die besser ist als zu Hause. Das gilt insbesondere für Irak, für Afghanistan …

„70 Prozent junge Männer“? Da war doch was.

Das sind aber mittlerweile 38 Prozent, das verändert sich. Es kommen jetzt auch die Familien.

… erwiderte Simone Peter, Bundesvorsitzende der Grünen, die auch zu Gast war.

Buschkowsky:

Ja, öh, ich will ja gar nicht mit ihnen über Zahlen streiten, weil es gibt jede Woche eine neue Zahl.

Da hat er natürlich recht. Kurz nachdem Jan Fleischhauer und Boris Palmer die 70 Prozent verbreitet hatten, hieß es zum Beispiel in der RTL-Sendung „Guten Morgen Deutschland“:

85 Prozent der Flüchtlinge sind allein reisende junge Männer (…)

85 Prozent. Eine Quelle dafür wurde auch dort nicht genannt.

Die Zahl kam übrigens nicht von den RTL-Leuten, sondern von ihrem Studio-Gast – Heinz Buschkowsky.

85 Prozent der Flüchtlinge sind allein reisende junge Männer, da ist nicht viel Abgewogenheit, sondern sehr viel Impulsivität. Das ist ja auch das, was sehr vielen Menschen Ängste macht.

Und mit Ängstemachen kennt sich Buschkowsky aus.

Gestern bei Anne Will also wieder 70 Prozent. Und obwohl die Grünen-Vorsitzende widersprochen hatte, war heute überall nur eines zu lesen:

Der ehemalige Bürgermeister von Neukölln, Heinz Buschkowsky (SPD), rechnet vor, dass 70 Prozent der Flüchtlinge junge Männer sind.

(stern.de)

Er sagt, dass 70 Prozent der Flüchtlinge junge Männer seien.

(bz-berlin.de)

Er berichtet, dass 70 Prozent der Flüchtlinge junge Männer sind.

(Bild.de)

Doch nicht nur das:

Er berichtet, dass 70 Prozent der Flüchtlinge junge Männer sind. Diese werden zunächst nach Deutschland kommen, um die Familie im Anschluss nachzuholen. So komme man auf bis zu 10 Millionen Flüchtlinge bis 2020. „Und das ist ganz konservativ und unaufgeregt gerechnet“, fügt er hinzu.

10 Millionen Flüchtlinge. Schauen wir uns doch mal an, wie er darauf kommt und welche Belege er anführt (ab 32:30 Minuten):

Anne Will: Man ist sich ja gar nicht so sicher, wie viele Menschen denn über den sogenannten Familiennachzug nach Deutschland noch kommen werden, da hört man immer unterschiedliche Zahlen. Der Präsident des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge hat im vergangenen Jahr mal gesagt, er geht von einem Faktor 3 bis 4 aus, also mal 3 bis 4. Herr de Maizière hat heute im Bundestag gesagt, er nehme an, er wisse es auch nicht genau, dass die Zahl sich verdoppeln oder verdreifachen könnte. Wäre das eine Anzahl von Menschen, Herr Buschkowsky, die Deutschland integrieren könnte?

Heinz Buschkowsky: Auf Sicht: ja. Aber nicht von heute auf morgen. Weil das ist doch die Diskussion, über die wir reden müssen: Sind wir in einer Situation, wo wir den Zustrom eingrenzen oder steuern müssen? Also da werden, voriges Jahr waren es 400.000, dieses Jahr eine Million, 1,4 Millionen, mit Familiennachzug sind das sofort viereinhalb bis fünf Millionen Menschen.

Will: Weil sie jetzt locker mit mal 3, mal 4 rechnen. Woher wissen Sie das denn, Herr Buschkowsky?

Buschkowsky: Das ist ganz konservativ unaufgeregt, mal 3. Es gibt andere Konfliktforscher, die nehmen mal 7! (…) Die EU hat eine offizielle Prognose für 2016: plus weitere drei Millionen Flüchtlinge. Oder: in den nächsten drei Jahren fünf Millionen. Da ist Deutschland natürlich wieder dabei. Kommt noch eine Millionen plus Familiennachzug, haben sie noch mal vier bis fünf, dann sind sie in einem sehr knappen Zeitraum bis 2020 bei zehn Millionen Menschen.

