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Wagner mit seinem Latein am Ende

Die Gedankengänge von “Bild”-Kolumnist Franz Josef Wagner sind ja schon an normalen Tagen kaum nachvollziehbar. Aber mit seiner jüngsten “Post von Wagner” sichert sich der Gossen-Goethe bzw. Gaga-Kolumnist wohl endgültig einen Platz im Olymp des Unfugs.

Die “Post von Wagner” vom Freitag war nämlich an das Wort Terror adressiert. Klingt komisch, ist aber im Rahmen der Kolumne nicht ungewöhnlich. Wagner schreibt:

Böses Wort Terror,
Terror ist lateinisch, das Verb terrere bedeutet erschrecken. Das Wort ist über 2000 Jahre alt.

So weit ist alles noch richtig, doch dann sitzt Wagner einem Irrtum auf, bei dem Klassischen Philologen und Latein-Lehrern die Haare zu Berge stehen dürften:

Historiker übersetzen terrere auch mit: “die aus dem Untergrund kommen”.
Terra – die Erde.
2000 Jahre später ist Deutschland in Terror-Angst. Irgendetwas kommt unsichtbar aus der Erde.

Werden wir also von Maulwurfmonstern aus der Tiefe bedroht? Nein: Mal davon abgesehen, dass die lateinische Sprache eher in das Fachgebiet von Klassischen Philologen fällt, sind ernsthafte Zweifel an der Kompetenz der Historiker, die Wagner hier anführt, berechtigt. Denn die Begriffe “Terror” und “Terra” haben etymologisch soviel miteinander gemein wie die deutschen Begriffe “Wurst” und “Durst” — nämlich vier Buchstaben.

Während die Wurzeln von “terrere” im indogermanischen “trásati” (zittern) und im griechischen τρέω bzw. τρέσω (sprich: tréo bzw. treso) zu suchen sind, bedeutet  “terra” in etwa “das Trockene” (siehe griech. τεραίνω (teraino) bzw. lat. torrere “dörren, trocknen”)*.

Der ähnliche Klang von “Terror” und “Terra” ist also dem Zufall geschuldet. Während man “terrere” immer noch am besten mit “erschrecken” übersetzt, lautet der lateinische Begriff für “die aus dem Untergrund kommen” am ehesten “subterranei”.

Übrigens: Das Wort “Bildung” ist etymologisch mit dem Wort “Bild” verwandt. Das war’s dann aber auch an Gemeinsamkeiten.

*Quelle: Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, ausgearbeitet von Karl Ernst Georges, hg. von Heinrich Georges (ND der 8. Auflage), Bd. 2, Darmstadt 1998.

Mit Dank an Stefan W.

Markwort, SZ-Magazin, Wagner

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Wie sich der Focus-Chef inszeniert”
(ndr.de, Video, 5:30 Uhr)
Helmut Markwort, Herr über die “Focus-Welt” (“bunt, besteht aus Tabellen und anderen Schnipseln”), will dem neuen Chefredakteur Wolfram Weimer vor seinem Abgang noch eine Überarbeitung des Hefts aufzwingen, so dass dieser über Jahre hinweg blockiert wird, eine eigene Neugestaltung vorzunehmen.

2. “Neues Futter für den Provokanten-Stadl”
(heise.de/tp, Rudolf Stumberger)
Rudolf Stumberger liest die Titelgeschichte “Schloss mit lustig” des SZ-Magazins und findet keine Fakten und keinen realen Gehalt. “Wir sehen zwar noch die äußere Hülle eines journalistischen Textes vor uns, aber es fehlt quasi das schlagende Herz. Derartigen Artikeln mangelt es an einem wesentlichen Moment, es fehlt die Anbindung an das grundlegende Lebensprinzip des Journalismus, eine kritische Ernsthaftigkeit. Sie wurde in Deutschland vor ungefähr zehn Jahren eingetauscht gegen eine benommen machende Beliebigkeit.”

