70 Jahre lang war Adolf Hitlers “Mein Kampf” verboten. Jetzt ist die widerliche Kampfschrift des Judenhassers wieder da, in neuer kommentierter Auflage.
Auch andere Medien nahmen den Jahreswechsel zum Anlass, sich mit “Mein Kampf” und vor allem mit dem “Verbot des Buches” zu beschäftigen. “Spiegel Online”-Autor Georg Diez zum Beispiel erklärte vergangene Woche in seiner Kolumne, “wie falsch es war, dieses Buch zu verbieten”:
Bücher sollten nie verboten werden, denn diese Art von Verboten sind Zeichen von Angst und Schwäche. Demokratien verbieten keine Bücher und keine Gedanken. Diktaturen tun das.
Es durften bis zum 31. Dezember 2015 lediglich keine Neuauflagen gedruckt und herausgegeben werden, weil man damit gegen die Urheberrechte Adolf Hitlers verstoßen hätte, die 1946 1948 an das bayerische Finanzministerium gefallen sind. Seit Anfang dieses Jahres gilt der Urheberschutz nicht mehr, weil Hitlers Tod nun 70 Jahre zurückliegt. Theoretisch darf es jetzt also jeder nachdrucken.
Im Sommer 2014 haben zwar die Justizminister der Bundesländer beschlossen (PDF), “dass eine unkommentierte Verbreitung von Hitlers ‘Mein Kampf’ auch nach Ablauf der urheberrechtlichen Schutzfrist zum 31. Dezember 2015 verhindert werden soll”, außerdem wurden die Generalbundesanwälte um Einschätzung gebeten (PDF, S. 10), doch konkrete Ergebnisse zum weiteren Vorgehen gibt es noch nicht.
Wie auch immer: Was jetzt “wieder da” ist, war eigentlich nie weg. Wer das Buch haben wollte, konnte es sich in den vergangenen 70 Jahren ganz legal besorgen:
Der bloße Besitz von “Mein Kampf” war bisher nicht verboten. So kursieren nach wie vor Originalausgaben von “Mein Kampf”, etwa in Antiquariaten. Sie dürfen dort verkauft und gekauft werden. Auch der Verleih in Bibliotheken ist legal.
1. Spanien: Maulkorbgesetz gegen kritische Medien (ndr.de, Sandra Aïd und Daniel Schmidthäussler, Video, 6:15 Minuten)
30.000 Euro Strafe für ein Foto von Polizisten? Eine Karikatur über den König als Terrorismus-Delikt? Klingt nach autoritärem Regime, ist aber Spanien. Ein “neues, sogenanntes Bürgerschutzgesetz”, erlassen von der Regierung um Ministerpräsident Mariano Rajoy, macht’s möglich: “Das Gesetz schützt offenbar keineswegs die Bürger, sondern in erster Linie die Regierung vor ihrem Volk — und vor kritischen Medien.”
2. Lifta und Propaganda (kontextwochenzeitung.de, Anna Hunger)
Das Fernsehmagazin “Rtv” erscheint jede Woche 8,2 Millionen Mal, als Beilage zahlreicher Tageszeitungen. In diesen vielen “Rtv”-Exemplaren werbe “seit vielen Jahren” auch “der rechtspopulistische Kopp Verlag”, unter anderem für seine Hetze gegen Muslime und Flüchtlinge. Anna Hunger hat bei den “Rtv”-Verantwortlichen nachgefragt, wie das sein kann.
3. Deutschrap, du hast ein ernsthaftes Problem (welt.de, Dennis Sand)
Die “Welt” bescheinigt der deutschen Rapszene ein Gewaltproblem, weil es dort vollkommen normal sei, “Hausbesuche” bei verfeindeten Rappern zu machen oder gar “Stadtverbote” auszusprechen. Die nicht wenigen deutschen Rap-Medien kritisiert Welt-Autor Dennis Sand für ihre mangelnde Distanz, ihre Unreflektiertheit und die ständige Sorge, die Rapmusikszene vor der Veralberung zu schützen. Wie es sich inzwischen für einen anständigen Rap-Battle-Beef gehört, antwortet Hip-Hop-Journalist Falk Schacht auf Facebook.
4. Twittern aus dem Gerichtssaal (taz.de, Christian Rath)
Bild- und Tonübertragungen aus Gerichtssälen sind in Deutschland verboten. Journalisten dürfen sich Notizen machen, aber nicht live aus dem Gerichtssaal bloggen. Das galt auch für den Zschäpe-Prozess — ein explizites Twitter-Verbot galt aber nicht. Christian Rath beschreibt, wie sich die Live-Berichterstattung von Prozessen durch die sozialen Medien verändert und beschleunigt.
5. Zuckerberg und Antisemitismus (saschalobo.com)
Jemanden des Antisemitismus zu bezichtigen, ist ein harter Vorwurf. Viele Menschen reagieren darauf entrüstet und weisen die Anschuldigung zurück. Dass es auch anders geht, zeigt Sascha Lobo: Nachdem Götz Aly aus einer von Lobos Kolumnen für “Spiegel Online” antisemitische Tendenzen herausgelesen haben will, setzt er sich in einem langen und reflektierten Text mit der Kritik auseinander — und gelangt dabei zur Erkenntnis, “dass ich im Kontext des Antisemitismus noch intensiver auf meine Wortwahl und meine Begriffswelten achten muss, es kann zum Fehler werden, sich nicht präzise abzugrenzen.”
6. Der Preis der Wahrheit — Whistleblowerinnen im Konflikt (srf.ch, Vera Freitag, Video, 52:28 Minuten)
Ein Dokumentarfilm über Whistleblowerinnen aus der Schweiz und den USA, ihre Motivationen und den “Konflikt zwischen Loyalität und Gerechtigkeitssinn.” Kleiner Tipp: Bei den Schweizerdeutsch-Passagen hilft die Untertitelfunktion.
1. Machtlos gegen Flüchtlingsgerüchte? (ndr.de, Bastian Berbner, Video, 7:24 Minuten)
Michael Würz jagt abgeschlagenen Köpfen und angeblichen Vergewaltigungen hinterher — und findet nie Handfestes. Das liegt nicht daran, dass der Redakteur des “Zollern-Alb-Kuriers” schlampig recherchiert, im Gegenteil: Er findet ständig heraus, dass an den Gerüchten über die Flüchtlinge in Meßstetten nichts dran ist. Ein Beitrag von Bastian Berbner über Facebook-Verleumdungen und den Umgang der Medien mit ihnen.
2. Das Ringen um Vertrauen und Glaubwürdigkeit (deutschlandfunk.de, Benjamin Dierks, Audio, 18:16 Minuten)
“Lügenpresse, Lügenpresse!” Diese Parole steht stellvertretend für eine besorgniserregende Entwicklung: Immer mehr Menschen haben immer weniger Vertrauen, dass Journalisten wahrheitsgemäß berichten. Der “Deutschlandfunk” hat Wissenschaftler und Medienmacher gefragt, woran das liegt, welche Rolle das Internet dabei spielt, was Journalisten dagegen tun können und inwiefern die veränderten Rahmenbedingungen auch Chancen bieten.
3. Abgemahnter Youtuber will Bild.de verklagen (golem.de, Friedhelm Greis)
Bild.de sperrt Adblock-Nutzer aus, Youtuber erklärt, wie man die Sperre umgehen kann, Axel-Springer-Verlag verschickt eine Abmahnung, Youtuber weigert sich, eine Unterlassungserklärung abzugeben. So die Vorgeschichte in Kurzform (siehe Link Nummer 2 und Link Nummer 1). Jetzt die nächste Runde: Der Youtuber Tobias Richter geht in die Offensive und plant eine sogenannte negative Feststellungsklage gegen Springer. Helfen soll dabei eine (inzwischen erfolgreiche) Crowdfundingkampagne.
4. Im Auftrag von… (taz.de, Daniel Bouhs)
Im April 2014 schrieben zwei “Spiegel”-Journalisten: “Beim Spiegel ist die Offenheit für das neue Format begrenzt: Werbung, die aussieht wie ein Text der Redaktion, wird es nicht geben.” Anderthalb Jahre später fällt dieses kategorische Nein längst nicht mehr so deutlich aus. Beim “Spiegel”-Ableger “Bento” sollen Native Ads für Einnahmen sorgen und möglicherweise auch den Weg für Sponsored Content beim Mutterschiff bereiten. Bei “Spiegel Online” heißt es auf Anfrage zwar, es gebe “derzeit keine konkreten Pläne” — eine klare Absage ist das aber nicht mehr. Damit ist der “Spiegel”-Verlag nicht alleine, auch bei “Zeit Online” und dessen Beiboot “Ze.tt” sollen Werbetreibende “Geschichten erzählen” dürfen, “um ihre Marke zu stärken oder Produkte zu verkaufen”.
5. Warum wir nicht über Grönemeyers Tour-Pläne berichten (derwesten.de)
Anlässlich seines neuen Albums geht Herbert Grönemeyer auf Tour. Darüber wollte er mit Journalisten reden, die dafür “eine schriftliche Vereinbarung unterzeichnen [sollten], die dem Künstler im Extremfall einen massiven Eingriff in die Berichterstattung ermöglichen würde.” Die “WAZ” sieht darin einen “deutlich über die gängige Autorisierungspraxis hinausgehenden Eingriff in die redaktionelle Unabhängigkeit” und verzichtet auf die Berichterstattung.
6. Cinema Perverso (arte.tv, Oliver Schwehm, Video, 58:30 Minuten, verfügbar bis 29.1.2016)
Nach dem Zweiten Weltkrieg errichtete die Bahn an größeren Bahnhöfen eigene Kinos für die Reisenden, in denen eher speziellere Filme liefen wie “Nackt und zerfleischt”, “In der Gewalt der Riesenameisen”, “Das Blutgericht der reitenden Leichen” oder “Heiße Katzen in der grünen Hölle”. Die Arte-Doku wirft einen Blick in “die wunderbare und kaputte Welt des Bahnhofskinos” und erklärt zum Beispiel, warum für den US-Streifen “Die Todesgruft des Dr. Jekyll” Szenen in Bielefeld nachgedreht werden mussten.
In den vergangenen Tagen gab es reichlich Kritik an den deutschen TV-Sendern und ihrer Berichterstattung über die Anschläge in Paris. Viel zu spät seien sie gewesen, hieß es in den sozialen Medien, statt Live-Schalten zu Korrespondenten habe es lange Zeit nur Fußballzusammenfassungen und Krimis gegeben. Es meldeten sich aber auch Fürsprecher, die sagten, die Ruhe und das Sich-Zeitnehmen seien genau richtig gewesen.
Wir haben einige Beiträge zu der Diskussion gesammelt.
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Eine größere Übersicht, “wie das Fernsehen über den Terror in Paris berichtet”, bieten Markus Ehrenberg und Joachim Huber auf tagesspiegel.de
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Terrorismus in Paris — und eine unerfüllbare Anspruchshaltung (udostiehl.wordpress.com)
Udo Stiehl bloggte noch in der Nacht von Freitag auf Samstag, dass er “so viele absurde Forderungen” noch nie gelesen habe: “Wirklich schockierend waren neben den stetig steigenden Opferzahlen in den Meldungen die Reaktionen, die auf Twitter formuliert wurden. Es entstand eine Erwartungshaltung gegenüber der übertragenden ARD und auch den Medien insgesamt, die schlicht nicht mehr realistisch ist.” Sein Kernargument: Seriöser Journalismus brauche Zeit.