Will: Das haben sie jetzt alles überschlagen und haben dafür keinen Beleg.

Buschkowsky: Das ist ganz konservativ unaufgeregt. Aber es ist so!

Achso. Na dann:


Ganz konservativ unaufgeregt.

Mit Dank an Martin.

Reschersche – nein danke!

“Für die reinen Nachrichten muss der User nichts bezahlen. Aber das, was nur BILD kann und nur BILD hat, die exklusiven Geschichten, die besonderen Interviews und Hintergründe, die einzigartigen Fotos – das sind zukünftig BILDplus-Inhalte.”

(Bild.de bei der Vorstellung von „Bildplus“)

Nehmen wir ein Beispiel.

Das ist die reine Nachricht. Die gibt’s kostenlos. Zahlen muss man für den Premium-Weiterdreh, für das, was nur „Bild“ kann und nur „Bild“ hat, und das sieht so aus:

Wenn Tätowierungen so richtig weh tun und zwar nicht nur beim Stechen, sondern hinterher noch viel, viel mehr, dann ist das für die Bemalten zwar eine Katastrophe, für andere aber zum Lachen: BILD zeigt die 22 übelsten Tattoo-Katastrophen der Welt!

Jahaha, die hier zum Beispiel:

Und weil wir hier ja in der Kernkompetenz-Abteilung von “Bild” sind, ist die Sache gleich doppelt falsch.

Das ist keine Frau, sondern ein echter Gangster:

Aber kein echtes Tattoo. Sondern aus einem Film.

Die Überschrift für diese „Tattoo-Katastrophe“ lautet übrigens:

Na dann mal los, „Bildplus“.

Wie falsche Bilder von Flüchtlingen entstehen

Es ist nicht unwichtig, welche Bilder man im Kopf hat, wenn man über Flüchtlinge redet.

Wenn “Spiegel Online”-Kolumnist Jan Fleischhauer über Flüchtlinge redet, hat er zwei Bilder im Kopf, aber wenn es nach ihm geht, passt nur eins davon zur Realität.

Da wäre zum einen das hier, das er auf der Facebook-Seite der Grünen-Politikern Katrin Göring-Eckardt gefunden hat:

“Es ist das, was man ein herziges Bild nennt”, schreibt Fleischhauer. “Wer keine Seele aus Stein hat, der möchte das Kind an die Hand nehmen und an einen sicheren Ort bringen.”

Und dann das andere Bild, auf der Titelseite der “FAZ” vom 30. September:

“Man sah darauf Neuangekommene, die auf ihre Registrierung als Asylbewerber warteten”, schreibt Fleischhauer. “Ein Kollege, mit dem ich telefonierte, fragte mich, ob ich bemerkt habe, dass es sich von vielen Flüchtlingsfotos unterscheide. Er hatte recht: Es gab darauf weder Kinder noch Frauen. Man sah ausschließlich Männer, die sich an weißen Sperrgittern gelehnt die Zeit vertrieben.”

Und das, findet Fleischhauer, treffe die “Migrationswirklichkeit” “leider” viel besser als das herzige Kinder-Bild:

Wer wie Katrin Göring-Eckardt vor allem schutzbedürftige Kinder sieht, hält jeden für einen Unmenschen, der laut über die Grenzen der Aufnahmefähigkeit nachdenkt. Was die Migrationswirklichkeit angeht, sprechen die Fakten leider gegen die Fraktionsvorsitzende der Grünen und für die “FAZ”: Rund 70 Prozent derjenigen, die zu uns kommen, sind allein reisende, junge Männer.

Es ist also klar, welches Bild Fleischhauer in die Köpfe seiner Leser bringen will:

Fleischhauer schreibt:

Bislang spielt sich die Krise abseits der Innenstädte ab, wo die Leute, die in der Flüchtlingsdebatte den Ton angeben, gerne wohnen. Wer durch die Einkaufszonen von Hamburg oder München schlendert, würde nie auf die Idee kommen, dass man in vielen Kommunen nicht mehr weiß, wie man der Lage Herr werden soll. Aber dieser Zustand des seligen Nebeneinanders kann sich schnell ändern. Der Soziologe Armin Nassehi, der übrigens ein Befürworter von mehr Zuwanderung ist, spricht von einer “Maskulinisierung” des öffentlichen Raums, auf die man sich beizeiten einstellen sollte.