3. “Das Medienbeben – Die Katastrophe von Haiti, das Fernsehen und die Opfer”
(haz.de, Imre Grimm)
Wie die Medien mit dem Erdbeben in Haiti umgehen: “‘Die grausamen Fotos der Katastrophe’, schreibt der Onlinedienst ‘Bild.de’ über eine Fotogalerie. Nach dem Bild eines nackten Mannes, den ein Lynchmob durch die Straßen zieht, poppt Werbung auf: ‘Wir schicken Deutschland in den Urlaub! 35 Prozent für Frühbucher.'”

4. “Ein Film, eine Meinung­­”
(woz.ch, Silvia Süess)
Ein Text zum aktuellen Zustand der Filmkritik. “Die Texte in den Zeitungen werden kürzer – Filmtipps bestehen oft nur noch aus ein paar Sätzen und Sternchen. Gleichzeitig werden die Presseunterlagen immer dicker: Nicht selten umfasst ein von den Filmverleihern verfasstes Pressedossier fünfzehn Seiten oder mehr, Produktionsnotizen des Produzenten oder Interviews mit der Regisseurin oder mit der Hauptdarstellerin sind darin abgedruckt.”

5. “Post an Wagner (44)”
(off-the-record.de, Spießer Alfons, Video, 1:24 Minuten)
Spießer Alfons fragt “Bild”-Chef Kai Diekmann, wann endlich “Bild”-Kolumnist Franz Josef Wagner die versprochene Weihnachtsgeldspende für Kinder in Afrika zahlt. Diekmann: “Ich werde dafür sorgen, dass Franz Josef zahlt.”

6. “German Publishers Go After Google; Apparently Very Confused About How The Internet Works”
(techdirt.com, Mike Masnick, englisch)
Mike Masnick sucht nach den Gründen der Kartellklage der deutschen Verlegerverbände gegen Google und findet eine selbstverschuldete Inkompetenz. “Yet the publishers he represents had all of the advantages in the world. They were local. Google was not. They had been around for many more years than Google. They had brand recognition and loyalty that Google did not. Fuhrmann is basically admitting what a colossal failure the companies he represents have been. They failed to capitalize on a huge opportunity. And now, when Google sends them traffic, they are still failing to use that traffic wisely. And then they blame Google for it? Wow.”

Dönhoff, Newsroom, Wagner

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Thema: Marion Dönhoff”
(zeit.de)
Ein Dossier von Zeit.de zum 100. Geburtstag von Marion Gräfin Dönhoff.

2. “Merkwürdige Verzweiflungsfotos”
(internetausdrucker.wordpress.com)
Der Internetausdrucker denkt nach über die “Verzweiflungsfotos”, die derzeit neben Minister Franz Josef Jung abgebildet werden: “Sie sind Momentaufnahmen aus anderen Situationen, sie können Wochen und Monate alt sein.”

3. “Der Newsroom als Alarmzentrale einer panischen Gesellschaft”
(woz.ch, Kaspar Surber)
Über 10 Milllionen Franken (ca. 7 Millionen Euro) kostet der neue Newsroom der “Blick”-Gruppe. “Im oberen Stock wird in der Mitte ein ‘Decision Place’ zu liegen kommen. Hier werden die Chefredaktoren arbeiten. Gleich anschliessend sitzen auf der einen Seite die RessortleiterInnen, dann folgt ein ‘Content Place’ mit den JournalistInnen.'” Projektkoordinator Edi Estermann: “Je weiter weg einer vom Zentrum sitzt, desto eher ist er ein Praktikant.”

4. Interview mit Peter Kruse
(sueddeutsche.de, Johannes Kuhn)
Psychologe Peter Kruse zum neuen Buch von FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher über die von ihm erlebte Überforderung mit der Informationsflut im Internet: “Mit seinem Buch outet sich Herr Schirrmacher als fremdelnder Netzwerk-Besucher, als Zaungast, der einer wilden Party gleichermaßen neugierig wie irritiert aus der Ferne zuschaut.”

5. “Das Geheimnis F. J. W.”
(kaidiekmann.de, Video, 7:51 Minuten)
“Bild”-Chefredakteur Kai Diekmann besucht den “Bild”-Kolumnisten Franz Josef Wagner, der es bedauert, ungekämmt zu sein und seine Zeilen zwar noch schreibt, aber nicht mehr in der Zeitung liest. Verfasst wird die tägliche Kolumne auf einem “Laptop” (so nennt Diekmann Wagners Computer) – und von dort abgelesen wird sie wohl, wie 2006 und 2009 berichtet, der Redaktion telefonisch durchgegeben.