Paris und die Medien: Warum Journalisten nicht so schnell sind wie die Wirklichkeit (stefanfries.tumblr.com)
Stefan Fries unterstreicht und ergänzt Udo Stiehls Gedanken: “Das Bizarre war in diesem Fall, dass das Ereignis nebenan passierte und sogar im Stadion hörbar war. Daraus resultierte vermutlich die Vorstellung, die Kameramänner im Stadion könnten mal eben nach draußen laufen und dort Aufnahmen machen. Allerdings ist es weder technisch noch journalistisch so ohne Weiteres möglich, von einer Fußballübertragung auf die sogenannten Elektronische Berichterstattung (EB) umzuschalten. Auch Sportjournalisten sind zwar Journalisten, aber in der Regel weder Experten für Terror noch kennen sie sich an den Orten aus, von denen sie über Fußball berichten. Zumal man ihnen aus Sicherheitsgründen auch nicht zumuten kann, an die Tatorte von laufenden Terrorangriffen zu kommen.” Im Medienmagazin “Breitband” spricht Fries darüber, wie beim “Deutschlandfunk” mit der Situation umgegangen wurde (ab Minute 4:20).
Terror in Paris, die ARD, Twitter und Journalismus: Be first, but first be right (journalismus-handbuch.de, Paul-Josef Raue)
Paul-Josef Raue reagiert ebenfalls auf Udo Stiehls Blogeintrag (er macht Stiehl versehentlich zum “Tagesschau-Sprecher” und seine Website versehentlich zum “Tagesschau-Blog”), allerdings kritischer: “Stiehls Hinweis ist richtig: Das Fernsehen lebt von Bildern. Nur: Wenn es die nicht gibt, reichen Sätze, als Laufband ins laufenden Programm eingeblendet, so wie es an Wahlabenden passiert, wenn der Ausgang unklar ist und der ‘Tatort’ läuft.”
“Was ich hier sage, sind Vermutungen” (blogmedien.de, Horst Müller)
Horst Müller schreibt über die “Hilf- und Ratlosigkeit öffentlich-rechtlicher Korrespondenten in Krisensituationen”. Er liefert eine Komplettabschrift des Gesprächs zwischen Susanne Daubner und Ellis Fröder in der “ersten Tagesschau-Sondersendung am späten Freitagabend”, die seiner Meinung nach zeige: “Wenn die ‘Mutter aller deutschen Fernsehnachrichten’ als erste Sondersendung nach dermaßen dramatischen Ereignissen wie am Freitagabend in Paris, lediglich ein sechs Minuten langes Geplänkel zweier in dieser Situation offensichtlich überforderter Fernsehfrauen zustande bringt, dann ist das schon fast eine Bankrotterklärung gegenüber den Zuschauern.” Felix Schwenzel antwortet (siehe letzer Link): “ich finde das gespräch, im gegenteil zu horst müller, allerdings beispielhaft gut: keine spekulationen, bzw. vermutungen klar als solche kennzeichnen, keine übereiligen schlussfolgerungen, dafür aber ein paar hintergründe die als gesichert gelten können.”
Medien in Extremsituationen: Abwarten? Live drauf? (falk-steiner.de)
Falk Steiner findet, das Warten von ARD, ZDF, n-tv und N24, “bis die Studioschminke sitzt, bis die Korrespondenten anrufbar sind”, lasse die Zuschauer allein: “Es muss nicht jede aufgeregte Meldung aufgegriffen werden. Aber soll Journalismus die Menschen nicht genau dann erreichen, wenn sie sich Fragen stellen? Ich meine: ja.”
Paris (dwdl.de, Hans Hoff)
Hans Hoff könnte sich für den Ernstfall und bei unklarer Nachrichtenlage “eine Vertrauensperson” vorstellen, die im TV auch mal sagen könne, dass sie nichts wisse, aber immerhin da wäre: “Vielleicht wäre es für alle Sender richtiger, sich nicht nur als reines Informationsmedium zu begreifen, sondern auch als zentrales Lagerfeuer, an dem jemand sitzt und einfach redet, eine kluge Frau, ein weiser Mann, eine Vertrauensperson.”
Wie ich die Attentate von Paris in der heute+ Redaktion erlebte (danielbroeckerhoff.de)
Daniel Bröckerhoff erwartete am Freitagabend eine ruhige Moderation von “heute+”, dann die ersten Eilmeldungen, komplette Programmumplanung und zweieinhalb Stunden Livestream: “Als ich im Auto sitze fühle ich mich als hätte ich gerade eine Breaking-News-Simulation mit VR-Brille gespielt. Ist das heute Abend wirklich passiert?”
ARD-Mann Bartels: “Mir haben die Knie gezittert” (sueddeutsche.de, Filippo Cataldo)
Filippo Cataldo wundert sich, dass das Erste am Freitagabend lange Zeit weiter aus dem Stade de France berichtete, während im ZDF, bei n-tv und N24 bereits Sondersendungen liefen: “Und in der ARD? Wurde man das Gefühl nicht los, dass die Sportreporter da ziemlich im Stich gelassen wurden von der Zentrale und den News-Spezialisten. Während des Spiels war nicht mal ein Lauftext mit Hinweis auf die Attentate eingeblendet worden. Auch innerhalb des Senders gab es dafür Kritik.”
Zum Menschen werden (faz.net, Tobias Rüther)
Tobias Rüther resümiert den TV-Abend (und die TV-Nacht) im Ersten und denkt über die medienkritischen Fragen bei Twitter nach, was denn die ARD da mache: “Sportfritzen, really? Aber man sitzt nur da und denkt: Quatsch, Leute, schaut doch nur mal in die Gesichter von Matthias Opdenhövel und Mehmet Scholl — aus denen etwas gewichen ist, was sonst immer da ist; jetzt steht in diesen Gesichtern etwas geschrieben, was sie selbst gar nicht in Worte fassen können, obwohl sie ständig darum gebeten werden.”
Wenn die Realität den Journalisten überholt (ksta.de, Joachim Frank)
Joachim Frank über die “schier nicht zu stämmende Herausforderung” für Printjournalisten, die Ereignisse von Freitagnacht “umfassend in der Samstagsausgabe abzubilden”, und Produktionsbesonderheiten beim “Kölner Stadt-Anzeiger”: “Wir möchten unsere Leser so aktuell wie möglich informieren. Aber auch glaubhaft, durch seriöse Quellen bestätigt. Die vorschnelle Weitergabe ungeprüfter Informationen, die sich im Minutentakt überschlagen – das kann und darf unsere Sache nicht sein.”
DJV dankt Journalisten (djv.de, Hendrik Zörner)
Der DJV-Vorsitzende Frank Überall findet, die Medien hätten “eine großartige Leistung” gezeigt: “‘Die Journalistinnen und Journalisten haben sich bewusst die Zeit genommen, um das zu tun, was ihre Aufgabe ist: sauber recherchieren'”.
Durch die Nacht mit dem Wolf (taz.de, Jürn Kruse)
Jürn Kruse schaut sich an, wie CNN, Moderator Wolf Blitzer und die ihm zugeschalteten Experten die Anschläge in Paris zu einer Livesendung verwursten: “In einer Folge der Fernsehserie ‘Die Simpsons’ fragt der Nachrichtensprecher Kent Brockman einen Experten: ‘Würden Sie empfehlen, dass alle in Panik geraten?’ Man hielt diese Frage aus dem Mund Blitzers an diesem Abend nicht für ausgeschlossen. Der Experte bei den Simpsons antwortet übrigens: ‘Allerdings, Kent.’ Man hielt diese Antwort aus dem Mund des CNN-FBI-CIA-Experten für ebenso wenig ausgeschlossen.”
News Media Scrambles to Cover Paris Shootings (nytimes.com, John Koblin, englisch)
John Koblin fasst zusammen, wie die US-Sender CNN, Fox News und MSNBC aus Paris berichteten: “For news organizations, one difference between the Paris attacks and breaking stories like the racial unrest in Ferguson, Mo., or Baltimore was the ability to send out a wide team of reporters instantly. That was far more difficult in this case, as the organizations had to rely on foreign networks for video feeds in the early hours. Even showing messages from social media was difficult because many of the initial postings on Twitter and Facebook were in French.”
Kommentar: Gerüchteküche soziale Medien (indertat.info, Mika Beuster)
Mika Beuster mit einigen Beispielen von verbreiteten falschen Infos in den sozialen Medien und dem Fazit: “Professioneller Journalismus und traditionelle Medien werden gebraucht. Verlässliche, nüchterne und einordnende Informationen, die aber nicht zynisch oder unempathisch aufbereitet werden, sind gerade in Krisenzeiten wichtig, damit sich die Öffentlichkeit ein Bild machen kann. Wer sich am Freitagabend nur über soziale Medien über die Geschehnisse in Paris informiert hat, lief Gefahr, ein recht schiefes Bild zu erhalten.”
Die Macht und Gefahr der sozialen Medien im Angesicht des Terrors (felixbeilharz.de)
Felix Beilharz über die Vor- und Nachteile der sozialen Medien in extremen Situationen wie Freitagnacht: “In jedem Fall hat der Tag gezeigt, welche Rolle die sozialen Medien für unsere Gesellschaft spielen. Als Kanal für Information, Hilfe und Berichterstattung — aber auch für Missinformation, Verängstigung und im schlimmsten sogar zur Unterstützung der Ziele der Terroristen.”
#Paris: The power, the horror, and the distortions (bbc.com, Dave Lee, englisch)
Dave Lee über “the power”, “the horror” und “the lies” der sozialen Medien in Krisensituationen: “But during a crisis social media becomes the single most significant platform for news to be spread, eyewitness experiences to be shared and official statements to be made. And inevitably, these same channels amplify misinformation, allowing rash judgements and prejudices to boil to the surface, fuelling fear and ignorance.”
Darf ich mich weigern bestimmte Dinge sehen zu wollen (dasnuf.de, Patricia Cammarata)
Patricia Cammarata schreibt über sich selbst, sie sei “empfindlich. Sehr.” Und: Es gebe Dinge, “die will ich persönlich nicht sehen. Denn ich brauche sie nicht, um Empathie zu empfinden. Ich brauche sie nicht, um mir vorzustellen, wie schlimm bestimmte Ereignisse sind. Meine abstraktes Vorstellungsvermögen war bislang ausreichend.” Felix Schwenzel antwortet Cammaratas Frage, ob sie sich weigern dürfe, bestimmte Dinge sehen zu wollen: “du darfst. du sollst. du kannst.”
Paris. Paris. (anneschuessler.com)
Anne Schüßler zog sich nach all den Nachrichten in klassischen und sozialen Medien zurück, kochte Gulasch und hörte Hörbücher: “Geredet habe ich über die Anschläge mit meinem Mann und den Menschen im Techniktagebuchredaktionschat, denn irgendwo musste es hin, aber es wollte dieses Mal nicht in die Öffentlichkeit. Die schnelle Berichterstattung voller Gerüchte und Annahmen, die ich schon am Abend vorher auf Twitter mitbekam und die mich zwei Stunden nicht losließ, war mir zu viel.”
