Bei großen Gerichtsprozessen zeigt sich in besonderer Weise, auf welch unglaubliche Ideen die Medien in ihrer Sensationsgier kommen können.
Besonders schlimm wird es oft, wenn die Hektik des Auftaktes verflogen ist und sich der Prozess von seiner unspektakulär-bürokratischen Seite zeigt. Es gibt Verhandlungstage, an denen keine grausamen Protokolle vorgelesen und keine tränenreichen Geständnisse abgelegt werden, und an denen auch sonst nichts passiert, was man zu einer knackigen Schlagzeile verarbeiten könnte.
Dann muss man als Boulevardjournalist kreativ sein. So wie die Leute beim Online-Auftritt der “Hamburger Morgenpost”:
(Unkenntlichmachung von uns.)
Mit Dank an den Hinweisgeber.
Nachtrag, 17. Mai: mopo.de hat den Artikel heimlich geändert. Überschrift und Foto wurden ausgetauscht, die Textpassagen gelöscht.
Wenn früher ein Verbrechen geschah, schwärmten die Reporter der Boulevardzeitungen aus und versuchten, bei Angehörigen und Nachbarn, teils unter Vortäuschung falscher Tatsachen, an Fotos des Opfers und des Tatverdächtigen zu kommen.
Diese Mühe und schmutzige Arbeit muss sich heute niemand mehr machen, denn es gibt ja das Internet und damit quasi unbegrenzten Zugang zu Fotos von Opfern und Tatverdächtigen — oder Leuten, die so ähnlich heißen.
Die nächste Stufe sieht nun offenbar so aus: Die Leser sollen nicht mehr nur wissen, wie Opfer und Tatverdächtiger (bzw. der Einfachheit halber: “Täter”) aussehen, sie sollen sich auch selbst ein Bild machen können — vielleicht mit der Handykamera als Leserreporter, vielleicht mit Fackeln und Forken als Mob.
“Bild” hatte letzte Woche schon mal vorgelegt und ausführlich die Berliner Umgebung beschrieben und beschriftet, in dem ein Elternpaar lebte, dem vorgeworfen wird, seinen Säugling getötet zu haben (BILDblog berichtete), gestern widmete sich Bild.de neuen Erkenntnissen im Mordfall Peggy K. und garnierte den Text mit einer interaktiven Grafik, in der sich der geneigte Leser den vermeintlichen Tatort, den Wohnort des Opfers, den des bisherigen Tatverdächtigen und den des neuen Tatverdächtigen anzeigen lassen kann:
(Unkenntlichmachungen von uns.)
Laut “Frankenpost” hatte die Polizei bereits am Montag versucht, das Grundstück des neuen Tatverdächtigen mit “mit Tüchern verhängten Bauzäunen vor neugierigen Blicken” zu schützen. Das Grundstück, dessen Lage die “Frankenpost” selbst einigermaßen klar nennt. “Spiegel Online” nennt die Straße, in der das Haus steht, und seine auffällige Farbe — und falls da noch Verwechselungsgefahr bestehen könnte, ist in der Bildergalerie auch noch ein Foto des Hauses zu sehen. Auch dpa nennt die Straße und liefert ein Foto des Hauses mit.
Für die Anwohner dürfte das nicht Neues sein: Sie leben in einer kleinen Stadt mit nicht mal 1.100 Einwohnern, wo eh jeder jeden kennt und wo seit Montag zahlreiche Medienvertreter vor dem betreffenden Haus campieren. Aber die Empörten und Gestörten aus der ganzen Republik, die müssen sich heute nicht mehr durch Telefonbücher wühlen oder in zwielichtigen Webforen rumtreiben: Sie bekommen ihre Informationen direkt von vermeintlich seriösen Nachrichtenwebsites geliefert.
Früher konnten Eltern ihren Kindern noch die Augen zuhalten, wenn in der “Tagesschau” Beiträge über den Bürgerkrieg in Jugoslawien, Anschläge der IRA oder ähnliche, mutmaßlich blutige Themen angesagt wurden. Heute surfen die Kinder im Internet rum und auch wenn die wenigsten von ihnen freiwillig auf Nachrichtenseiten gehen dürften, ist die Chance, auf verstörende (Bewegt-)Bilder zu stoßen, allgegenwärtig.