6. “(NZZ-)Online-User bringen nur Peanuts ein”
(medienspiegel.ch, Martin Hitz)
Albert P. Stäheli, CEO der NZZ, sagt, wie tief der Graben der Einnahmen zwischen Online- und Printwerbung ist: “Jährl. Werbeumsatz pro Print-Leser: Fr. 175.-. Jährl. Werbeumsatz pro Online-User: Fr. 6.50”.

Zoomer, Schawinski, Wagner

1. “…und es hat zoom gemacht!”
(zweipunktnull.org, Casi)
Zoomer.de wird nach nur einem Jahr wieder eingestellt. “Nee, Freunde – bei aller Liebe: Soooo richtig gut war das nicht immer, was Ihr da gemacht habt, und zum Glück habe ich diese Meinung nicht exklusiv.”

2. “Zoomer, Gemüse und Fehler”
(dondahlmann.de)
Zoomer fehlte es an der “nötigen Konsequenz und dem dazu gehörigen Mut”, meint Don Dahlmann. – “Dass das Portal nun dicht macht ist aber dennoch bedauerlich, weil es abermals das Signal aussendet, dass man im Netz nur erfolglos sein kann.”

3. Interview mit Roger Schawinski
(tagesanzeiger.ch, David Vonplon)
Roger Schawinski glaubt, dass das (ihn interviewende) Newsnetz schuld sein wird an den Abokündigungen der beteiligten Zeitungen: “Nun begehen die in Panik geratenen Zeitungen mit ihrer aggressiven Internetstrategie Selbstmord aus Angst vor dem Tod: Ich lese etwa am Abend auf Newsnetz jeweils jene Artikel gratis, für die ich zwölf Stunden später bezahlen soll. Das kann nicht lange gut gehen.”. Stattdessen rät er: “Die Medienhäuser sollten viel mehr auf die alten Stärken des Prints setzten und nicht die Klickzahlen im Internet als Grundlage nehmen für die Gewichtung der Artikel in der Zeitung. Wer das tut, degradiert das Printprodukt zur Zweitauswertung des Internets.”

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Es geht auch ohne Wagner

Das kleine Berliner Schmuddelkind “B.Z.”, das (als “Bild”-Kolumnist Franz Josef Wagner noch “B.Z.”-Chefredakteur war) auf der Titelseite schon mal unter der Schlagzeile “Öl-Pest” statt eines ölverschmierten Vogels lieber ein kerngesundes, schwarzes Entlein zeigte, steht auch heute noch gelegentlich der großen Schwester “Bild” in nichts nach. Gestern zum Beispiel schrieb die “B.Z.”:

"Schlaganfall, Herzinfarkt, Kind verloren: In der B.Z. enthüllt TV-Koch Horst Lichter seine schweren Schicksalsschläge"

“Enthüllt” ist allerdings für das, was Horst Lichter der “B.Z.” gesagt hat, ein großes Wort. Von Schlaganfall, Herzinfarkt und seinem toten Kind hatte er (beispielsweise) auch schon der Springer-Zeitung “Die Welt” erzählt – am 13. März 2005.

Aber man braucht eigentlich nicht mal tief in den Archiven zu stöbern. Im September 2007 erschien eine (Auto-)Biographie Lichters, dessen Inhalt sein Verlag, ähm, wie folgt zusammenfasst:

(…) zwei Hirnschläge, ein Herzinfarkt, der frühe Verlust eines Kindes. Davon erzählt dieses Buch.

Mit Dank an Volker K. für den Hinweis.

F. J. Wagner endlich wieder so alt wie Mick Jagger

Zu Ehren von “Bild”-Kolumnist Franz Josef Wagner, der heute seinen 65. Geburtstag feiert, wiederholen wir unseren BILDblog-Eintrag von vorvergangener Woche:

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Franz Josef Wagner und die Nebel von Avon

Jedes Jahr um diese Zeit feiert Franz Josef Wagner zwei Geburtstage. Seinen eigenen und den von Mick Jagger. Eine ganz besondere Beziehung verbindet den “Bild”-Autor mit dem Sänger. Kein Wunder: Ihre Biographien weisen verblüffende Parallelen auf.