Je suis … moi — über die Ehrlichkeit der Anteilnahme (stern.de, Micky Beisenherz)
Micky Beisenherz über ein selbstverordnetes 24-Stunden-Schweigegelübde sowie den verlockenden “Klickkuchen”. Und über Markus Söder, Matthias Matussek und all die anderen, die “ihr Gift ins Netz” twittern: “Es gibt sie nicht mehr, die kurze Zeit des Luftanhaltens, ja, Schnauzehaltens. Noch in das kollektive Entsetzen hinein fangen die ersten an, das Unfassbare auszuschlachten, für ihre Anteilnahme umzumünzen, Stimmung zu machen. Sie werfen Hashtags aus wie Schleppnetze für ihre zersetzenden Gedanken.”
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Und zum Abschluss noch ein Hinweis: Die “New York Times” hat ihre Paywall geöffnet und bietet die “coverage of Paris attacks” nun kostenlos an. Die “NZZ” hat nachgezogen.
Update, 17. November: Es sind noch ein paar Links dazugekommen:
Trauernd am Lagerfeuer (zeit.de, Lenz Jacobsen)
Lenz Jacobsen über “fünf Stunden Terror-Sondersendungen mit ARD und ZDF”: “Heute, Tagesschau, Sondersendungen, Plasberg, Tagesthemen, Illner: Wer am Samstagabend ein paar Stunden zusah, wie ARD und ZDF die Ereignisse vom Vorabend zu verarbeiten versuchten, traf auf eine merkwürdige Mischung aus Informationsvermittlung und Trauerritual, aus Bericht und Beschwörung.”
Säbelrasseln auf Papier (taz.de, Anne Fromm)
Anne Fromm schreibt, dass die Berichterstattung mit ihren Eilmeldungen und Livetickern längst “Teil des Terrors geworden” sei: “Aber auch handwerkliche Standards leiden. Im hyperventilierenden Onlinegeschäft geht es um Minuten. Da verwischt schon mal die Genauigkeit, da muss schon mal das Zweiquellenprinzip leiden, da werden Kleinigkeiten zu Nachrichten aufgeblasen, und da nimmt man es nicht so genau mit der journalistischen Aufgabe der Reduktion von Komplexität.”
Presserat: 60 Beschwerden gegen “Bild”-Bericht (tagesspiegel.de, Sonja Álvarez)
Sonja Álvarez über ein Foto aus dem Bataclan, das “Bild” und Bild.de veröffentlicht haben — wofür bereits 60 Beschwerden beim Deutschen Presserat eingegangen seien: “Wer das Bild gesehen hat, bekommt es nur schwer wieder aus dem Kopf, es zeigt den Musikclub ‘Bataclan’ nach den Anschlägen am Freitag in Paris: Leichen liegen auf dem Boden, Blutlachen finden sich neben ihnen und auf dem ganzen Boden. Alle großen deutschen Medien haben sich gegen eine so explizite Darstellung entschieden, die “Bild”-Zeitung aber hat das Foto am Montag auf ihrer zweiten Seite gedruckt. Offensichtlich zum Entsetzen vieler Leser. ”
Liberale im Krieg (tagesanzeiger.ch, Constantin Seibt)
Constantin Seibt schreibt mit Blick auf zwei Leitartikel aus der Chefetage, die “NZZ” zeige nach den Attentaten in Paris, dass sie ihre liebralen Wurzeln verloren habe: “Wenn etwas noch gefährlicher ist als fremde Terroristen, sind es die eigenen Liberalen. Sie haben Kopf und Kompass verloren. Und sie haben vergessen, wo sie herkommen.”
ARD-Aktuell-Chef verteidigt Paris-Berichterstattung (tagesspiegel.de, Kurt Sagatz)
Kurt Sagatz mit einer Stellungnahme von ARD-Aktuell-Chef Kai Gniffke: “Kritik hatte es vor allem daran gegeben, weil das Erste am Freitagabend sogar auch dann noch vom Fußball-Freundschaftsspiel Frankreich gegen Deutschland berichtet hatte, als die ersten Anschläge bekannt geworden waren. ‘Es hat eine sehr intensive Diskussion darüber geben, ob es in der ersten Stunde richtig war, im Fußballstadion zu bleiben, dort wo alles begann. Ich habe das nachhaltig am Freitagabend unterstützt, denn nirgendwo war, meiner Meinung nach, in diesen Moment authentischer der schockierte Zustand dieser Stadt zu transportieren, als in diesem Stadion’, sagte dazu nun Kai Gniffke.”
Mit “Borsalino” gegen den Weltuntergang (persoenlich.com, Matthias Ackeret)
Matthias Ackeret wundert sich über das Fernsehprogramm des SRF am Freitagabend: “Als am Freitag in Paris der ‘Krieg’ ausbrach, handelte das Schweizer Fernsehen standesgemäss. Es sendete die französische Gaunerkomödie ‘Borsalino’ mit den Staatshelden Belmondo und Delon. Französischer geht es nicht. Zugegeben: Das mag angesichts der grauenhaften Ereignisse in Paris zynisch klingen. Aber die Informationsleistungen der einzelnen Medien kann man an solchen Tagen messen. Das gute alte CNN machte einen hervorragenden Job, viele andere Sender mit ihren Sonderprogrammen auch. Nicht zu vergessen die privaten Internetdienste, die bei solchen Ereignissen zu Höchstleistungen auflaufen. Aber ‘Borsalino’? Hallo SRF!”
Too little too late: The horror of Paris proves the media need to debunk rumours in real time (medium.com, First Draft, englisch)
First Draft findet, es müssen einen “live ‘service'” geben “where debunking happens in real-time on Facebook, Twitter, and Instagram”: “Certainly, around these events, there have been more efforts by news organisations to debunk information than I’ve seen previously. In the 24 hours after the Paris attacks, I counted at least five articles with titles along the lines of ‘The online rumours about Paris you shouldn’t believe’. (…) While I don’t want to be churlish, this isn’t good enough. These reflective round-up pieces published after the fact are too late.”
Wenn Terrorismus zu Social-Media-Terror führt (blog.gilly.ws, Gilly)
Gilly beschreibt die typischen fünf Stufen der “Empörungs- und Fehlinformations-Maschinerie” in den sozialen Medien: “Ein kurzer Blick auf Twitter und Facebook offenbarte: da ist wieder der gleiche Mist am Laufen, wie immer bei solchen Vorkommnissen. Ich will das hier mal am Fall der Pariser Terrorattacken aufdröseln, grundsätzlich passiert das aber genau in dieser Form bei jeder Katastrophe.”
“Ich steh direkt hinter den Polizisten mit gezogener Waffe”: Der Terror-Porno des “Stern” (stefan-niggemeier.de)
Stefan Niggemeier über ein Video von “Stern”-Reporter Philipp Weber, der mit seinem Handy Polizisten verfolgt, als die gestern mit gezogener Waffe durch den Pariser Vorort Saint-Denis jagen: “Nichts erfährt der Zuschauer aus diesem Video darüber, was hier los war, wer von den Polizisten gesucht wurde und warum, ob die Situation wirklich so gefährlich war oder warum womöglich nicht. Es ist ein reiner Terror-Porno, den der ‘Stern’ seinen Zuschauern zum gemeinsamen Aufgeilen zur Verfügung stellt.”
Kriegs-Headlines nach #ParisAttacks (ndr.de, Sinje Stadtlich, Bastian Berbner und Janina Kalle, Video, 6:50 Minuten)
“Zapp” schaut auf französische und internationale Schlagzeilen, in denen aktuell häufig das Wort “Krieg” zu lesen ist: “Alle Welt berichtet. Aber schießen die Medien beim Abbilden und Bewerten der Taten übers Ziel hinaus? Der ‘Figaro’ schreibt von ‘Krieg mitten in Paris’, viele andere Zeitungen ziehen mit. Auch international ist in Medien von Krieg die Rede. Sachliche und kritische Berichterstattung ist schwer in Extremsituationen, doch wichtig.”
Exklusiv: Die Stunde der Kreiszeitung (meyview.com, Olaf Meyer)
Olaf Meyer mit einer Dokumentation der Exklusiv-Nachricht der “Kreiszeitung” (und den Reaktionen darauf), dass am Dienstagabend vor dem Stadion in Hannover ein “Rettungswagen mit Sprengstoff” entdeckt worden sei.
Was jetzt passiert und sofort berichtet wird (konradlischka.info)
Konrad Lischka blickt — mit einer Kolumne von Sascha Lobo im Hinterkopf — auf die Berichterstattung von gestern und sieht überall nur Polizisten im Einsatz: “In der Wucht der Berichterstattung wirkt diese Verengungen auf Polizeieinsätze wie die von Lobo gemeinte Abkürzung. Es geht jetzt sofort und zeigt eine Reaktion und Handlungsbereitschaft. Die Ursachen und die lösbaren Probleme analysiert das nicht.”
Nach den Pariser Anschlägen: Zensiert sich das Fernsehen selbst? (blog.ekkikern.com)
Ekki Kern kann nicht nachvollziehen, warum auf der einen Seite von überall zu hören ist, “dass es gerade jetzt wichtig sei, so weiterzumachen wie bisher”, auf der anderen Seite Fernsehsender Thriller mit Terror-Bezug rigoros aus dem Programm nehmen und das mit dem “Respekt vor den Opfern” der Anschläge in Paris begründen: “Ich bin der Meinung, dass jeder, der bereits im Akt der Ausstrahlung eines solchen Films Respekt gegenüber Opfern vermissen lässt, die Wahl hat, den Sender zu wechseln. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass kaum jemand das tun würde.”
Das war Nachrichten-Fernsehen wie vor 30 Jahren — einfach schlecht (stern.de, Jens Maier)
Jens Maier hat am Dienstagabend, als in Hannover die Absage des Fußballländerspiels bekannt wurde, Fernsehen geguckt und findet, die “Öffentlich-Rechtlichen haben an diesem denkwürdigen TV-Abend versagt”: “Liebes ZDF, das war Nachrichten-Fernsehen wie vor 30 Jahren — einfach schlecht. Während die kleinen Nachrichtensender N-TV oder N24 seit kurz vor halb acht, also seit Bekanntwerden der Spielabsage, live aus Hannover berichten und Reporter in unmittelbarer Nähe des Stadions live zugeschaltet sind, zeigen die Mainzer mit ihrer Schar an Mitarbeitern vor Ort, eine Sportmoderatorin im Studio vor einem Archivfoto. Das wirkt nicht nur wie aus der Zeit gefallen, sondern ist es auch. Nur in HD.” Maiers Kollege Carsten Hedböhmer sieht das anders.
CNN anchor blames French Muslims for failure to prevent attacks (washingtonpost.com, Erik Wemple, englisch)
Erik Wemple über zwei CNN-Moderatoren, die Yasser Louati, einen Vertreter eines Kollektivs gegen Islamophobie, fragen, warum die muslimische Community nichts gegen die Attentäter von Paris gemacht hätte: “In the year 2015, a Muslim rep hearing that question would be excused for simply unplugging from the interview and allowing the host to languish in his own ignorance. Louati, however, did his best to combat bigotry”.