Man wird sehen, wie das aufgeklärte Deutschland reagiert, wenn das neue Eckensteher-Milieu die inneren Großstädte erreicht. Für die #Aufschrei-Welt, in der schon ein zu offensiver Blick auf Po oder Busen einen sexuellen Übergriff markiert, verheißt das Wort “Maskulinisierung” jedenfalls nichts Gutes.

Für Fleischhauer offenkundig auch nicht. 70 Prozent junges, männliches “Eckensteher-Milieu”, du liebe Zeit!

Woher er diese Zahl hat, verrät er allerdings nicht.

Vielleicht von Boris Palmer. Der Grünen-Politiker hatte nicht nur die gleiche Zahl, sondern vermutlich auch ähnliche Bilder im Kopf wie Fleischhauer, als er Ende September in der “taz” über Flüchtlinge sprach:

“Derzeit sind über 70 Prozent der Flüchtlinge junge Männer, die ganz andere Vorstellungen von der Rolle der Frauen, der Religion, Meinungsfreiheit, Homosexualität oder Umweltschutz in der Gesellschaft haben als wir Grüne. Machen wir uns nichts vor: Die Aufgabe ist riesig.”

Seit Palmer und Fleischhauer geistern die Behauptungen immer wieder durch die Medien. Vor drei Wochen zum Beispiel in einem Interview der “Welt”:

Die Welt: Über 70 Prozent der Flüchtlinge sind allein reisende junge Männer. Der Soziologe Armin Nassehi warnt schon vor einer Maskulinisierung des öffentlichen Raums. Was heißt das im Alltag?

Oder in der “Huffington Post”:

Und über noch etwas sollten sich die Politik und die Deutschen keine Illusionen machen: Rund 70 Prozent der Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, sind zwischen 18 und 30 Jahre alt. Junge Männer – egal welcher Herkunft und welches Glaubens – sind besonders anfällig dafür, Gewalttaten zu begehen.

Auch Leser machen sich die Behauptungen zu eigen:

Wie stellen sich unsere Politiker künftig diese Gesellschaft eigentlich vor, wenn mehr als 70 Prozent der Asylanwärter und Flüchtlinge junge Männer sind, die andere Vorstellungen haben von Religion, Meinungsfreiheit, Toleranz, vom Rollenverständnis Mann/Frau, für die in ihrer bisherigen Lebenswirklichkeit christliche Werte und Demokratie bislang Fremdworte waren (…)?

Ganz besondere Aufmerksamkeit erregen die Aussagen aber bei jenen, die von den Medien sonst eigentlich nicht so viel halten und von den Flüchtlingen erst recht nicht:

Auch in rechtspopulistischen Zeitungen, auf ausländerfeindlichen Hetzseiten und in Naziforen werden die Aussagen dankbar aufgegriffen.

Quellen (außer Fleischhauer oder Palmer) oder Belege für diese Behauptung finden sich nirgends.

Wir haben uns daher mal vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) die aktuellsten Daten über das Alter und Geschlecht von Asylbewerbern besorgt. So sehen sie (für die von Januar 2015 bis einschließlich September 2015 gestellten Anträge) aus:

Altersgruppe männlich weiblich
bis unter 16 43.482 36.743
16 bis unter 18 9.706 2.948
18 bis unter 25 56.539 14.743
25 bis unter 30 34.517 11.685
30 bis unter 35 23.075 9.858
35 bis unter 40 15.213 7.549
40 bis unter 45 10.058 5.003
45 bis unter 50 6.263 3.336
50 bis unter 55 3.513 2.213
55 bis unter 60 1.870 1.521
60 bis unter 65 965 839
65 und älter 834 967
unbekannt 2 1
Gesamt 206.037 97.406

Der Anteil der jungen Männer — sagen wir mal: 18 bis 35 Jahre — an der Gesamtzahl der Flüchtlinge beträgt demnach nicht 70, sondern 38 Prozent. Selbst wenn man “junge Männer” als 16 bis 40 Jahre definiert, kommt man nur auf 46 Prozent.

Es stimmt, dass überwiegend männliche Flüchtlinge in Deutschland Asyl suchen (rund 70 Prozent). Doch fast die Hälfte davon ist entweder minderjährig oder älter als 35.