Nachdem es am Montag an der Ziellinie des Boston Marathons zu zwei Explosionen gekommen war, tauchten innerhalb kürzester Zeit im Internet Fotos und Videos auf, bei denen sich viele sicherlich die schützende Hand der Eltern zurückgewünscht haben — und das nicht nur bei Facebook, Twitter & Co. (vgl. “6 vor 9” von heute), sondern auch auf mehr oder weniger seriösen Nachrichtenseiten.
Bild.de zeigte (natürlich) Bilder, die mit “Blutüberströmt wird diese verletzte Frau in einem Rollstuhl zum Krankenwagen gefahren”, “Eine junge Frau wird vor Ort am Boden verarztet”, “Ein verletzter Mann liegt mit schmerzverzerrtem Gesicht auf einer Trage”, “Auch dieser schwer verletzte Mann muss im Rollstuhl zum Krankenwagen gebracht werden” und “Eine Frau mit einem verwundeten Bein wird auf eine Trage verlagert” einigermaßen treffend umschrieben sind. “Focus Online” präsentierte eine Bildergalerie unter der Überschrift “Terror auf der Ziellinie – Schreckens-Bilder aus Boston”, stern.de zeigte Fotos, auf denen “deutlich […] die Blutflecken zu erkennen” waren, oder sich Menschen “schreiend auf der Erde wälzen”, und “RP Online” betextete seine Bildergalerie durchaus treffend mit: “Diese Läuferin läuft weinend durch die Gegend” und “Überall waren Blutlachen zu sehen”. Auf amerikanischen Nachrichtenseiten waren mitunter noch heftigere Fotos zu sehen, noch mehr Blut — teils ohne jede Vorwarnung direkt auf der Startseite.
Auf sueddeutsche.de erschien gestern ein Artikel über die “Macht der Bilder”, in dem es heißt:
Egal, wer für den Anschlag verantwortlich ist, die Täter haben ein erschreckendes Gespür für die Symbolik eines Terroranschlags gezeigt. Nirgendwo waren mehr Kameras, nirgendwo haben mehr Menschen das Ereignis verfolgt. Und an keiner anderen Stelle wäre die unmittelbare Aufmerksamkeit höher gewesen, als an der Ziellinie. Jede Sekunde des Anschlags ist in zahllosen Clips aus allen nur denkbaren Einstellungen zu sehen. Jedes kleinste Detail wurde mit Smartphones festgehalten und hat sich innerhalb weniger Minuten auf der ganzen Welt verbreitet. Ungefiltert, nahezu in Echtzeit. Wer will, kann das Grauen mit all seinen Facetten ansehen. Und genau das ist es, was die Terroristen bezwecken.
Das ist sicher richtig.
Insofern ist es konsequent und lobenswert, dass sueddeutsche.de diesem und anderen Artikeln einen Kommentar hinzugefügt hat:
Im Zuge der Berichterstattung über den Anschlag in Boston verzichtet Süddeutsche.de bewusst auf die Veröffentlichung von Fotostrecken und Videos mit blutigen Bildern der Opfer. Uns ist bewusst, dass andere News-Seiten, auf die wir – nach sorgfältiger Prüfung – in unseren Texten verlinken, derartige Fotos möglicherweise zeigen. Wir glauben jedoch, dass in diesen Fällen der Informationsgehalt der verlinkten Artikel so hoch ist, dass Verweise dennoch gerechtfertigt sind.
Vor dem Berliner Landgericht wurde heute der Prozess um ein Mordkomplott gegen eine junge Pferdewirtin aus Berlin-Lübars eröffnet. Der Fall ist einigermaßen spektakulär (der Ex-Freund des Mordopfers und seine Mutter sollen einen Auftragskiller beauftragt haben, um die Lebensversicherung der jungen Frau zu kassieren), das Medieninteresse entsprechend hoch.
Viele Medien greifen auf die Fotos zurück, die die Deutschen Presseagentur (dpa) im Gerichtssaal aufgenommen hat.
Das gleiche Foto zeigte auch rbb-online.de in einer Bildergalerie und als Aufmacherfoto:
Doch das auf dem Bild, das sind keine Angeklagten. Es sind die Brüder des Mordopfers, die vor Gericht als Nebenkläger auftreten, wie uns ihr Anwalt (der auf den Fotos neben ihnen zu sehen ist), auf Anfrage bestätigte.
Zumindest bei Bild.de hätten sie ahnen können, dass da irgendetwas nicht stimmt. Dort steht:
Die Angeklagten, die während des Prozesses in einem Glaskasten sitzen, versteckten ihre Gesichter hinter Zeitungen und Aktendeckeln.
Kein Glaskasten, keine Angeklagten.