Did the media ignore the Beirut bombings? Or did readers? (vox.com, Max Fisher, englisch)
Max Fisher reagiert auf die Vorwürfe (samt falschem Explosionsfoto) in den sozialen Medien, über das Attentat in Beirut hätte niemand berichtet, und dreht den Spieß um: Nicht die Medien hätten die Geschichte ignoriert, sondern die Leser, Zuhörer und Zuschauer: “Yet these are stories that, like so many stories of previous bombings and mass acts of violence outside of the West, readers have largely ignored. It is difficult watching this, as a journalist, not to see the irony in people scolding the media for not covering Beirut by sharing a tweet with so many factual inaccuracies — people would know that photo was wrong if only they’d read some of the media coverage they are angrily insisting doesn’t exist.”
“Was ist mit Beirut?”: Viele Tote ≠ viel Berichterstattung — es kommt darauf an, wo es passiert (watson.ch, Leo Helfenberger)
Leo Helfenberger ist in den sozialen Medien ebenfalls auf zahlreiche Klagen gestoßen, dass über die Anschläge in Paris extrem ausführlich berichtet werde, über die in Beirut hingegen kaum. Das nahm er zum Anlass mal auszuzählen, wie ausführlich in der Schweiz “über 10 schreckliche Ereignisse” (von den Anschlägen in Mumbai bis Srebrenica) berichtet wurde.
Jetzt kommen wir! (tagesspiegel.de, Markus Ehrenberg)
Markus Ehrenberg mit einer Vorschau auf anstehende Satiresendungen und der Frage, ob “jetzt Witze über Hass und Gewalt sein” dürfen: “Die Satiresendung ‘Die Anstalt’ lief bereits am Dienstagabend wieder nach Plan. Komiker Alfons ging darin auf den Terror von Paris ein. ‘Satire möchte Bezug auf die aktuelle politische Entwicklung nehmen’, sagt ein ZDF-Sprecher. ‘Deshalb versuchen wir in allen Formaten angemessen auf die Situation nach den Anschlägen zu reagieren.’ Der Chefredakteur des Satiremagazins ‘Titanic’, Tim Wolff, betont: ‘Satiriker dürfen in Zeiten des Terrors so weit gehen, wie sie es für angemessen halten, aber nicht so weit wie Terroristen.'”
IS bedankt sich bei Medien für Hilfe bei Verbreitung von Angst und Schrecken (der-postillon.com)
“Der Postillon” hat exklusiv die neueste Videobotschaft des sogenannten “Islamischen Staats” gesehen, in der die Terrormiliz sich ausgiebig bei deutschen und europäischen Medien bedankt: “Einen besonderen Dank sprach der IS-Kämpfer an Bild.de aus. ‘Der gesamte obere Teil der Seite ist für uns reserviert. Überschrift: ‘Terror-Angst in Europa’ Danke! Vielen Dank! Schöner hätten wir das nicht formulieren können.'”
Update, 24. November:
ARD World Service (taz.de, Anne Fromm)
Anne Fromm geht in Anbetracht der Berichterstattung über die Anschläge in Paris der Frage nach, ob “wir einen öffentlich-rechtlichen 24-Stunden-Nachrichtensender” brauchen: “Hätte in dieser Situation nicht ein öffentlich-rechtlicher Nachrichtenkanal geholfen? Ein Sender, der auf das weltweite Korrespondentennetz zugreifen kann, dessen Moderatoren geschult sind, schnell und souverän zu reagieren, und der live gehen kann, sobald in der Welt etwas passiert. Die BBC hat so einen Sender: BBC World Service. In den USA gibt es CNN. In der arabischen Welt Al-Dschasira. In Frankreich France24, in Israel I24. Warum leisten sich die Öffentlich-Rechtlichen so einen Kanal nicht?”
Im Interview die Pariser Journalistin Suzanne Krause (br.de, Daniel Ronel, Audio, 7:07 Minuten)
Daniel Ronel spricht mit der “Pariser Journalistin” Suzanne Krause über die Reaktionen der französischen Medien auf den Terror in Paris.
Lektionen in Hasspropaganda (erbloggtes.wordpress.com)
“Erbloggtes” hat sich einzelne Berichte aus Israel und Palästina zu den Attentaten in Paris angeschaut und leitet aus den darin konstruierten “Wir” und “Die” einige “Lektionen in Hasspropaganda” ab: “Erlaubt es ein Blick in fremde Deutungen der Pariser Anschläge, besser wahrzunehmen, was bei der Betrachtung der eigenen Deutungen verborgen bleibt? Dies soll hier unternommen werden, und zwar ausgehend von Deutungen aus Israel/Palästina über amerikanische bis hin zu deutschen Interpretationen von ISIS, seinen Gegnern und seinen Verbündeten.”
Neue Töne von der Falken-Strasse (medienwoche.ch, Nick Lüthi)
Nick Lüthi liest einen Kommentar von “NZZ”-Chefredakteur Eric Gujer und bemerkt, dass “der Begriff der Freiheit kein einziges mal” vorkomme, “Sicherheit dagegen sechs mal”: “Wenn Eric Gujer beim Amtsantritt angekündigt hatte, das liberale Profil der NZZ schärfen zu wollen, dann lag die Betonung wohl stärker auf schärfen und weniger auf liberal.”
Die NZZ ruft zum Krieg der Religionen auf (infosperber.ch, Christian Müller)
Christian Müller über einen “NZZ”-Feuilleton-Artikel, der “von Einseitigkeit, Einäugigkeit, von historischer Verkürzung und Simplifizierung” strotze: “Der nicht etwa als Gastbeitrag auf der täglichen Seite ‘Meinung & Debatte’ abgedruckte, sondern als Feuilleton-Seitenaufmacher platzierte Leitartikel von Necla Kelek schliesst mit dem Satz: ‘Es besteht kein Generalverdacht gegen die Muslime, aber die Unschuldsvermutung gilt auch nicht mehr.’ Eine juristische Glanzleistung. Es ist zu befürchten, dass auch die Unschuldsvermutung gegenüber der NZZ-Redaktion nicht mehr angezeigt ist. Oder in Necla Keleks bildhaften Worten: Die NZZ ist — mittlerweile — ein rauchender Colt.”
Hört auf mit dem Terror-Porno (ankerherz.de, Stefan Kruecken)
Stefan Kruecken über “eine durchgedrehte Medien-Welt”, die sich darin überbiete, die Angst vor Terror weiterzutreiben: “Gut für die Auflage, gut für die Klick-Zahl. Aber sonst? Wenn die Satire-Seite ‘Postillon’ vermeldet, dass sich der IS für die Verbreitung von Angst und Schrecken bedankt, kann man darüber kaum noch lachen. Es ist leider wahr.”
Gedanken zu Terror: Angst. Macht. Sprache. (blog.patrickbreitenbach.de)
Patrick Breitenbach schreibt ebenfalls über die Verstärkerfunktion der Medien: “Seit einer Woche ist ganz Europa in Angst und Schrecken versetzt und zwar mit Hilfe von Taten, Worten und Bildern. Die Tat an sich ist minimal im Vergleich zu den schrecklichen Taten, die in aller Welt stattfinden. Der Aufwand der Tat war minimal und doch so gewählt, dass der Transport der Tat durch Sprache und Bilder eine maximale Dimension annehmen konnte.”
Medien, Polizei und die Inszenierung des Terrorismus (zeit.de, Yassin Musharbash)
Yassin Musharbash in einer Rede über die Dilemmata (“In der Tat sind Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit der Sauerstoff des Terrorismus. Und mehr als jede andere Gruppe entscheiden Journalisten über die Verteilung dieser beiden Ressourcen.”) und Maxime (“Auch unter Einsatz weniger signifikanter Ressourcen und geringerer Gefahren sind solche Geschichten machbar. Die Erkenntnis ist in jedem Fall dieselbe: Das Gegengift zu Propaganda und Inszenierung lautet Recherche.”) der Terrorismus-Berichterstattung.
Die Terror-PR-Falle (breitband.deutschlandradiokultur.de, Katja Bigalke, Audio, ab Minute 4:40)
Katja Bigalke spricht mit “Zeit”-Redakteur Yassin Musharbash über die Problematik, die eine ausgiebige Terror-Berichterstattung birgt.
Seltsame Szenen aus der Terror-News-Welt (nzz.ch, Rainer Stadler)
Rainer Stadler beschreibt “seltsame Szenen” rund um die Berichterstattung über die Paris-Attentate (von 1000-Euro-Forderungen von Hobbyfilmern bis zu Artikeln über die Trauer in den sozialen Netzwerken über einen erschossenen Polizeihund): “Anhand von tragischen Ereignissen kann man auch Wegmarken der Medienentwicklung setzen. Als vor zehn Jahren islamistische Extremisten Anschläge auf die U-Bahn in London verübten, waren wohl erstmals auf den Titelseiten der Presse Fotos zu sehen, welche Passanten mit ihren Mobiltelefonen gemacht hatten. Was damals aussergewöhnlich war, ist inzwischen Alltag. Massenmedien und soziale Netzwerke sind in dauernder Interaktion — zur Unterhaltung, zur Leserbindung. Manchmal sogar zugunsten der Information.”
Sofort so nah (sueddeutsche.de, Johannes Boie)
Johannes Boie sieht in Periscope-Live-Reportagen und den Dauernachrichten in sozialen Medien ethische Fragen auf die Rezipienten (und die Medien) zukommen: “Die ständige Präsenz von Handys wird in naher Zukunft dafür sorgen, dass ein Anschlag oder eine Geiselnahme aus Opfer- oder Täterperspektive live oder nur wenig verzögert ins Netz übertragen wird. Und dann? Zuschauen? Wegschauen? Es ist nicht die einzige medienethische Frage, vor die einen die technische Entwicklung der Medien stellt.”
Was sollen denn die Kinder denken? (faz.net, Ursula Scheer)
Ursula Scheer über einen (inzwischen zurückgezogenen) “Logo!”-Beitrag, der Kindern die Anschläge von Paris erklären soll: “Wenn dieser Beitrag etwas lehrt, dann wie man Kindern (und Erwachsenen) die Attentate von Paris nicht erklären kann.”
Kinder im Umgang mit Medien — wie können Eltern helfen? (sfr.ch, Claudio Fuchs)
Claudio Fuchs sieht Probleme, wenn Kinder und Jugendliche ungeschützt der Dauerterrorberichterstattung dieser Tage ausgesetzt sind: “Die ständige Konfrontation mit solchen verstörenden Bildern kann ernsthafte Konsequenzen auf das Wohlbefinden haben.”
1. ARD-Doping-Doku bringt Russland unter Druck (ndr.de, Bastian Berbner, Video, 3:18 Minuten)
Häufig ist es so: Investigativjournalisten finden tolle/erschütternde/überraschende Dinge raus, konkrete Folgen haben ihre Berichte aber nicht. Bei Hajo Seppelts Doping-Doku “Geheimsache Doping. Im Schattenreich der Leichtathletik” könnte das nun anders sein. Denn die WADA, die World Anti-Doping Agency, schlägt vor, Russlands Leichtathelten komplett von den Olympischen Spielen 2016 auszuschließen. Und das aufgrund von Seppelts Recherchen.