Beide sind im Sommer 1943 geboren. Beide sind Männer. Jaggers Mutter war Avon-Beraterin, Wagners Mutter Handarbeitslehrerin. Jagger macht Musik, Wagner hört sie.

Zum 60. Geburtstag Jaggers schrieb Wagner in der “Welt”:

Wenn man an 60 denkt, dann denkt man, dass die betreffende Person Schwierigkeiten beim Einparken hat und gelegentliche Unsicherheit im Personengedächtnis. Ich glaube, dass man mit 60 triumphierend jung sein kann — wenn man ein Rock ‘n’ Roller ist. Jeder Orthopäde sagt, dass das Geheimnis die Bewegung sei. Tanzen wir den Tod zum Teufel. Der 60-jährige Mick Jagger tanzt das Leben vor. In einer Woche werde ich 60.

Zum 63. Geburtstag Jaggers schrieb Wagner in “Bild”:

Rock ‘n’ Roll ist ein Lebensentwurf – es ist auch mein Lebensentwurf. Wir rocken uns den Tod weg, die Bandscheibe, die Prostata, die Röchel-Lunge. Ich liebe Mick Jagger nicht nur, weil er “Satisfaction” singt, sondern weil seine Mutter Avon-Beraterin war. Der Sohn einer Avon-Beraterin wird Mick Jagger — was für ein Traum, was für ein Märchen!

Und ein paar Tage später in der “taz”, nach einem Konzert der Stones:

Mick Jagger ist eine Woche älter als ich, er wird am 26. Juli 63, ich am 7. August. Aber es waren viele tausend noch Ältere im Berliner Olympiastadion als wir beide. Vielleicht war es das, was wir feierten: dass die Katastrophen wie Weltuntergang, Raucherkrebs, Prostata, Herz, Venen nicht eingetreten waren und auch in dieser Nacht nicht eintreten würden. (…)

“What can a poor boy do except to sing for a rock’n’roll band”, fragte Mick Jagger vor 40 Jahren in seinem Ur-Song “Street Fighting Man”. Vor 40 Jahren — wo war ich?

Vor 40 Jahren hing ich auch an den Fersen des Glücks. What can a poor boy do … Micks Mutter war Avon-Beraterin, meine Handarbeitslehrerin, sie unterrichtete Mädchen im Stricken und Tischdecken. Da war nicht viel Kohle zu holen. Also, what can a poor boy do?

Er kann Zahnarzt werden, Astronaut werden, er kann sein Leben verschlafen, er kann Mick Jagger werden, oder er kann im Drogenrausch wie der beste Rolling Stone, Brian Jones, im Swimmingpool ertrinken. Er kann ein Gesicht wie Keith Richards kriegen, er kann Bianca Jagger heiraten, Jerry Hall. Er kann sieben Kinder mit vier Frauen zeugen, er kann aber auch als PR-Gag auf eine Palme klettern und herunterfallen. Er kann Boulevard-Reporter werden, Gossen-Goethe. Er kann eigentlich alles werden, wenn er ein Street Fighting Man ist.

Und heute nun wird Mick Jagger 65. Und Franz Josef Wagner, der “Gossen-Goethe”, schreibt in “Bild”:

Sie sind eine Woche älter als ich, heute werden Sie 65, ich am 7. August. Was gibt’s für uns 65-Jährige zu feiern? Zuallererst, dass wir überlebten und Leber, Lunge, Arterien sich bisher nicht bemerkbar machen. Den Genen sei Dank!

Es war im Sommer 62, vor 46 Jahren, als ich Ihren Ursong “Street Fighting Man” zum ersten Mal hörte. Ich war damals ein Junge wie Sie. Ihre Mutter war Avon-Beraterin, meine Mutter war Handarbeitslehrerin. (…) Man konnte damals schnell abgleiten in die Hippie- und Kifferkultur.