Die dpa hat das Foto am Nachmittag zurückgezogen und ihre Kunden angewiesen, es nicht mehr zu verwenden. Der RBB und Bild.de sind dieser Bitte inzwischen nachgekommen.
Der dpa-Sprecher erklärte, bei der internen Überprüfung, wie es zu diesem “echt ärgerlichen” Fehler habe kommen können, deute aktuell vieles auf “Fehlinformationen vor Ort” hin, denen die Fotografin im Gerichtssaal aufgesessen sei.
Man könnte fast den Eindruck bekommen, als sei Holger Bloehte dem Politiker Martin Korol noch was schuldig. Denn seit Tagen springt der “Bild”-Reporter mit erstaunlicher Hartnäckigkeit für den Bremer SPD-Mann in die Bresche.
Für Unmut hatte Martin Korol zuvor mit diversen Aussagen gesorgt, die er auf seiner Homepage veröffentlicht und in denen er unter anderem massiv gegen die Roma-Zuwanderer in Bremen gewettert hatte. Korol habe der Partei mit diesen diskriminierenden Äußerungen “schweren Schaden” zugefügt, sagt der Landesvorstand, der mittlerweile ein Parteiordnungsverfahren gegen den Genossen beantragt hat. Doch trotz aller Kritik an Korol – Holger Bloehte hält zu ihm.
Wie wir vor ein paar Tagen berichtet haben, versuchte der “Bild”-Mann bereits, in einem Artikel einige von Korols umstrittenen Äußerungen mit einer Kriminalstatistik indirekt zu untermauern. In dem Artikel wurde diese Statistik jedoch dermaßen falsch interpretiert, dass sich selbst der Vorsitzende der “Bürger in Wut”, auf dessen angeblichen Aussagen diese verzerrte Darstellung beruhte, im Nachhinein von dem “Bild”-Artikel distanzierte.
Aber wie gesagt: Holger Bloehte ist hartnäckig. Anfang der verganenen Woche widmete die Bremer “Bild”-Ausgabe dem SPD-Mann Martin Korol erneut einen großen Artikel:
Nun also der Kämpfer. “Dr. Korol wehrt sich”.
Gezeichnet wird das Bild eines “altgedienten Genossen”, dem seine undankbare Partei nach all den Jahren plötzlich den Rücken kehrt. Aus Gründen, die wohl weder Korol noch Verteidiger Bloehte so richtig nachvollziehen können. Oder wollen.
Schon der erste Satz lautet:
“Ich war 45 Jahre in der SPD und will es auch bleiben.”
Peng. Damit sollte klar sein, wohin die Reise geht.
Der Bürgerschaftsabgeordnete Dr. Martin Korol (68) soll über ein Ordnungsverfahren aus der Partei fliegen, weil er auf seiner Internetseite vor dem Ansturm krimineller Roma-Flüchtlinge warnte.
Korol zu BILD: “Ich lasse mich nicht unterkriegen und werde kämpfen.”
Bloehte schaffte es tatsächlich, es so klingen zu lassen, als hätte Korol etwas getan, wofür man ihm eigentlich dankbar sein müsste. Bloehte schreibt weiter:
[SPD-Landesgeschäftsführer Roland Pahl] sagte: “Es gibt Grenzen der freien Meinungsäußerung. Dr. Korol hat mit seinen Äußerungen unserer Partei großen Schaden zugefügt.” Im sozialdemokratisch regierten Duisburg gibt es bereits massive Kriminalitäts-Probleme mit Roma-Einwanderern aus Bulgarien und Rumänien. Dort warnen SPD-Politiker vor einer Gefahr für den sozialen Frieden.
Doch das will Pahl für Korol nicht gelten lassen:”Es ist doch etwas ganz anderes, wenn so vor sozialen Problemen gewarnt wird.”
Doch hat Korol etwas anderes getan?
Ob Korol etwas anderes getan hat? Nun, da “Bild” selbst diesen Vergleich bemüht: Im Sachstandsbericht der Stadt Duisburg (PDF) hieß es im Januar:
Weit über den Stadtteil Rheinhausen-Bergheim hinausgehend hat die Zuwanderung von Menschen aus Südost-Europa hohe Wellen geschlagen. Besonders im Umfeld des sogenannten “Problemhauses”, aber auch an anderen Stellen ist der soziale Frieden nachhaltig gestört.
(Das “Problemhaus” ist ein Hochhaus, in dem schätzungsweise 300 bulgarisch– und rumänischstämmige Menschen wohnen und in dessen Umfeld es immer wieder zu Konflikten kommt.)