2. Stoff für Fremdenfeinde: die erfolgreiche Social-Media-Strategie von “Focus Online” (stefan-niggemeier.de)
Legt man die Anzahl der Shares und Likes zugrunde, ist “Focus Online” die erfolgreichste deutsche Medienmarke — noch vor Bild.de, welt.de und “Spiegel Online”. Irgendwas müssen Burdas Social-Media-Redakteure also richtig machen. Tun sie auch, zumindest wenn man kein Problem mit digitalem Beifall von “Pegida”, AfD und NPD hat. Den Vorwurf, “Focus Online” greife gezielt “dreckige Likes aus der rechten Ecke” ab, dementiert Chefredakteur Daniel Steil: “schade, dass sie das so sehen. Dem ist aber gewiss nicht so.”
3. “Focus” übt sich als Handlanger von AfD und “Demo für alle” (nollendorfblog.de, Johannes Kram)
An der Berliner “Schaubühne” feiert das Stück “Fear” Premiere, in dem es auch um die AfD-Europaabgeordnete Beatrix von Storch geht. In der gleichen Nacht brennt von Storchs Auto. Der “Focus” mache aus diesem “temporalen einen kausalen Zusammenhang”, kritisiert Johannes Kram.
4. Der ORF Wien, die alte Gerüchteschleuder (kobuk.at, Helge Fahrnberger)
“Wien heute”, die Lokalnachrichten des ORF, hätten “eine seit mindestens zwei Monaten im Internet kursierende Verkehrscam-Aufzeichnung eines Schlepper-LKW-Unfalls als Nachricht verkauft”, ärgert sich Helge Fahrnberger. Das Problem sei aber nicht nur das Alter des Videos, sondern auch die Dramatisierung durch den ORF: Die Redaktion habe einen “Unfall-Soundtrack” über die Bilder gelegt, die “im Original ohne Sound aufgenommenen” wurden.
5. Verkehrsdatenspeicherung (neusprech.org, Kai Biermann)
Raider heißt jetzt Twix — und die VDS heißt jetzt VDS. Genauer gesagt: Die Vorratsdatenspeicherung, bislang auch als digitale Spurensicherung, private Vorsorgespeicherung, Speicherpflicht und Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten, Mindestspeicherfrist, Mindestspeicherdauer und Mindestdatenspeicherung bekannt, wurde von Angela Merkel nun erneut umgetauft. In Verkehrsdatenspeicherung. Das Gesetz bleibt dasselbe.
6. Leitfaden zum Umgang mit säumigen Autoren (prinzessinnenreporter.de, Marit Hofmann)
Die Deadline — jeder freie Journalist kennt sie, fast jeder fürchtet sie. Marit Hofmann erlebt die täglichen Mini-Dramen der Abgabefristen aus der Perspektive der Gegenseite: Als Redakteurin hat sie mittlerweile langjährige Erfahrung mit den absonderlichsten Ausreden. Jetzt stellt sie acht verschiedene Abgabe-Typen vor.
Es ist nicht unwichtig, welche Bilder man im Kopf hat, wenn man über Flüchtlinge redet.
Wenn “Spiegel Online”-Kolumnist Jan Fleischhauer über Flüchtlinge redet, hat er zwei Bilder im Kopf, aber wenn es nach ihm geht, passt nur eins davon zur Realität.
Da wäre zum einen das hier, das er auf der Facebook-Seite der Grünen-Politikern Katrin Göring-Eckardt gefunden hat:
“Es ist das, was man ein herziges Bild nennt”, schreibt Fleischhauer. “Wer keine Seele aus Stein hat, der möchte das Kind an die Hand nehmen und an einen sicheren Ort bringen.”
Und dann das andere Bild, auf der Titelseite der “FAZ” vom 30. September:
“Man sah darauf Neuangekommene, die auf ihre Registrierung als Asylbewerber warteten”, schreibt Fleischhauer. “Ein Kollege, mit dem ich telefonierte, fragte mich, ob ich bemerkt habe, dass es sich von vielen Flüchtlingsfotos unterscheide. Er hatte recht: Es gab darauf weder Kinder noch Frauen. Man sah ausschließlich Männer, die sich an weißen Sperrgittern gelehnt die Zeit vertrieben.”
Und das, findet Fleischhauer, treffe die “Migrationswirklichkeit” “leider” viel besser als das herzige Kinder-Bild:
Wer wie Katrin Göring-Eckardt vor allem schutzbedürftige Kinder sieht, hält jeden für einen Unmenschen, der laut über die Grenzen der Aufnahmefähigkeit nachdenkt. Was die Migrationswirklichkeit angeht, sprechen die Fakten leider gegen die Fraktionsvorsitzende der Grünen und für die “FAZ”: Rund 70 Prozent derjenigen, die zu uns kommen, sind allein reisende, junge Männer.
Es ist also klar, welches Bild Fleischhauer in die Köpfe seiner Leser bringen will:
Fleischhauer schreibt:
Bislang spielt sich die Krise abseits der Innenstädte ab, wo die Leute, die in der Flüchtlingsdebatte den Ton angeben, gerne wohnen. Wer durch die Einkaufszonen von Hamburg oder München schlendert, würde nie auf die Idee kommen, dass man in vielen Kommunen nicht mehr weiß, wie man der Lage Herr werden soll. Aber dieser Zustand des seligen Nebeneinanders kann sich schnell ändern. Der Soziologe Armin Nassehi, der übrigens ein Befürworter von mehr Zuwanderung ist, spricht von einer “Maskulinisierung” des öffentlichen Raums, auf die man sich beizeiten einstellen sollte.
Man wird sehen, wie das aufgeklärte Deutschland reagiert, wenn das neue Eckensteher-Milieu die inneren Großstädte erreicht. Für die #Aufschrei-Welt, in der schon ein zu offensiver Blick auf Po oder Busen einen sexuellen Übergriff markiert, verheißt das Wort “Maskulinisierung” jedenfalls nichts Gutes.
Für Fleischhauer offenkundig auch nicht. 70 Prozent junges, männliches “Eckensteher-Milieu”, du liebe Zeit!
Woher er diese Zahl hat, verrät er allerdings nicht.
Vielleicht von Boris Palmer. Der Grünen-Politiker hatte nicht nur die gleiche Zahl, sondern vermutlich auch ähnliche Bilder im Kopf wie Fleischhauer, als er Ende September in der “taz” über Flüchtlinge sprach:
“Derzeit sind über 70 Prozent der Flüchtlinge junge Männer, die ganz andere Vorstellungen von der Rolle der Frauen, der Religion, Meinungsfreiheit, Homosexualität oder Umweltschutz in der Gesellschaft haben als wir Grüne. Machen wir uns nichts vor: Die Aufgabe ist riesig.”
Seit Palmer und Fleischhauer geistern die Behauptungen immer wieder durch die Medien. Vor drei Wochen zum Beispiel in einem Interview der “Welt”:
Die Welt: Über 70 Prozent der Flüchtlinge sind allein reisende junge Männer. Der Soziologe Armin Nassehi warnt schon vor einer Maskulinisierung des öffentlichen Raums. Was heißt das im Alltag?
Und über noch etwas sollten sich die Politik und die Deutschen keine Illusionen machen: Rund 70 Prozent der Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, sind zwischen 18 und 30 Jahre alt. Junge Männer – egal welcher Herkunft und welches Glaubens – sind besonders anfällig dafür, Gewalttaten zu begehen.
Wie stellen sich unsere Politiker künftig diese Gesellschaft eigentlich vor, wenn mehr als 70 Prozent der Asylanwärter und Flüchtlinge junge Männer sind, die andere Vorstellungen haben von Religion, Meinungsfreiheit, Toleranz, vom Rollenverständnis Mann/Frau, für die in ihrer bisherigen Lebenswirklichkeit christliche Werte und Demokratie bislang Fremdworte waren (…)?
Ganz besondere Aufmerksamkeit erregen die Aussagen aber bei jenen, die von den Medien sonst eigentlich nicht so viel halten und von den Flüchtlingen erst recht nicht:
Auch in rechtspopulistischen Zeitungen, auf ausländerfeindlichen Hetzseiten und in Naziforen werden die Aussagen dankbar aufgegriffen.
Quellen (außer Fleischhauer oder Palmer) oder Belege für diese Behauptung finden sich nirgends.
Wir haben uns daher mal vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) die aktuellsten Daten über das Alter und Geschlecht von Asylbewerbern besorgt. So sehen sie (für die von Januar 2015 bis einschließlich September 2015 gestellten Anträge) aus:
Altersgruppe
männlich
weiblich
bis unter 16
43.482
36.743
16 bis unter 18
9.706
2.948
18 bis unter 25
56.539
14.743
25 bis unter 30
34.517
11.685
30 bis unter 35
23.075
9.858
35 bis unter 40
15.213
7.549
40 bis unter 45
10.058
5.003
45 bis unter 50
6.263
3.336
50 bis unter 55
3.513
2.213
55 bis unter 60
1.870
1.521
60 bis unter 65
965
839
65 und älter
834
967
unbekannt
2
1
Gesamt
206.037
97.406
Der Anteil der jungen Männer — sagen wir mal: 18 bis 35 Jahre — an der Gesamtzahl der Flüchtlinge beträgt demnach nicht 70, sondern 38 Prozent. Selbst wenn man “junge Männer” als 16 bis 40 Jahre definiert, kommt man nur auf 46 Prozent.
Es stimmt, dass überwiegend männliche Flüchtlinge in Deutschland Asyl suchen (rund 70 Prozent). Doch fast die Hälfte davon ist entweder minderjährig oder älter als 35.
Viele “besorgte” Bürger und Medien stellen insbesondere die jungen, allein reisenden Männer unter den Flüchtlingen als Gefahr dar. Behauptungen wie die von Fleischhauer und Palmer erleichtern ihnen die Panikmache, denn wenn sogar die Gutmenschenmedien 70 Prozent Eckensteher-Flüchtlinge ausmachen, ist die endgültige Schändung des Abendlandes ja praktisch nicht mehr aufzuhalten.
Den Hetzern kommt dabei auch zugute, dass durch die Betonung des (falschen) “junge Männer”-Anteils ein anderer Ausschnitt der (tatsächlichen) Migrationswirklichkeit verzerrt wird: der Anteil der Kinder.
70 Prozent der Flüchtlinge sind junge, alleinstehende Männer – es gibt kaum Kinder.
Aber gerade sie tauchen in den Pressebildern auf. Die Medien informieren nicht mehr, es wird mit Gefühlen manipuliert: Die großen Augen eines verlorenen Kindes können selbst ein Herz aus Stein erweichen. Viele im Land wollen helfen, weil sie den Ernst der Lage vollkommen falsch einschätzen und die Krise noch nicht in den Innenstädten angekommen ist.
So schreibt es ein Autor des “Kopp”-Verlags. Die Rechnung ist ja auch nicht allzu schwer: Wenn schon 70 Prozent der Flüchtlinge junge Männer sind, kommen noch alte Männer dazu, dann junge Frauen, alte Frauen — da muss die Zahl der Kinder ja gering sein.