Von einem Tag auf den anderen riss mich Ihr “Street Fighting Man” aus dem Kiffen heraus. “What can a poor boy do except to sing for a rock ‘n’ roll band”. (…)

Ihr Song hat mich gerettet. Ihr Song war eine Aufforderung, seine eigene Kraft zu entdecken.

Ja, so war es. Es war dieser Song. Alle, die dabei gewesen waren und heute Zahnärzte sind, Therapeuten, Rechtsanwälte, werden es bestätigen. Es war dieser Song. (…)

Rock ‘n’ Roll hat die Welt immer verbessert. Vor 46 Jahren wurde ich durch Mick Jagger Rock ‘n’ Roller – ich liebe die Freiheit.

Aber was immer Franz Josef Wagner vor 46 Jahren vom rechten Weg abbrachte und ihn veranlasste, einen Karrierepfad einzuschlagen, an dessen Ende er heute täglich einen Brief in der “Bild”-Zeitung schreibt — die Rolling Stones und “Street Fighting Man” waren es nicht. Ihr erstes Album brachten die Stones 1964 heraus. “Street Fighting Man” wurde, inspiriert von den Studentenunruhen in Paris, 1968 aufgenommen und veröffentlicht.

Wann hörte Franz Josef Wagner also mit dem Kiffen auf? Man weiß es nicht. Aber nach dem Konzert der Stones fuhr er mit dem Taxi nach Hause: “Richtung Paris Bar, um mich mit Alkohol noch ein bisschen mehr in Stimmung zu bringen.”

Mit Dank an Steffen B., Manfred L., Maren, Andreas und Map!

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Weiters gratulieren Wagner dpa, der “Kölner Stadtanzeiger”, “RP Online”, die “Berliner Morgenpost” und die Ursula.

Wagner spielt Stadt, Land, Fluss (ohne Fluss)

Man kann das ja bewundern, wie Franz Josef Wagner es schafft, von irgendeiner aktuellen Nachricht aus seine Gedanken auf Reisen zu schicken, für die niemand außer ihm Tickets zu bekommen scheint, und uns als Passagiere mitzunehmen in eine fremde Welt, ein Nicht-ganz-Paralleluniversum, das sich mit dem, was wir Realität nennen, in einem einzigen Punkt kreuzt: dem Gehirn von Franz Josef Wagner.

Und wenn er heute über den Erfolg der RTL-Doku-Soap “Bauer sucht Frau” sinniert und den Gegensatz zwischen dem Milchbauern Michael vom Bodensee und der Fußpflegerin Bianca als Ausgangspunkt nimmt und schreibt:

Du, Bauer, verkörperst das Ideal: Die Sonne geht auf, der Hahn kräht, der Bauer steht auf.

Du, Bianca, verkörperst das Gegenteil. Du kommst aus der Stadt. In einer Stadt leben Penner. Du hast ein graues Gesicht, Du stehst in der U-Bahn, S-Bahn, Du frierst, niemand umarmt Dich. Der Wind rüttelt durch Deine Kleidung.

…dann haben diese Worte in all ihrer abstoßenden Schönheit natürlich eine innere Wahrheit, die völlig unabhängig davon ist, dass Bianca aus einer Stadt namens Geisingen stammt, die mit ihren 6000 Einwohnern nur unwesentlich belebter ist als Wagners Wohnort Paris-Bar, und heute in einer “kleinen Gemeinde bei Singen” wohnt, einem Mittelzentrum, von dessen 45.000 Einwohnern vermutlich diejenigen am meisten im Rüttelwind frieren, die täglich an der Bushaltestelle darauf warten, dass mal eine U- oder S-Bahn vorbei kommt (Penner optional).

F. J. Wagner schreibt Fußballgeschichte. Um.

Mit dem Briefeschreiben an Einzelpersonen hält sich Franz Josef Wagner schon lange nicht mehr auf (“Liebes Afrika, …”). Heute geht die Post an das “liebe Sommermärchen 2006”, das dieser Tage seinen ersten Geburtstag feiert.

Und so schwärmt Wagner noch einmal von der guten alten Zeit vor zwölf Monaten:

Alles und jeder sah aus wie in Glück getaucht, selbst Toten hätte man Kredit gegeben.