Diese Sätze, diese Warnung vor sozialen Problemen vergleicht Holger Bloehte nun also mit dem, was Martin Korol getan hat. Er schreibt:
Doch hat Korol etwas anderes getan?
In seinem Roma-Bericht heißt es unter anderem: “Gewiss, hier lohnt der Kampf um jedes Kind und um jeden Erwachsenen. Aber dafür sind wir Bremer kaum gerüstet.”
Das ist alles. Mehr erfährt der Leser nicht von den umstrittenen Äußerungen Korols. Das, worum es also eigentlich geht — der Anlass für den ganzen Streit um Korol und letztlich auch dafür, dass dieser “Bild”-Artikel überhaupt geschrieben wurde — wird auf zwei Sätze reduziert.
Wer die Diskussion um den SPD-Politiker bisher nicht mitbekommen hat, muss aufgrund der Art der Berichterstattung davon ausgehen, dass Martin Korol im Grunde gar nichts Schlimmes gesagt hat. Für all jene wollen wir mal kurz ein bisschen von dem zitieren, was Korol so alles in die Welt gesetzt hat — und was “Bild”-Autor Holger Bloehte seither zu verharmlosen versucht.
Korol hatte zum Beispiel geschrieben:
Es muss erstaunen, dass eine so hoch entwickelte Stadt wie Bremen ihre Liebe zu Roma und Sinti entdeckt, die, sozial und intellektuell, noch im Mittelalter leben, in einer uralten patriarchalischen Gesellschaft. (…) Es ist ein Patriarchat, dessen Männer keine Hemmungen haben, die Kinder zum Anschaffen statt zur Schule zu schicken, ihren Frauen die Zähne auszuschlagen und sich selber Stahlzähne zu gönnen. Viele der jungen Männer schmelzen sich mit Klebstoffdünsten das Gehirn weg.
Allein diese Passage (die Bloehte in einem älteren Artikel noch zitiert und die Korol in ähnlicher Form auch schonmal persönlich in “Bild” zum Besten gegeben hatte) sollte ganz gut veranschaulichen, in welche Richtung das ging, was Martin Korol so von sich gegeben hat.
Auf seiner Homepage beklagte er außerdem den “Massenmord der Abtreibungen” und bedauerte den Niedergang des Patriarchats (“Männer 60+ wie ich sind die letzten Vertreter eines untergehenden Herrschergeschlechtes”). Nun übernähmen “zunehmend Frauen und Immigranten die Macht im Lande”. Er kritisierte den “Wahn der sog. ‘Selbstverwirklichung der Frau'” und bezweifelte, dass es in Deutschland “einen ernst zu nehmenden Antimuslimismus und Rassismus” gebe.
Solche Dinge hat Martin Korol verbreitet. Einige davon hat er inzwischen relativiert, seine Seite wird derzeit komplett überarbeitet. Dennoch dürfte klar sein, dass Korol durchaus “etwas anderes getan” hat, als bloß vor sozialen Problemen oder “vor dem Ansturm krimineller Roma-Flüchtlinge” zu warnen. Das sieht auch seine Partei weiterhin so, deren Landesvorstand am Mittwoch mitteilte, “alle Rechte aus der Mitgliedschaft Martin Korols in der SPD für zunächst längstens drei Monate” auf Eis zu legen. Außerdem wurde ein Parteiordnungsverfahren beantragt:
Zahlreiche Äußerungen, die Martin Korol in den auf seiner Homepage veröffentlichten Texten getätigt hat, verstoßen auf Grund ihres diskriminierenden Charakters in erheblicher Weise gegen die Grundsätze der SPD. Dies gilt insbesondere für die massive Herabsetzung der Bevölkerungsgruppe der Sinti und Roma. Ein erheblicher Verstoß gegen die Grundsätze der SPD ist auch in den frauenfeindlichen Äußerungen Martin Korols zu sehen.
Martin Korol setzt sich mit seinen Auffassungen in Widerspruch zu Werten und Positionen, die für die SPD von grundsätzlicher und identitätsstiftender Bedeutung sind und wird dennoch, insbesondere auf Grund seiner Stellung als Abgeordneter der Bremischen Bürgerschaft, in der Öffentlichkeit als Repräsentant der SPD wahrgenommen. Dies machte es für den Landesvorstand erforderlich, die genannten Maßnahmen zu ergreifen.
Korol aber lässt sich, wie wir dank “Bild” wissen, “nicht unterkriegen”. Holger Bloehte auch nicht.