In Wahrheit aber ist fast jeder dritte Flüchtling minderjährig, jeder vierte ist jünger als 16. Allein in diesem Jahr haben laut BAMF bis Ende September fast 7.500 unbegleitete und 85.000 begleitete Minderjährige Asylanträge gestellt.
Keine Frage: Wer nur schutzbedürftige Kinder sieht, verkennt die Realität. Wer 70 Prozent junge Männer und kaum Kinder sieht, verkennt sie aber auch.
Die Statistiken für 2014 sehen übrigens ähnlich aus (und sind für jeden einsehbar, sogar für Journalisten und Politiker). Anteil der jungen Männer: 37 Prozent. Anteil der Kinder unter 16: 28 Prozent.
Ob die jungen Männer allesamt alleine reisen und oft an Ecken stehen, welches Verständnis sie von der Rolle der Frau, von Religion, Meinungsfreiheit, Homosexualität und Umweltschutz haben, ist den Statistiken übrigens nicht zu entnehmen.
Bei diesem Teufel-an-die-Wand-Malen nach Zahlen fällt auch unter den Tisch, warum vor allem junge Männer nach Europa flüchten. Dafür gibt es viele Gründe, die zum Beispiel die „Süddeutsche Zeitung“ vor Kurzem genauer betrachtet hat:
„In vielen Familien, die in Gefahr geraten, reichen die Ressourcen einfach nicht aus, um mehr als einem Mitglied die Flucht nach Europa zu finanzieren”, sagt Bernd Mesovic von Pro Asyl. Aus verschiedenen Gründen würden dann eher die jungen Männer als Frauen oder Ältere und Kinder auf den Weg geschickt.
So sind Männer etwa in der Regel körperlich stärker und – je nach Herkunft – häufig besser ausgebildet als Frauen. Deshalb gelten ihre Chancen als größer, eine gefährliche Reise zu überleben und am Zielort Arbeit zu finden. Häufig stellen sie aus traditionellen Vorstellungen heraus den Haupternährer – und stehen damit in der Verantwortung, für die Familie zu sorgen.
Auch die Gefahr, als Kämpfer zwangsverpflichtet zu werden, motiviert laut Experten viele Männer zur Flucht:
“Männer wollen so vermutlich einer direkten Beteiligung am Kampfgeschehen entgehen”, sagte Pro-Asyl-Chef Günter Burkhardt SPIEGEL ONLINE. Die Gefahr, getötet oder zwangsrekrutiert zu werden, sei für sie etwa im Bürgerkriegsland Syrien sehr hoch.
Darüber hinaus „kümmern sich in vielen Fällen Frauen um den Nachwuchs und bleiben aus diesem Grund eher in den Herkunftsländern zurück“, erklärt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Für Frauen komme in manchen Gebieten zudem das Risiko hinzu, auf der Flucht verschleppt und vergewaltigt zu werden, so Pro Asyl.
Es ist also, wie die “Süddeutsche” feststellt, …
nicht überraschend, dass sich – unabhängig vom konkreten Anlass der Flucht – eher Männer auf die gefährliche Reise machen, während die Familien in der Hoffnung zurückbleiben, dass sie später über eine Familienzusammenführung ohne Risiko nachreisen können – oder aus der Ferne vom Mann versorgt werden.
All das spielt bei Fleischhauer, Palmer, den Rechtspopulisten und Nazis keine Rolle. Sie stürzen sich auf die eine Zahl, die eine falsche Zahl, und erzeugen damit ein verzerrtes und unvollständiges Bild, das seit Wochen weitergetragen und verfestigt wird.
Und dann war da noch Kai Gniffke, der Chefredakteur von “ARD Aktuell”. Der “Focus” schrieb vor zwei Wochen:
Die „Tagesschau“ und die „Tagesthemen“ zeige nicht immer ein richtiges Bild der nach Deutschland drängenden Flüchtlingen. Das hat „ARD aktuell”-Chefredakteur Kai Gniffke jetzt eingeräumt.
Vor Branchenexperten in Hamburg sagte Gniffke: „Wenn Kameraleute Flüchtlinge filmen, suchen sie sich Familien mit kleinen Kindern und großen Kulleraugen aus.“ Tatsache sei aber, dass „80 Prozent der Flüchtlinge junge, kräftig gebaute alleinstehende Männer sind“.
Also:
„Wir müssen sensibel sein, damit die Bildauswahl nicht allzu sehr auf Kinder fokussiert wird“, kündigt der Chefredakteur gegenüber FOCUS an.
Die, die sonst nur Lügen in der Presse sehen, glaubten diese Nachrichten ausnahmsweise sofort und verkündeten triumphierend:
Der “Focus”-Artikel mit den Aussagen Gniffkes dient den Verschwörungstheoretikern und Rechtspopulisten sogar als Beleg dafür, dass “der Begriff ‘Lügenpresse’ absolut richtig!!” sei. Die Argumentation:
Wenn also diese Berichterstattung über die Flüchtlinge ansich „getürkt“ ist, dann sind es andere Themen aus der Flüchtlingskrise ebenso. Der mediale Modder fängt an zu stinken!
Zu offensichtlich wurde in den Medien gelogen, das „saubere Bild“ konnte nicht mehr aufrecht erhalten werden. Jeder wusste, dass sie lügen und somit ist der Begriff „Lügenpresse“ absolut richtig!!
(gefunden auf einer Seite, auf der man “Weltnetz” statt “Internet” sagt.)
Bloß ist das zentrale Zitat von Gniffke …
… völliger Unsinn. Wir haben ihn gefragt, wie er auf die Zahl kommt. Seine Antwort: Dieses “angebliche Focus-Zitat ist komplett falsch”.
Es gibt allerdings einen Mitschnitt seiner Aussagen (ab 47:30), und der zeigt: Der “Focus” hat Gniffke weitgehend korrekt zitiert. Er sagte:
Immer, wenn wir Flüchtlinge zeigen und wenn die dann als Beispiel vorkommen, dann sind das Familien. Meistens: Frauen, Kinder… Tatsächlich ist es aber so: 80 Prozent der Flüchtlinge sind kräftig gebaute, junge Männer. Die da überwiegend auch alleine kommen. Wie gesagt: Die Berichterstattung sieht aber irgendwie sehr familiär aus. Nun kennt jeder Journalist das: Och, nee, das ist viel schöner, auch als Kameramotiv, als Bildmotiv – da nimmste kleine Kinder, ist total nett. Aber es verbiegt ein bisschen tatsächlich die Realität.
Seine Aussage ging noch weiter:
Deshalb haben wir dann auch gesagt: Wir machen jetzt mal ein Soziogramm, und zwar in der Hauptausgabe, 20 Uhr: Wer sind das? Wo kommen die her? Hmm, fast die Hälfte kommt aus Ländern, wo wir sagen: Uiuiui, da eine politische Verfolgung nachzuweisen, wird schwer, zumal wenn es sich noch um EU-Beitrittskandidaten handelt. Das müssen wir den Leuten mal sagen. Wir müssen denen sagen: Das sind junge Männer. Wir haben denen gesagt: Was haben die für einen Bildungsgrad? Und und und. Aus welchen Zusammenhängen kommen die.
Nee, ich glaube nicht, dass wir da blinde Flecken haben. Und, wirklich, gegen das Extremistische hilft dann auch tatsächlich nur informieren, Fakten liefern und widerlegen – sonst wüsste ich keinen Weg.
Wir auch nicht.
Mit Dank an Martin.
Nachtrag, 5. November: Einige Leser haben uns darauf hingewiesen, dass ja nicht alle Flüchtlinge einen Asylantrag stellen, die Gesamtzahl der Flüchtlinge in Deutschland also höher sei als die vom BAMF registrierten 300.000. Daran besteht auch kein Zweifel.
dass in diesem Jahr bis zu 800.000 Asylbewerber bzw. Flüchtlinge nach Deutschland kommen werden.
Womöglich wird die Zahl aber noch deutlich höher sein. In einem Interview sagte Bundesinnenminister Thomas de Maizière vor zwei Wochen:
Schweriner Volkszeitung: Die Prognose, dass in diesem Jahr 800 000 Flüchtlinge und Asylbewerber ist nicht mehr zu halten, oder?
De Maizière: Ich werde keine neuen Zahlen nennen. Jedenfalls nicht in den nächsten Wochen. Jede neue, womöglich höhere Prognose würde von den Schleppern missbraucht. Als die Bundesregierung die Prognose auf 800 000 für dieses Jahr erhöht hatte, kam in Afghanistan das Gerücht auf, wir würden 800 000 afghanische Flüchtlinge zu uns einladen.
Gehen wir also mal großzügig von 1,5 Millionen in Deutschland ankommenden Flüchtlingen im Jahr 2015 aus. Dann müssten unter den 1,2 Millionen Flüchtlingen, die in den BAMF-Zahlen nicht erfasst sind, 936.000 junge Männer sein, um sagen zu können: 70 Prozent aller erfassten und nicht-erfassten 1,5 Millionen Flüchtlinge sind junge Männer.
Der Anteil der jungen Männer an den 1,2 Millionen nicht-erfassten Flüchtlingen müsste also 78 Prozent betragen – ein mehr als doppelt so großer Anteil wie unter denen, die laut BAMF in diesem Jahr einen Asylantrag gestellt haben. Und ebenfalls doppelt so groß wie unter denen, die im vergangenen Jahr einen Antrag gestellt haben. Und doppelt so groß wie unter denen, die 2014 europaweit Asylanträge gestellt haben. Wir sehen keinen Grund, warum das so sein sollte.
Nachtrag, 11. November: Boris Palmer hat uns kurz nach Erscheinen unseres Eintrags eine Mail geschickt, die wir mit seinem Einverständnis hier veröffentlichen:
Ich schätze die Arbeit von bildblog sehr. Daher freue ich mich, dass Sie der Frage nachgehen, wer die Flüchtlinge sind und meine Aussage, 70% der Flüchtlinge seien junge Männer, kritisch hinterfragen.
Vorneweg: Es ist desaströs , dass wir keine Ahnung haben, was nun eigentlich stimmt. Die Statistik des Bamf sagt nichts mehr aus, weil sie nur noch einen kleinen Teil der Flüchtlinge erfasst – im Oktober weniger als ein Fünftel. Für die öffentliche Debatte ist es extrem wichtig, dass möglichst bald präzise Zahlen zu Zahl, Herkunft, Alter, Geschlecht, Bildung und Qualifikation der Flüchtlinge erhoben werden. Sonst kann man nicht vernünftig diskutieren, wie wir als Gesellschaft auf die Herausforderung reagieren, die Einwanderung in diesem Maßstab darstellt.
Ich habe im September in der taz darauf aufmerksam gemacht, dass ein Großteil der Flüchtlinge junge Männer sind – bis dahin in der öffentlichen Debatte wenig beachtet – und dabei die Zahl 70% genannt. In einem mündlichen Interview. Meine Quelle war keine offizielle Statistik, sondern mündliche Informationen von Verantwortlichen in der Flüchtlingsverwaltung und der Augenschein in Erstaufnahmeeinrichtungen und Unterkünften. Die Zahl habe ich nie als exakten Wert begriffen.