In was man Wagner getaucht hat, wissen wir nicht, aber die Toten hatten gestern offenbar Dienst in der “Bild”-Schlussredaktion:

Wir wurden glücklich, als Klose in der Nachspielzeit ein Tor gegen Polen in der 92. Minute schoss.

Hach, beinahe. Denn dass das Tor gegen Polen (“in der Nachspielzeit”, “in der 92. Minute”) nicht von Miroslav Klose geschossen wurde, weiß eigentlich jedes Kind – zumindest hätte man es bei “Bild” ahnen können.

Das ist peinlich, kann aber mal passieren. Peinlicher wird’s nur, wenn man einen Aussetzer des eigenen Erinnerungsvermögens zum Aufhänger befördert:

Ja, so war es. Erinnert Euch. Es war so haarscharf damals, dass Deutschland unglücklich werden könnte. Klose schoss uns damals aus der Scheiße und heute ist er ein Verzweifelter.

Ja, haarscharf. Trotzdem wird das Wagner’sche Erinnerungsmantra aus Oliver Neuville keinen Miroslav Klose machen. Und auch die “Scheiße” riecht nicht mehr ganz so schlimm, wenn man im Nachhinein nachrechnet, dass Deutschland auch mit einem 0:0 gegen Polen noch Gruppensieger geworden wäre. Aber wie man ein Eigentor schießt, das zeigt uns Wagner. Mit Anlauf. Und ohne Torwart:

Das geschah vor einem Jahr — und wenn Klose das Tor nicht geschossen hätte, wären wir Deutschen dann heute blöder, sauertöpfischer, pessimistischer?

Nun: Die heutige “Post von Wagner” wäre sicher um einiges weniger blöd geworden, wenn Klose das verdammte Tor wirklich geschossen hätte.

Mit Dank an die vielen, vielen Hinweisgeber!

Nachtrag, 13.15 Uhr. In einigen Druckausgaben scheint jemand Wagner korrigiert zu haben. Dort lautet der zentrale Satz:

Wir wurden glücklich, als Klose im Viertelfinale gegen Argentinien den Ausgleich schoss und Deutschland so das Halbfinale rettete.

Wagner-Premiere im Berliner Ensemble

Lieber Franz Josef Wagner,

wir müssen Ihnen was sagen. Die Menschen bei “Bild”, die Ihre Texte täglich einem Millionenpublikum zugänglich machen, sind nicht Ihre Freunde.

Heute zum Beispiel schreiben Sie an den “Freigänger Christian Klar”, der womöglich “ab Juli” schon am Berliner Ensemble arbeiten werde:

Na, dann werden wir uns öfter sehen. Ich gehe gern ins Theater. Heute gibt es übrigens "Der Todestanz" von August Strindberg. Schade, dass Sie erst ab Juli in Berlin sein können. Wir hätten jetzt schon offen und kritisch über das Bühnenbild reden können. Ich finde, dass die Schauspieler maßlos übertreiben und das Bühnenbild in den Hintergrund rücken. Gerne würde ich Ihre Meinung dazu hören. Ich nehme an, wir würden uns in der Sektpause zwischen dem zweiten und dritten Akt im Premierenpublikum treffen. Ich nehme an, dass ich Ihnen den Inhalt meines Sektglases ins Gesicht schütte.

Wären die Leute bei “Bild” Ihre Freunde, dann hätten sie in Ihrem Manuskript sicher unauffällig den Titel “Der Todestanz” in “Totentanz” korrigiert. Sie hätten vermutlich beiläufig das Wort “Premiere” aus dem Text entfernt, denn die Premiere ist nicht heute abend, sondern war schon im Dezember. Und sie hätten wahrscheinlich den ganzen Teil mit der “Sektpause zwischen dem zweiten und dritten Akt” herausgenommen, denn die Vorstellung ist so kurz, dass sie ganz ohne Pause auskommt.

Alternativ hätten die “Bild”-Verantwortlichen, wenn sie Ihre Freunde wären, vielleicht wenigstens den Satz “Ich gehe gern ins Theater” ersatzlos gestrichen.

Vielen Dank an Chris K. für den sachdienlichen Hinweis!

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