Viele “besorgte” Bürger und Medien stellen insbesondere die jungen, allein reisenden Männer unter den Flüchtlingen als Gefahr dar. Behauptungen wie die von Fleischhauer und Palmer erleichtern ihnen die Panikmache, denn wenn sogar die Gutmenschenmedien 70 Prozent Eckensteher-Flüchtlinge ausmachen, ist die endgültige Schändung des Abendlandes ja praktisch nicht mehr aufzuhalten.

Den Hetzern kommt dabei auch zugute, dass durch die Betonung des (falschen) “junge Männer”-Anteils ein anderer Ausschnitt der (tatsächlichen) Migrationswirklichkeit verzerrt wird: der Anteil der Kinder.

70 Prozent der Flüchtlinge sind junge, alleinstehende Männer – es gibt kaum Kinder.

Aber gerade sie tauchen in den Pressebildern auf. Die Medien informieren nicht mehr, es wird mit Gefühlen manipuliert: Die großen Augen eines verlorenen Kindes können selbst ein Herz aus Stein erweichen. Viele im Land wollen helfen, weil sie den Ernst der Lage vollkommen falsch einschätzen und die Krise noch nicht in den Innenstädten angekommen ist.

So schreibt es ein Autor des “Kopp”-Verlags. Die Rechnung ist ja auch nicht allzu schwer: Wenn schon 70 Prozent der Flüchtlinge junge Männer sind, kommen noch alte Männer dazu, dann junge Frauen, alte Frauen — da muss die Zahl der Kinder ja gering sein.

In Wahrheit aber ist fast jeder dritte Flüchtling minderjährig, jeder vierte ist jünger als 16. Allein in diesem Jahr haben laut BAMF bis Ende September fast 7.500 unbegleitete und 85.000 begleitete Minderjährige Asylanträge gestellt.

Keine Frage: Wer nur schutzbedürftige Kinder sieht, verkennt die Realität. Wer 70 Prozent junge Männer und kaum Kinder sieht, verkennt sie aber auch.

Die Statistiken für 2014 sehen übrigens ähnlich aus (und sind für jeden einsehbar, sogar für Journalisten und Politiker). Anteil der jungen Männer: 37 Prozent. Anteil der Kinder unter 16: 28 Prozent.

Ob die jungen Männer allesamt alleine reisen und oft an Ecken stehen, welches Verständnis sie von der Rolle der Frau, von Religion, Meinungsfreiheit, Homosexualität und Umweltschutz haben, ist den Statistiken übrigens nicht zu entnehmen.

Bei diesem Teufel-an-die-Wand-Malen nach Zahlen fällt auch unter den Tisch, warum vor allem junge Männer nach Europa flüchten. Dafür gibt es viele Gründe, die zum Beispiel die „Süddeutsche Zeitung“ vor Kurzem genauer betrachtet hat:

„In vielen Familien, die in Gefahr geraten, reichen die Ressourcen einfach nicht aus, um mehr als einem Mitglied die Flucht nach Europa zu finanzieren”, sagt Bernd Mesovic von Pro Asyl. Aus verschiedenen Gründen würden dann eher die jungen Männer als Frauen oder Ältere und Kinder auf den Weg geschickt.

So sind Männer etwa in der Regel körperlich stärker und – je nach Herkunft – häufig besser ausgebildet als Frauen. Deshalb gelten ihre Chancen als größer, eine gefährliche Reise zu überleben und am Zielort Arbeit zu finden. Häufig stellen sie aus traditionellen Vorstellungen heraus den Haupternährer – und stehen damit in der Verantwortung, für die Familie zu sorgen.

Auch die Gefahr, als Kämpfer zwangsverpflichtet zu werden, motiviert laut Experten viele Männer zur Flucht:

“Männer wollen so vermutlich einer direkten Beteiligung am Kampfgeschehen entgehen”, sagte Pro-Asyl-Chef Günter Burkhardt SPIEGEL ONLINE. Die Gefahr, getötet oder zwangsrekrutiert zu werden, sei für sie etwa im Bürgerkriegsland Syrien sehr hoch.

Darüber hinaus „kümmern sich in vielen Fällen Frauen um den Nachwuchs und bleiben aus diesem Grund eher in den Herkunftsländern zurück“, erklärt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Für Frauen komme in manchen Gebieten zudem das Risiko hinzu, auf der Flucht verschleppt und vergewaltigt zu werden, so Pro Asyl.