Anders als Sie in bildblog schreiben, ist die Größenordnung aber durchaus plausibel. Die Statistik des Bamf, die Sie heranziehen, enthält noch einen großen Anteil von Asylbewerbern aus dem Balkan. Denn in der ersten Jahreshälfte kamen mit Abstand die meisten Asylbewerber aus den Balkanstaaten. In dieser Gruppe sind in der Tat sehr viele Kinder und der Frauen. Die Reise ist eben nicht so weit und gefährlich wie von Syrien oder Afghanistan. Da diese Menschen so gut wie alle keinen Asylanspruch haben und das Land verlassen müssen, sind sie für die Frage nach Integrationserfordernissen, um die es im Kontext meines Interviews in der taz ging, nicht entscheidend.
Betrachtet man die Zahlen ohne die Flüchtlinge vom Balkan, liegt sogar die Zahl des Bamf schon bei etwa 50% junger Männer. Da man sicher annehmen kann, dass eine Familie sich viel schwerer tun wird, allein und unregistriert in Deutschland Fuß zu fassen, als ein junger Mann, ist es auch plausibel, den Anteil der nicht Registrierten in dieser Personengruppe noch höher anzusetzen. Mit dieser Hypothese lässt sich der Eindruck aus den Erstunterkünften, dass weit überwiegend junge Männer Asyl suchen, gut bestätigen.
Entscheidend ist für mich allerdings, dass es auf die exakte Zahl nicht ankommt. Die Aussage, dass sehr viele junge Männer alleine zu uns kommen und dies entweder ein großes soziales Problem für diese Männer oder Familiennachzug in siebenstelliger Höhe bedeutet, ist richtig. Und darauf kommt es in der Debatte an. Denn zumindest in dieser Hinsicht hat Jan Fleischhauer schon einen Punkt getroffen: Über sehr lange Zeit wurde die Berichterstattung über Flüchtlinge von Kinderbildern dominiert. Das weckt Emotionen und ist an sich nicht zu beanstanden. Für die Debatte müssen aber die Fakten benannt werden.
Ich finde alles gut, was diese Debatte sachlich voranbringt. Daher besten Dank für Ihren Beitrag
Es müssten „die Fakten benannt werden“, schreibt Palmer. Also gut.
Sein Hauptgegenargument sind die Flüchtlinge vom Balkan. Er schreibt:
Betrachtet man die Zahlen ohne die Flüchtlinge vom Balkan, liegt sogar die Zahl des Bamf schon bei etwa 50% junger Männer.
Das wollten wir überprüfen und haben das BAMF gebeten, uns die Zahlen aufgeschlüsselt nach Alter, Geschlecht und Herkunftsländern zuzuschicken. Antwort:
(…) leider haben wir keine Altersgruppen nach Herkunftsländern. Ich kann Ihnen also leider nicht weiterhelfen.
Wo also hat Palmer die BAMF-Zahl her, wenn nicht mal das BAMF sie hat? Wir haben ihn gefragt. Geantwortet hat er nicht. Sie dürfte also ebenfalls erfunden eine Schätzung sein.
Gestern hat Palmer übrigens einen Gastbeitrag für die „FAZ“ geschrieben, in dem er unter anderem – das BAMF kritisiert:
Die Enthüllungen des “Spiegel” rund um die Vergabe der Fußball-WM 2006 sind längst auch ein Medienthema. Es entstehen Grabenkämpfe zwischen Redaktionen, gegenseitige Schuld- und Schlampigkeitszuweisungen.
Dazu schreibt Holger Gertz in einer tollen “Seite Drei” (kostenpflichtig) der “Süddeutschen Zeitung”:
Es geht darum, wer die Deutungshoheit hat über das Phänomen Fußball: diejenigen, die den Fußball lieben und ihn romantisch verklären und rein halten wollen. Oder diejenigen, die den Fußball lieben und ihn ernst nehmen und gerade deshalb den Helden nichts durchgehen lassen wollen. Jedenfalls dann nicht, wenn die Helden in ihrem späteren Leben Teil jener Bonzenkaste werden, die den Fußball inzwischen beherrscht und aussaugt und lenkt.
Gruppe eins steht Alfred Draxler vor. Der Chefredakteur der “Sport Bild” und Kolumnist der “Bild”-Zeitung legt sich mächtig ins Zeug für “unser Sommermärchen” und seine alten Kumpels Franz Beckenbauer und Wolfgang Niersbach. Der “Spiegel”-Artikel sei “unprofessionel, unsachlich”, “einfach unmöglich”, sagte er in der “Sport1”-Fußballtalkrunde “Doppelpass”. An den Vorwürfen sei nichts dran, schließlich habe ihm Franz Beckenbauer gesagt, dass da nichts dran sei.
In der aktuellen Ausgabe der “Sport Bild” zünden Draxler und seine Redaktion die nächste Nebelkerze zugunsten des DFB:
“Dieser Brief” stammt von Charles Dempsey, der im Juli 2000 als Mitgleid des FIFA-Exekutivkomitees über die Vergabe der Weltmeisterschaft 2006 abstimmen durfte. Dempsey enthielt sich im letzten Wahlgang, dadurch siegte die deutsche Bewerbung mit 12:11 Stimmen.
Nicht zuletzt durch eine später bekannt gewordene Aktion der “Titanic” hieß es immer wieder, Dempseys (nicht abgegebene) Stimme sei gekauft gewesen. Die “Sport Bild” hat nun einen Brief herausgekramt, aus dem hervorgeht, dass der Neuseeländer dem DFB einst zusicherte, “für Deutschland zu stimmen”. Das lässt Draxler und sein Team titeln:
Bloß: Das hat rein gar nichts mit den aktuellen Anschuldigungen des “Spiegel” zu tun. Das Magazin sprach von Anfang an vom Kauf der Stimmen der vier asiatischen Delegierten, Charles Dempsey saß als Vertreter Ozeaniens im Exekutivkomitee. Auch diese Desinformation gehört zu Alfred Draxlers derzeitiger Taktik.
Holger Gertz schreibt in der “Süddeutschen” über ihn:
Draxler ist imstande, den Ausdruck Indizienkette so angewidert auszusprechen, als wäre eine Indizienkette die Vorstufe einer Gürtelrose. Er ist spürbar ein Herr fürs Gröbste unter lauter Männern fürs Grobe. Bei Jauch hat er mal erzählt, dass man in seiner Redaktion zum Beispiel nicht über einen großen deutschen Nationalspieler mit Alzheimer berichten würde. Das war ein einigermaßen vergiftetes Beispiel für Diskretion, weil er ein Thema in den Raum gestellt hatte, von dem die Masse draußen am Fernseher gar nichts gewusst hätte.
Jeder, der Mitglied der Clique ist, profitiert davon, und jeder, der das System hinterfragt, gilt als Feind und wird abgestoßen. In anderen Welten, beispielsweise in der Politik, wäre Joseph Blatter unwählbar und Wolfgang Niersbach nicht gut genug, und Herren wie Alfred Draxler, Chefredakteur von “Sport Bild” und zugleich Franz Beckenbauers Förderer und Schützling, oder auch Helmut Markwort, “Focus”-Herausgeber und bis ins hohe Alter Verwaltungsbeirat des FC Bayern, würden dort als Fans und Handlanger der Regierenden entlarvt werden.
Wie weitreichend Draxler als “Handlanger der Regierenden” eingesprungen ist, zeigt eine Passage im “Spiegel Online”-Interview mit Hans-Jörg Metz, dem Anwalt von Ex-DFB-Präsident Theo Zwanziger. (Wobei man natürlich beachten muss, dass Theo Zwanziger in diesem Zusammenhang gewichtige Interessen hat.)
SPIEGEL: Ihrem Mandanten wird jetzt vorgeworfen, er wolle sich an einem Intimfeind rächen, DFB-Präsident Wolfgang Niersbach.
Metz: Um Rache geht es doch überhaupt nicht. Ich kenne Theo Zwanziger seit vielen Jahren und arbeite gut mit ihm zusammen; Rache, das passt nicht in seine Vorstellungswelt. Die Meinungsverschiedenheiten, die er mit Niersbach hatte, hat er immer offen ausgetragen und sich damit der Diskussion gestellt. Er hat allen Beteiligten bis zuletzt immer wieder Gesprächsangebote gemacht. Herrn Niersbach sogar über den Chef der Sport-Bild, Alfred Draxler, der bekanntermaßen mit Herrn Niersbach und Herrn Beckenbauer vertraut ist.
SPIEGEL: Über Herrn Draxler?
Metz: Ja. Herr Draxler fühlte sich am 19. Februar 2015 veranlasst, Herrn Zwanziger per SMS seine “private” Meinung zur Auseinandersetzung mit Herrn Niersbach in drastischen Worten mitzuteilen. Herr Zwanziger hatte dann in seiner Antwort angeboten, die Sache mit beiden in einem gemeinsamen Gespräch zu erörtern. Eine Antwort hierauf hat er nie erhalten.
Draxler reagierte bei Twitter auf Metz’ Aussagen:
Keine Frage: Alfred Draxler kann an wen auch immer so viele SMS schreiben, wie er mag. Die Posse zeigt aber, dass er ganz und gar nicht zum neutralen Aufklärer rund um die WM-Vergabe taugt. Auch wenn er das selbst, einem knapp ein Jahr alten Interview mit “Meedia” zufolge, etwas anders sehen dürfte:
Sie selbst sind jemand, der sich dazu bekennt, engen Kontakt zu einigen Akteuren und Protagonisten zu pflegen. Wann hat Sie zu viel Nähe oder gar Freundschaft mal in Ihrer journalistischen Arbeit behindert?
Eigentlich gar nicht. Und das Wort Freundschaft ist reichlich hoch gegriffen.
Nach seiner “Nachgehakt”-“Enthüllung”, dass das Sommermärchen “nicht gekauft” gewesen sei, hat sich Draxler in den letzten Tagen etwas zurückgehalten. Gestern aber, als er dachte, er könne einen Punkt machen, twitterte es aus ihm heraus:
Nun meldete sich Joseph Blatter zu Wort: “Ich habe niemals Geld von Beckenbauer verlangt. Nie im Leben. Auch nicht vom DFB. Das stimmt einfach nicht”, sagte der derzeit suspendierte Chef des Fußball-Weltverbandes der Zeitung “Schweiz am Sonntag”. Blatters Verteidigung verwundert etwas, da weder Niersbach noch Beckenbauer jemals öffentlich behauptet hatten, Blatter selbst habe die Millionenforderung gestellt.
Doch solche Details lässt Alfred Draxler auf seinem Verteidigungsfeldzug einfach unter den Tisch fallen. Die Welt soll glauben, dass die WM nicht gekauft war. Punkt. Er nutzt seine publizistische Macht, um die Leser von dieser Version zu überzeugen, und vermutlich merkt er nicht einmal, was für eine peinliche Figur er dabei macht.