Am Samstag erschien der nächste Korol-Artikel, diesmal groß auf Seite 3 der Bremer “Bild”-Ausgabe:
An der roten Backsteinwand prangt in lila Großbuchstaben “KOROL DU RASSISTENSCHWEIN!” Chaoten haben das Haus des in Ungnade gefallenen SPD-Abgeordneten Dr.Martin Korol (68) in der Nacht beschmiert.
Diese “Hetzparole” an der Hauswand des Politikers sei der vorläufige “Höhepunkt in dem Skandal um seine öffentliche Kritik gegen kriminelle Roma-Einwanderer”, schreibt Bloethe. Und lässt Korols Aussagen dabei erneut viel harmloser wirken, als sie tatsächlich sind. Außerdem nutzt Bloehte den “Graffiti-Anschlag”, um der Diskussion unauffällig eine ganz andere Stoßrichtung zu geben:
Auch SPD-Fraktionsgeschäftsführer Frank Pietrzok (48) war geschockt, als er [von der “Hetzparole” auf der Hauswand] erfuhr: “Das hat niemand in der Partei gewollt.”
Allerdings sind Korols SPD-Genossen während der letzten Bürgerschaftssitzung mit ihrem geächteten Fraktionskollegen nicht gerade zimperlich umgegangen.
Und zack! – steht im Fokus nicht mehr das, was Korol getan hat, sondern das, was seine Parteifreunde ihm antun. Denn die Genossen, so schreibt Bloehte, die hätten den “pensionierten Lehrer” während der Sitzung gemieden “wie eine ansteckende Krankheit”:
Im Plenarsaal wurde ihm von Parteifreunden provokativ der Rücken zugekehrt. Niemand sprach mit ihm. In der Lobby der Bürgerschaft war er an der Kaffeetafel seiner Parteifreunde unerwünscht. Der Bremerhavener Abgeordnete Frank Schildt (51) entzog ihm sogar das “Du”, nannte in einer internen Sitzung die Zusammenarbeit mit Korol “unerträglich”.
Oder anders gesagt:
Dr. Martin Korol wird von seinen Parteifreunden gemobbt
Dies ist also der nächste – irgendwie vorhersehbare, aber in seiner Unverfrorenheit doch erstaunliche – Schritt der Bloehte’schen Berichterstattung über Martin Korol: Der Politiker wechselt endgültig in die Rolle des Opfers. Der altgediente Genosse, gemobbt von den eigenen Parteifreunden. Und obendrein Leidtragender einer fiesen “Hetzbotschaft”.
Auf Bild.de sah das Ganze dann so aus:
Übrigens kommt Holger Bloehte erst ganz am Ende des Artikels und in äußerster Knappheit darauf zu sprechen, warum Korol überhaupt erst “in Ungnade gefallen” ist, er “gemobbt” und “geächtet” wird, man ihm den Rücken zukehrt und das “Du” entzieht. Und warum gegen ihn sogar ein Parteiausschlussverfahren läuft:
Weil er auf seiner Internetseite behauptete, dass Roma-Väter ihre Kinder zum Anschaffen und Stehlen statt zur Schule schicken.
Ach ja. Darum.
Der Artikel endet mit einem Zitat von – tja.
Korol: “Es ist nicht schön, wie mit mir umgegangen wird. Ich fühle mich wie ein Aussätziger.”
Ein Aussätziger, von dem sich alle abwenden. Alle, bis auf einen.
Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].
1. “Volle Kontrolle über Interviews” (ndr.de, Video, 5:12 Minuten)
Die Branche leidet unter einer “Autorisierungs-Willkür”. Naht der Redaktionsschluß, spielen Interviewte gerne auch mal auf Zeit – und erzwingen so inhaltliche Zugeständnisse.
2. “‘Was heisst hier Objekt?'” (journalist.de, Jan Freitag)
Ein Interview mit “Spiegel-Online”-Redakteurin Annett Meiritz: “Es mag ja fraglich sein, was das übliche Gelage vorm Dreikönigstreffen der FDP journalistisch bringt, aber als Menschen lernt man einen Politiker nicht nur zwischen 8 und 17 Uhr kennen. Und viele meiner Informationen über die Piraten hätte ich auf rein offiziellem Weg kaum gekriegt. Deshalb bin ich dankbar für jedes Gespräch abseits steriler Büros oder Pressekonferenzen, wo man ohne Formalitäten stundenlang über alles Mögliche, vor allem aber Politik reden kann. Wichtig ist nur, dass man vertraulich-professionelle Nähe nicht mit Freundschaft verwechselt.”