Es ist also, wie die “Süddeutsche” feststellt, …

nicht überraschend, dass sich – unabhängig vom konkreten Anlass der Flucht – eher Männer auf die gefährliche Reise machen, während die Familien in der Hoffnung zurückbleiben, dass sie später über eine Familienzusammenführung ohne Risiko nachreisen können – oder aus der Ferne vom Mann versorgt werden.

All das spielt bei Fleischhauer, Palmer, den Rechtspopulisten und Nazis keine Rolle. Sie stürzen sich auf die eine Zahl, die eine falsche Zahl, und erzeugen damit ein verzerrtes und unvollständiges Bild, das seit Wochen weitergetragen und verfestigt wird.

Und dann war da noch Kai Gniffke, der Chefredakteur von “ARD Aktuell”. Der “Focus” schrieb vor zwei Wochen:

Die „Tagesschau“ und die „Tagesthemen“ zeige nicht immer ein richtiges Bild der nach Deutschland drängenden Flüchtlingen. Das hat „ARD aktuell”-Chefredakteur Kai Gniffke jetzt eingeräumt.

Vor Branchenexperten in Hamburg sagte Gniffke: „Wenn Kameraleute Flüchtlinge filmen, suchen sie sich Familien mit kleinen Kindern und großen Kulleraugen aus.“ Tatsache sei aber, dass „80 Prozent der Flüchtlinge junge, kräftig gebaute alleinstehende Männer sind“.

Also:

„Wir müssen sensibel sein, damit die Bildauswahl nicht allzu sehr auf Kinder fokussiert wird“, kündigt der Chefredakteur gegenüber FOCUS an.

Die, die sonst nur Lügen in der Presse sehen, glaubten diese Nachrichten ausnahmsweise sofort und verkündeten triumphierend:



Der “Focus”-Artikel mit den Aussagen Gniffkes dient den Verschwörungstheoretikern und Rechtspopulisten sogar als Beleg dafür, dass “der Begriff ‘Lügenpresse’ absolut richtig!!” sei. Die Argumentation:

Wenn also diese Berichterstattung über die Flüchtlinge ansich „getürkt“ ist, dann sind es andere Themen aus der Flüchtlingskrise ebenso. Der mediale Modder fängt an zu stinken!

Zu offensichtlich wurde in den Medien gelogen, das „saubere Bild“ konnte nicht mehr aufrecht erhalten werden. Jeder wusste, dass sie lügen und somit ist der Begriff „Lügenpresse“ absolut richtig!!

(gefunden auf einer Seite, auf der man “Weltnetz” statt “Internet” sagt.)

Bloß ist das zentrale Zitat von Gniffke …

… völliger Unsinn. Wir haben ihn gefragt, wie er auf die Zahl kommt. Seine Antwort: Dieses “angebliche Focus-Zitat ist komplett falsch”.

Es gibt allerdings einen Mitschnitt seiner Aussagen (ab 47:30), und der zeigt: Der “Focus” hat Gniffke weitgehend korrekt zitiert. Er sagte:

Immer, wenn wir Flüchtlinge zeigen und wenn die dann als Beispiel vorkommen, dann sind das Familien. Meistens: Frauen, Kinder… Tatsächlich ist es aber so: 80 Prozent der Flüchtlinge sind kräftig gebaute, junge Männer. Die da überwiegend auch alleine kommen. Wie gesagt: Die Berichterstattung sieht aber irgendwie sehr familiär aus. Nun kennt jeder Journalist das: Och, nee, das ist viel schöner, auch als Kameramotiv, als Bildmotiv – da nimmste kleine Kinder, ist total nett. Aber es verbiegt ein bisschen tatsächlich die Realität.

Seine Aussage ging noch weiter:

Deshalb haben wir dann auch gesagt: Wir machen jetzt mal ein Soziogramm, und zwar in der Hauptausgabe, 20 Uhr: Wer sind das? Wo kommen die her? Hmm, fast die Hälfte kommt aus Ländern, wo wir sagen: Uiuiui, da eine politische Verfolgung nachzuweisen, wird schwer, zumal wenn es sich noch um EU-Beitrittskandidaten handelt. Das müssen wir den Leuten mal sagen. Wir müssen denen sagen: Das sind junge Männer. Wir haben denen gesagt: Was haben die für einen Bildungsgrad? Und und und. Aus welchen Zusammenhängen kommen die.
Nee, ich glaube nicht, dass wir da blinde Flecken haben. Und, wirklich, gegen das Extremistische hilft dann auch tatsächlich nur informieren, Fakten liefern und widerlegen – sonst wüsste ich keinen Weg.