Die Regierung in Kanada hat eine Reisewarnung für Ostdeutschland herausgegeben. Darin ist die Rede von extremistischen Jugendbanden, die in Teilen Ostdeutschlands eine Bedrohung darstellten. Mitglieder solcher Gangs seien bekannt dafür, Personen wegen ihrer Rasse oder ihres ausländischen Aussehens zu belästigen oder direkt zu attackieren. Auch habe es schon Brandanschläge auf parkende Fahrzeuge gegeben.
Die „Warnung aus Kanada konkret für Ostdeutschland“ komme „nicht von ungefähr“, schreibt das „Handelsblatt“: “Die ausländerfeindliche Pegida-Bewegung verzeichnet in Dresden in Sachsen weiter Zulauf.”
Darauf habe die kanadische Regierung also reagiert. Und das schmeckt den hiesigen Politikern so gar nicht.
Die Sachsen-CDU reagiert empört auf die Reisewarnung. „Das entspricht nicht der Realität und ist extrem rufschädigend“, sagte der Generalsekretär der sächsischen CDU und Vize-Vorsitzende der Unions-Bundestagsfraktion, Michael Kretschmer, dem Handelsblatt. „Deutschland muss dieser Beurteilung entschieden entgegen treten.“
Bevor Deutschland damit loslegt, würden wir ihm raten, sich ein bisschen besser zu informieren als das “Handelsblatt” oder der Herr Generalsekretär. Die Geschichte stimmt nämlich gar nicht.
Kanada hat keine Reisewarnung für Deutschland herausgegeben. Es gelten nach wie vor die „normalen Sicherheitsvorkehrungen“, also die niedrigste Sicherheitsstufe.
Auf der Internetseite der kanadischen Regierung gibt es lediglich einige Sicherheitshinweise für Deutschland. Da wird zum Beispiel vor Taschendieben „an Bahnhöfen, auf Flughäfen und Weihnachtsmärkten“ gewarnt. Oder davor, dass Demonstrationen ohne Vorwarnung in Gewalt umschlagen könnten. Oder eben vor extremistischen Jugendgruppen, die besonders „in einigen kleineren Städten und in Teilen des früheren Ostdeutschlands“ eine Bedrohung seien.
Das „Handelsblatt“ verdreht diesen Vermerk zu einer „Reisewarnung für Ostdeutschland“. Und erweckt den Eindruck, als reagiere die kanadische Regierung damit auf „Pegida“ & Co. – aber auch das ist falsch. Die Hinweise stehen nicht erst seit Neuestem auf der kanadischen Seite (wie auch ein Blick in die Wayback-Machine verraten hätte), sondern seit zehn Jahren.
Was sich vor dem Hintergrund der Angriffe auf Flüchtlingsheime vor allem im Osten der Republik wie eine aktuelle Zustandsbeschreibung liest, stammt allerdings schon aus dem Jahr 2005.
… schreibt „Zeit Online“, eines der wenigen Medien, die nicht einfach blind vom “Handelsblatt” abgeschrieben haben.
Nur ein Hinweis zu gestiegenen Flüchtlingszahlen in Europa sei am 28. September neu hinzugekommen, sagt die Sprecherin der kanadischen Botschaft in Berlin, Jennifer Broadbridge ZEIT ONLINE. Dadurch könne es zu Verspätungen an Grenzübergängen und Bahnhöfen kommen, steht in dem Absatz.
Anders gesagt: Das einzig Neue an den der Geschichte ist, dass die kanadische Regierung vor Verzögerungen im Zugverkehr warnt. Alles andere ist entweder falsch oder mindestens zehn Jahre alt.
Immerhin: Es gibt noch eine Handvoll Journalisten, die erkannt haben, dass das alles Unsinn ist. Bernhard Honnigfort etwa schreibt auf der Onlineseite der „Frankfurter Rundschau“:
Tatsache ist, Kanada hat nicht vor Reisen nach Ostdeutschland gewarnt, sondern bittet seine Landsleute nur darum, aufzupassen und wachsam zu sein.
Und:
Natürlich ist das lange bekannt und der kanadische Warnhinweis ist nicht neu, sondern nur aktualisiert.
Natürlich. Und dass er das Märchen zuvor selbst ganz empört verbreitet hatte, sowohl in der “FR” …
Bei “Focus Online”, wo ebenfalls eindringlich über den Fall berichtet wird …
… haben sie sich nicht bloß auf die falschen Fakten der Kollegen verlassen, sondern selbst welche erfunden. Das Portal schreibt:
Auch vor in Brand gesteckten geparkten Autos wird gewarnt – das betreffe vor allem Berlin.
Berlin wird in den Hinweisen an keiner Stelle erwähnt.
So zieht die Geschichte munter ihre Kreise und wird mit jedem Mal ein bisschen weniger wahr.
Man will sich gar nicht vorstellen, was die kanadische Botschaft inzwischen denkt. Auf Anfrage gibt sie sich aber, klar: diplomatisch. Dem Evangelischen Pressedienst sagte die Sprecherin, man könne die ganze Aufregung zwar nicht nachvollziehen, jedoch würde die Ostdeutschland-Passage „angesichts der aktuellen Debatte” nun “geprüft und möglicherweise in den kommenden Tagen geändert“.
In den Sicherheitshinweisen schreibt die Regierung übrigens, dass man, wenn man in Deutschland unterwegs sei, „die lokalen Medien verfolgen“ solle. Auch ein Ratschlag, über den man mal nachdenken könnte.
1. Ein lebenslanger Makel: Warum Springer Kachelmann 635.000 Euro zahlen soll (stefan-niggemeier.de)
Die “Bild”-Zeitung muss Jörg Kachelmann eine saftige Entschädigung zahlen — und kann oder will das Urteil nicht verstehen, da man nicht “vorsätzlich und mit Schädigungsabsicht gehandelt” habe. Stefan Niggemeier diagnostiziert den Verantwortlichen beim Axel-Springer-Verlag eine eklatante Leseschwäche, da das Gericht in seiner Urteilsbegründung “äußerst detailliert” belegt habe, wie Kachelmanns Privatsphäre “wiederholt und hartnäckig” verletzt wurde. Siehe dazu auch: Gisela Friedrichsen bei “Spiegel Online”, Wolfgang Janisch bei sueddeutsche.de, Daniel Schmidthäussler mit einem “Zapp”-Beitrag und “Schlecky Silberstein” mit fünf möglichen “Bild”-Schlagzeilen zum Thema.
2. Billigflieger lässt Flüchtlinge stehen (taz.de, Gereon Asmuth)
Am Mittwoch verbreitete die dpa eine überraschende Meldung: Angeblich wolle die Fluglinie Ryanair Flüchtlinge ohne Visaprüfung in andere EU-Länder bringen. Nach knapp zwei Stunden folgte eine Eilmeldung: Man sei einem Fake aufgesessen, die wiedergegebenen Äußerungen von Marketingchef Kenny Jacobs seien vollständig erfunden. Zu diesem Zeitpunkt hatten etliche große Nachrichtenportale die Agenturmeldung allerdings längst übernommen. Bei “Kress” kommentiert Bülend Ürük: “Mit ihrer gelebten Transparenz beweist die Deutsche Presse-Agentur, dass auch […] bei Fehlern, die eigentlich überhaupt nicht passieren dürfen, der Weg in die Öffentlichkeit als einzig richtiger Schritt bleibt”.
3. Unliebsame Berichte nicht erwünscht (faz.net, Michaela Wiegel und Christian Schubert)
Die französische Wochenzeitung “Le Canard Enchaîné” berichte, dass VW versucht habe, die Berichterstattung über den Abgasskandal zu manipulieren. Der Konzern habe mehrere Regionalzeitungen und Magazine aufgefordert, an bestimmten Tagen nicht über die Affäre zu berichten. Als Druckmittel soll ein Anzeigenboykott gedient haben, insgesamt sei es um einen Werbe-Etat in Höhe von knapp anderthalb Millionen Euro gegangen.
4. Das bleibt von #BildNotWelcome (westline.de, Jan-Hendrik Grotevent)
Heute heißt es #BILDindieTonne, vor gut zwei Woche noch #BILDnotwelcome, auch und vor allem in den Fankurven der Fußballbundesliga. Jan-Hendrik Grotevents Fazit im Rückblick zur Aktion: “Wenn alle realisieren, daß man gute Zwecke und Stimmungsmache selber hinkriegen kann ohne dafür Fremdverstärker zu brauchen, dann war #bildnotwelcome ein Erfolg.”
5. The 4 bare-bones things every journalist needs to know about verification (medium.com, Craig Silverman, englisch)
Ganz gleich, ob Tweets, Fotos, Videos oder auch Agenturmeldungen der dpa (s.o.) — nie zuvor war es so leicht, die Öffentlichkeit mit gefälschten Nachrichten zu verwirren. Umso wichtiger ist es für Journalisten, alle Informationen sorgfältig zu prüfen. Craig Silverman, Gründer von Emergent.info, stellt die vier wichtigsten Schritte der Verifizierung vor, die jeder Journalist kennen und anwenden sollte.
Helge Schneider hat für seine Zivilcourage mal ordentlich Prügel kassiert. Das hat er vergangenen Woche in einem Interview mit der “Süddeutschen Zeitung” (mit Bezahlschranke) erzählt:
Aber viele Künstler sind sehr verliebt in die Regel: Die Politik ist hilflos, wir müssen jetzt ran.
Wenn einem etwas direkt im Alltag begegnet, muss man schon ran. Das nennt man Zivilcourage, hab’ ich auch schon mal gemacht.
Was war passiert?
Das waren zwei Typen, die wollten einen Perser verkloppen. Da bin ich dazwischengegangen. Der konnte wegrennen. Dann hab’ ich das abgekriegt.
Wurden Sie verletzt?
Es hielt sich im Rahmen. Ich hatte den Kiefer angebrochen. […]
Schneider, Schlägerei, angebrochener Kiefer — klar, dass das auch andere Medien aufgreifen. Zum Beispiel “Spiegel Online” …
Und auch “Focus Online”. Doch dort klingt die Geschichte schon in der Überschrift etwas anders:
Und Helge Schneider erzählt auf einmal eine ganz neue Version des Vorfalls:
“Das waren zwei Typen, die wollten einen Penner verkloppen. Da bin ich dazwischengegangen”, erzählte der Komiker und Musiker der “Süddeutschen Zeitung” vom Samstag.
Der Protagonistenwechsel dürfte durch eine fehlerhafte dpa-Meldung entstanden sein. Die Nachrichtenagentur hatte am Samstagmittag den “Penner” ins Spiel gebracht und erst vier Stunden später eine Korrektur verschickt, mit dem Hinweis: “Berichtigung: Wort im zweiten Satz berichtigt”.
Das interessierte offenbar weder “Focus Online” noch morgenpost.de: Ihre falschen Artikel veröffentlichten beide Redaktionen erst, als die dpa-Korrektur schon Stunden raus war.
Dass ein Medium durchaus auf Agentur-Berichtigungen reagieren — und das auch noch der Leserschaft transparent präsentieren — kann, beweist diepresse.com:
Anmerkung der Redaktion: Quelle dieses Artikels ist die Nachrichtenagentur DPA. Diese hat in einer ersten Meldung von einem “Penner” geschrieben, später allerdings auf “Perser” korrigiert. Wir bedauern den Irrtum.