3. “Für Texte bezahlen? Auf die Inhalte kommt es an” (nordbayerischer-kurier.de, Joachim Braun)
“Wir sind ja nicht, ich jedenfalls nicht, Journalisten geworden, um ein Teil der örtlichen Schickeria zu sein, abends Häppchen essen zu gehen und in einem Nine-to-Five-Job das zu schreiben, was bestimmte Leute gerne lesen, die sich dann dafür auch, wenigstens mit Anerkennung, dankbar zeigen. So aber sieht Lokaljournalismus derzeit vielfach, natürlich nicht überall, aus. Und so missachtet er die Interessen von 98 Prozent unserer Abonnenten. Journalismus ist Arbeit, kein Vergnügen, und kaum eine Journalismus-Spielart erfordert so viel persönliches Engagement wie guter Lokaljournalismus, weil man immer schrecklich nah dran ist.”
4. “Betr.: Tugendfuror” (tolleneuewelt.blogspot.de)
Robert von Lubo schreibt an die Medien: “Habt ihr ein Opfer auserkoren, seid ihr nicht mehr zu bremsen.”
5. “Beckmann liebt Streich” (kabinentraktate.wordpress.com, Soeren Feyerabend)
Medien erschaffen sich “ein Spektrum von scheinbaren wie plakativen Charaktereigenschaften, die sich in Form einer Angriffsfläche ins Gegenteil verkehren, sobald es nicht mehr läuft”, stellt Soeren Feyerabend fest: “Sobald die Dinge nicht mehr laufen, wenn Christian Streich und der SC Freiburg also einmal ein Tal durchschreiten müssen, wie Streich es auch fortwährend im Sinne des Realismus ankündigt, wird alles, was ihn jetzt auszeichnet, gegen ihn verwendet werden. Er ist dann zu anders, zu komisch, fährt zu viel Fahrrad. Seht her, schreien sie dann: Klappt wohl doch nicht alles so, wie der Freak sich das gedacht hat.”
Als die Österreicherin Natascha Kampusch im Sommer 2006 nach achtjähriger Gefangenschaft plötzlich wieder auftauchte, begann im deutschsprachigen Journalismus eine Jagd. Eine völlig groteske Jagd, die nur ein einziges Ziel hat: Die Antwort auf die Frage, ob Natascha Kampusch Sex mit ihrem Entführer hatte.
Die Jagd beginnt im Jahr 2006. Am 23. August erfährt die Welt, dass das Mädchen wieder aufgetaucht ist. Acht Jahre lang war sie verschwunden, gefangengehalten von Wolfgang Priklopil, der sich noch am Tag ihrer Flucht das Leben nimmt. Jetzt ist sie frei und wohlauf, es ist eine Sensation. Überall auf der Welt berichten Medien über den spektakulären Fall aus Österreich. Und bereits zwei Tage später wird deutlich, was einige daran am allermeisten interessiert:
(…) Vielleicht hat er das Mädchen zu seiner Sex-Sklavin gemacht, vermuten österreichische Medien.
(…) Die Beamtin geht auch davon aus, dass das Mädchen sexuell missbraucht worden ist – “doch das ist ihr nicht bewusst, sie ist der Meinung, es freiwillig gemacht zu haben”. Natascha schilderte auch den Tagesablauf in Gefangenschaft: Sie frühstückte mit der Sex-Bestie, musste im Haushalt helfen.
Seine Sklavin – Sie musste für ihn putzen. Er forderte auch Sex von ihr
(…) Was spielte sich im Keller ab? Eine Polizistin sagt, sie glaube, dass Priklopil Natascha zum Sex zwang: “Aber sie sagt, sie habe das immer freiwillig gemacht.”
“Express”, 26.08.2006
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Zum Sex gezwungen? Natascha und ihr Entführer hatten intime Kontakte
Die mehr als acht Jahre gefangen gehaltene Österreicherin Natascha Kampusch hatte der Polizei zufolge sexuellen Kontakt zu ihrem Entführer.
“Nürnberger Nachrichten”, 28.08.2006
Nun, bis hierher unterscheidet sich dieser Fall nicht wesentlich von anderen, in denen entführte Kinder wieder aufgetaucht sind. Die Selbstverständlichkeit, mit der hier über den “sexuellen Kontakt” zwischen Opfer und Entführer spekuliert wird, ist im heutigen BoulevardJournalismus nichts Ungewöhnliches und zum Teil sicherlich unserem eigenen Voyeurismus geschuldet. Detaillierte Schilderungen der durchlebten Qualen sind zum Pflichtprogramm in der Berichterstattung geworden; wer über ein entführtes Kind berichtet, berichtet im selben Atemzug auch über das, was es durchmachen musste. Es scheint, als gehöre das dazu.