Wir auch nicht.

Mit Dank an Martin.

Nachtrag, 5. November: Einige Leser haben uns darauf hingewiesen, dass ja nicht alle Flüchtlinge einen Asylantrag stellen, die Gesamtzahl der Flüchtlinge in Deutschland also höher sei als die vom BAMF registrierten 300.000. Daran besteht auch kein Zweifel.

Das Bundesinnenministerium teilte im August mit, es rechne damit, …

dass in diesem Jahr bis zu 800.000 Asylbewerber bzw. Flüchtlinge nach Deutschland kommen werden.

Womöglich wird die Zahl aber noch deutlich höher sein. In einem Interview sagte Bundesinnenminister Thomas de Maizière vor zwei Wochen:

Schweriner Volkszeitung: Die Prognose, dass in diesem Jahr 800 000 Flüchtlinge und Asylbewerber ist nicht mehr zu halten, oder?

De Maizière: Ich werde keine neuen Zahlen nennen. Jedenfalls nicht in den nächsten Wochen. Jede neue, womöglich höhere Prognose würde von den Schleppern missbraucht. Als die Bundesregierung die Prognose auf 800 000 für dieses Jahr erhöht hatte, kam in Afghanistan das Gerücht auf, wir würden 800 000 afghanische Flüchtlinge zu uns einladen.

Gehen wir also mal großzügig von 1,5 Millionen in Deutschland ankommenden Flüchtlingen im Jahr 2015 aus. Dann müssten unter den 1,2 Millionen Flüchtlingen, die in den BAMF-Zahlen nicht erfasst sind, 936.000 junge Männer sein, um sagen zu können: 70 Prozent aller erfassten und nicht-erfassten 1,5 Millionen Flüchtlinge sind junge Männer.

Der Anteil der jungen Männer an den 1,2 Millionen nicht-erfassten Flüchtlingen müsste also 78 Prozent betragen – ein mehr als doppelt so großer Anteil wie unter denen, die laut BAMF in diesem Jahr einen Asylantrag gestellt haben. Und ebenfalls doppelt so groß wie unter denen, die im vergangenen Jahr einen Antrag gestellt haben. Und doppelt so groß wie unter denen, die 2014 europaweit Asylanträge gestellt haben. Wir sehen keinen Grund, warum das so sein sollte.

Nachtrag, 11. November: Boris Palmer hat uns kurz nach Erscheinen unseres Eintrags eine Mail geschickt, die wir mit seinem Einverständnis hier veröffentlichen:

Ich schätze die Arbeit von bildblog sehr. Daher freue ich mich, dass Sie der Frage nachgehen, wer die Flüchtlinge sind und meine Aussage, 70% der Flüchtlinge seien junge Männer, kritisch hinterfragen.

Vorneweg: Es ist desaströs , dass wir keine Ahnung haben, was nun eigentlich stimmt. Die Statistik des Bamf sagt nichts mehr aus, weil sie nur noch einen kleinen Teil der Flüchtlinge erfasst – im Oktober weniger als ein Fünftel. Für die öffentliche Debatte ist es extrem wichtig, dass möglichst bald präzise Zahlen zu Zahl, Herkunft, Alter, Geschlecht, Bildung und Qualifikation der Flüchtlinge erhoben werden. Sonst kann man nicht vernünftig diskutieren, wie wir als Gesellschaft auf die Herausforderung reagieren, die Einwanderung in diesem Maßstab darstellt.

Ich habe im September in der taz darauf aufmerksam gemacht, dass ein Großteil der Flüchtlinge junge Männer sind – bis dahin in der öffentlichen Debatte wenig beachtet – und dabei die Zahl 70% genannt. In einem mündlichen Interview. Meine Quelle war keine offizielle Statistik, sondern mündliche Informationen von Verantwortlichen in der Flüchtlingsverwaltung und der Augenschein in Erstaufnahmeeinrichtungen und Unterkünften. Die Zahl habe ich nie als exakten Wert begriffen.

Anders als Sie in bildblog schreiben, ist die Größenordnung aber durchaus plausibel. Die Statistik des Bamf, die Sie heranziehen, enthält noch einen großen Anteil von Asylbewerbern aus dem Balkan. Denn in der ersten Jahreshälfte kamen mit Abstand die meisten Asylbewerber aus den Balkanstaaten. In dieser Gruppe sind in der Tat sehr viele Kinder und der Frauen. Die Reise ist eben nicht so weit und gefährlich wie von Syrien oder Afghanistan. Da diese Menschen so gut wie alle keinen Asylanspruch haben und das Land verlassen müssen, sind sie für die Frage nach Integrationserfordernissen, um die es im Kontext meines Interviews in der taz ging, nicht entscheidend.

Betrachtet man die Zahlen ohne die Flüchtlinge vom Balkan, liegt sogar die Zahl des Bamf schon bei etwa 50% junger Männer. Da man sicher annehmen kann, dass eine Familie sich viel schwerer tun wird, allein und unregistriert in Deutschland Fuß zu fassen, als ein junger Mann, ist es auch plausibel, den Anteil der nicht Registrierten in dieser Personengruppe noch höher anzusetzen. Mit dieser Hypothese lässt sich der Eindruck aus den Erstunterkünften, dass weit überwiegend junge Männer Asyl suchen, gut bestätigen.

Entscheidend ist für mich allerdings, dass es auf die exakte Zahl nicht ankommt. Die Aussage, dass sehr viele junge Männer alleine zu uns kommen und dies entweder ein großes soziales Problem für diese Männer oder Familiennachzug in siebenstelliger Höhe bedeutet, ist richtig. Und darauf kommt es in der Debatte an. Denn zumindest in dieser Hinsicht hat Jan Fleischhauer schon einen Punkt getroffen: Über sehr lange Zeit wurde die Berichterstattung über Flüchtlinge von Kinderbildern dominiert. Das weckt Emotionen und ist an sich nicht zu beanstanden. Für die Debatte müssen aber die Fakten benannt werden.

Ich finde alles gut, was diese Debatte sachlich voranbringt. Daher besten Dank für Ihren Beitrag

Es müssten „die Fakten benannt werden“, schreibt Palmer. Also gut.

Sein Hauptgegenargument sind die Flüchtlinge vom Balkan. Er schreibt:

Betrachtet man die Zahlen ohne die Flüchtlinge vom Balkan, liegt sogar die Zahl des Bamf schon bei etwa 50% junger Männer.

Das wollten wir überprüfen und haben das BAMF gebeten, uns die Zahlen aufgeschlüsselt nach Alter, Geschlecht und Herkunftsländern zuzuschicken. Antwort:

(…) leider haben wir keine Altersgruppen nach Herkunftsländern. Ich kann Ihnen also leider nicht weiterhelfen.

Wo also hat Palmer die BAMF-Zahl her, wenn nicht mal das BAMF sie hat? Wir haben ihn gefragt. Geantwortet hat er nicht. Sie dürfte also ebenfalls erfunden eine Schätzung sein.

Gestern hat Palmer übrigens einen Gastbeitrag für die „FAZ“ geschrieben, in dem er unter anderem – das BAMF kritisiert:

Fortsetzung: hier.

Der “Bild”-Mann und wir Brandstifter

In der vergangenen Woche konnte man bei Twitter mal wieder viel lernen über die “Bild”-Zeitung, ihren Online-Chef und vor allem über dessen beeindruckende Unfähigkeit, mit Kritik umzugehen.

Los ging es mit diesem Tweet von uns:

Zwei Tage kam keine Antwort – am vergangenen Sonntag dann reagierte “Bild”-Online-Chef Julian Reichelt:

Aber erstmal genug über uns. Reden wir über Julian Reichelt.

Der Bild.de-Chef gefällt sich in der Rolle des mutigen Aufklärers, in der des Enthüllers unbequemer Wahrheiten. Doch Kritik an sich selbst und seinem Medium kann oder will Julian Reichelt in den meisten Fällen einfach nicht ertragen, geschweige denn verstehen.