Und wenn heutzutage deutsche Journalisten – so wie im Fall von Stephanie R. vor ein paar Jahren geschehen – in einer großen Magazingeschichte die Leiden eines 13-jährigen Mädchens nachzeichnen, das “mehr als 100-mal” missbraucht wurde, gehört es offenbar auch dazu, dass geschildert wird, wo und wann und wie der Entführer das Mädchen vergewaltigt hat – und woran es dachte, “während er in ihr” war. Der “Spiegel” jedenfalls hatte 2006 kein Problem damit, solche Details zu veröffentlichen.
Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].
1. “Reporter ohne Grenzen veröffentlicht aktuelle Rangliste der Pressefreiheit” (reporter-ohne-grenzen.de)
Die Rangliste der Pressefreiheit 2012 mit Finnland, Niederlande und Norwegen auf den ersten sowie Turkmenistan, Nordkorea und Eritrea auf den letzten Plätzen. Österreich (Platz 12), die Schweiz (14) und Deutschland (17) befinden sich im vorderen Bereich.
2. “‘Breaking Bad’, die Dänen und wir” (drama-blog.de, Thilo Röscheisen)
Drehbuchautor Thilo Röscheisen antwortet auf den “Spiegel”-Beitrag “Im Zauderland”, der beklagt, dass Deutschland keine Serien wie zum Beispiel “Homeland” hinkriegt: “Das raffinierte Geschäftsmodell, das die amerikanischen Pay-TV-Sender entwickelt haben, besteht darin, Serien für eine kleine, aber lautstarke Minderheit zu produzieren und von den Kabelnetzbetreibern immer höhere Gebühren zu verlangen. Zwar könnten die Kabelnetzbetreiber sich weigern, höhere Gebühren zu bezahlen, dann dürften sie aber das Programm der Sender nicht mehr verbreiten, mit der Folge, dass die meinungsstarken Fans dieser Serien ihnen die Hölle heiß machen würden. Also zahlen sie.”
5. “Medien, die auf Ausschnitte starren” (taz.de, Agnes Krumwiede)
Sexismus sei ein “Macht- und Stilmittel” des Journalismus, schreibt Agnes Krumwiede: “Politikerinnen auf ihre Weiblichkeit zu reduzieren, geht oft einher mit einer Abwertung ihrer Kompetenz.”
6. “Allein unter lustfeindlichen Heteros” (welt.de, Tilman Krause)
“Warum können die Deutschen nicht spielerisch mit Sexualität umgehen?”, fragt Tilman Krause, der glaubt, dass Deutsche “bitte schön nur Subjekt der Begierde zu sein wünschen”: “Seid Opfer und Täter zugleich! Das entspannt.”
Wenn die Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung (BFU) einen Bericht herausbringt, schalten sie bei “Bild” reflexartig in den Katastrophen-Modus um. Als wäre das Schlimmste passiert, was hätte passieren können. Hätte ja passieren können! In der “Bild”-Sprache tragen solche Vorfälle dann Namen wie “Horrorflug”, “Beinahe-Crash”, “Beinahe-Absturz”, “Beinahe-Katastrophe”, “Beinahe-Unfall”, “Beinahe-Zusammenstoß”, “Fast-Katastrophe”, “Fast-Absturz” oder “Fast-Unfall”.
Richtig schlimm wird es aber, wenn bei einem Zwischenfall tatsächlich etwas passiert ist. Wenn Menschen zu Schaden gekommen sind.
Anfang Dezember sind bei einem Flugzeugunglück in Hessen acht Menschen ums Leben gekommen. Damals waren zwei Kleinflugzeuge bei klarem Himmel in der Nähe von Wölfersheim kollidiert und abgestürzt. Die BFU kündigte kurz nach dem Unglück an, frühestens Anfang Februar einen ersten Untersuchungsbericht vorzulegen. Doch “Bild” veröffentlichte schon am vergangenen Dienstag “erste Details aus dem Flugunfall-Bericht”:
(Natürlich verzichtet “Bild” nicht darauf, drei große unverpixelte Fotos — hier abgeschnitten — von einigen der Opfer zu zeigen.)