Bei Kleinigkeiten gibt er sich zwar hin und wieder einsichtig, aber wenn es um Grundsätzliches geht und vor allem um die “Bild”-Berichterstattung über Flüchtlinge, den IS oder Edward Snowden, ist man, sobald man eine andere Meinung vertritt als Reichelt, für ihn automatisch ein anti-freiheitlicher Ideologe mit verbohrten Betonkopf-Argumenten.

Statt sich ernsthaft mit ihnen auseinanderzusetzen, weicht Julian Reichelt dann allen Fragen aus, und jede Kritik an den Methoden von “Bild” ist sofort ein

Als wir kritisierten, dass “Bild” jahrelang Angst und Misstrauen gegenüber Ausländern geschürt hat, reagierte Reichelt mit einem langen Kommentar, in dem er mit keinem Wort auf unsere tatsächliche Kritik einging. Er schrieb, wir hätten ihn “als Flüchtlingshasser verleumdet” und erklärte detailliert, wie er und seine Kollegen sich persönlich für Flüchtlinge einsetzen würden. Sollten wir “Schreibtisch-Ideologen” vom BILDblog uns “auf ähnliche Weise engagiert haben”, schrieb er, würde er “das gern hören”.

Als wir darüber schrieben, dass “Bild” in der Berichterstattung über einen Prozess gegen zwei IS-Rückkehrer die Anweisung des Gerichts, die Angeklagten nicht zu zeigen, missachtet hatte, schrieb Reichelt, wir hätten “Mitgefühl für Mörderbanden, die Journalisten den Kopf abschneiden” und würden uns “als Schutzmacht von ISIS-Anhängern” positionieren.

Nun also die Unterstellung, BILDblog wolle “Bild” verboten sehen. Wir wissen selbst nicht, wie er darauf kommt (zur Erinnerung: Ausgangspunkt war unsere Kritik an Schlagzeilen wie “Jetzt kommen die Afghanen”), darum noch mal:

Kurzer Einwurf von Lukas Heinser (BILDblog-Chefredakteur 2010-2014):

Jedenfalls:

Danach war erstmal Ruhe, und kurz waren wir so naiv anzunehmen, Reichelt hätte es tatsächlich eingesehen.

Am nächsten Tag aber:

Die Fotos wurden getwittert, nachdem wir dazu aufgerufen hatten, die ungefragt an alle Haushalte zugestellte Gratis-“Bild” zu zerknüllen und in die Mülltonne zu schmeißen. Ein paar Leute hatten andere Ideen und steckten ihre Ausgabe ins Klo oder ließen ihre Haustiere ihr Geschäft darauf machen oder verbrannten sie. Solche Fotos haben wir ignoriert und bewusst nicht in die #BILDindieTonne-Sammlung aufgenommen, weil wir sie natürlich für überzogen und unangebracht halten. Nicht ohne Grund haben wir zum Zerknüllen und nicht zum Verbrennen aufgerufen.

Doch Julian Reichelt dienen diese Fotos anderer jetzt als Beleg für unsere nordkoreanischen Verbotsphantasien.

Am Dienstag ging’s weiter:

Mittwoch:

Donnerstag:

Bei solchen “Diskussionen” wirkt Julian Reichelt, als würde er in einer eigenen Welt leben, in der er die Dinge anders wahrnimmt oder wahrnehmen will. Wer die „Bild“-Zeitung für ihre Berichterstattung über Terroristen kritisiert, muss ein Sympathisant von Terroristen sein. Wer kritisiert, dass “Bild” Angst vor Flüchtlingen schürt, soll doch bitteschön mal erzählen, was er persönlich Gutes für Flüchtlinge tut. Wir haben nie das Verbot von “Bild” gefordert, aber Reichelt behauptet es einfach und vergleicht uns mit “Pegida”. Und wenn er dafür keinen Beweis findet, dann sucht er sich vier Bilder von brennenden “Bild”-Zeitungen raus und wirft uns damit diktatorische Zensurphantasien vor.

Natürlich können die Leute von “Bild” widersprechen, wenn wir ihre Arbeit kritisieren, aber Kritiker derart zu diffamieren und ihnen Dinge zu unterstellen, sagt viel aus über Julian Reichelts Verständnis von Meinungsfreiheit.

Siehe auch (aus unserem Julian-Reichelt-Twitter-Perlen-Archiv):

Nachtrag, 2. November:

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