Im Artikel heißt es:
Am 8. Dezember krachen zwei Kleinflugzeuge am Himmel der Wetterau zusammen. Acht Menschen sterben, darunter 4 Kinder.
Mitte Februar soll das Unfallgutachten veröffentlicht werden. BILD liegen schon jetzt erste Details vor.
Es sind schreckliche Einzelheiten, die die Ermittler in ihr Unfall-Gutachten schreiben müssen.
Die “Bild”-Autoren schildern unter anderem, dass sich die beiden Erwachsenen in einer der Maschinen “von den Kindern (…) ablenken” ließen, dass das eine Flugzeug das andere “von hinten im 30-Grad Winkel” traf, dass das Hauptfahrwerk “in die Kabine” schoss und dabei das 4-jährige Mädchen sofort tötete und dass “die tiefstehende Sonne (…) anscheinend nicht der Grund für die Kollision” war.
All diese Details aus dem Bericht der BFU hat “Bild” exklusiv. So “exklusiv”, dass nicht mal die BFU sie kennt.
Die Behörde reagierte noch am selben Tag, an dem der “Bild”-Artikel erschienen war und schrieb auf ihrer Website:
Im Umlauf befindliche Berichte der Boulevardpresse basieren nicht auf den vorliegenden Untersuchungen.
Normalerweise kommentiere die Bundesstelle Presseberichte nicht, teilte uns Klaus-Uwe Fuchs von der BFU auf Anfrage mit. Diesmal sah sie sich aber offenbar gezwungen: Die Details, die in dem “Bild”-Artikel geschildert werden, seien “reine Spekulation”, erklärte Fuchs, der die Untersuchung des Unglücks von Wölfersheim leitet. Mit den Ermittlungen der BFU stünden sie jedenfalls nicht im Einklang.
Andere Medien indes waren misstrauisch genug, die erfundenen exklusiven “Bild”-Informationen nicht weiter zu verbreiten. Immerhin.
Mit Dank an Torsten L., M.H. und an Paul C. für den Scan.
Nachtrag, 22. Januar: Die Pressemitteilung der BFU ist mittlerweile nicht mehr erreichbar. Sie habe die Funktion gehabt, schrieb uns Klaus-Uwe Fuchs, “(…) Presseagenturen und Nachrichtenredaktionen darüber zu informieren, dass die gemachten Angaben in dem besagten Presseorgan nicht mit den Untersuchungen der BFU im Einklang stehen”. Diesen Zweck habe sie nun erfüllt und sei deshalb wieder gelöscht worden.
Totgesagte leben länger…Fassungslos hält Rentner Wolfgang [L.] (62) aus Kirchheim seine eigene Todesanzeige in den Händen. […]
Rentner [L.] ist sich sicher: “Dahinter kann nur meine Noch-Ehefrau Uschi stecken. Wir sind seit einem halben Jahr getrennt, doch sie macht mir das Leben bis heute zur Hölle.”
Ganz ähnlich muss sich auch Hannah W. im Juni 2012 gefühlt haben. Oder Rudolf K. im Sommer 2008. Und eine andere junge Frau vor knapp zwei Wochen.
Denn auch sie schlugen die Zeitung auf und mussten lesen, sie seien tot. Genauer: Sie schlugen die “Bild”-Zeitung auf.
Im Fall von Hannah W. hatten “Bild” und Bild.de eine “Bluttat in Berliner WG” mit einem Foto der jungen Frau bebildert – obwohl sie weder, wie in dem Artikel behauptet, das Mordopfer war, noch sonst irgendetwas mit dem Vorfall zu tun hatte. Das Foto sowie biografische Details von Hannah W. hatten die Redakteure im sensationsgeilen Eifer kurzerhand aus dem Blog der Studentin geklaut (BILDblog berichtete).
Ende des vergangenen Jahres kam es in einem “Bild”-Artikel über den Unfalltod zweier Mädchen erneut zu einer solchen Verwechslung (BILDblog berichtete ebenfalls).
Und Rudolf K., Vater eines Opfers eines Autounfalls, über den die Boulevardpresse tagelang berichtet hatte, musste 2008 in “Bild” lesen, er sei an einem Herzinfarkt gestorben (BILDblog berichtete auch hier).
Es braucht also nicht die makabren Tricks irgendwelcher Noch-Ehefrauen, um quicklebendige Menschen für tot zu erklären und anderen das Leben zur Hölle zu machen. Nein, dafür braucht es nur die üblichen Methoden von “Bild” und Bild.de.