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Grundgesetz-Paradoxon, Talkshows, Lichtundurchlässige Transparenz

1. Im Namen des Grundgesetzes gegen die Presse
(deutschlandfunk.de, Annika Schneider, Audio: 6:32 Minuten)
Die sogenannten “Querdenker” berufen sich bei ihrem Widerstand gegen die Corona-Maßnahmen gerne auf die im Grundgesetz verankerten Freiheiten. Die Pressefreiheit scheint in ihrem “Querdenken” jedoch weitgehend ausgeklammert: Medien werden pauschal oft als “Lügenpresse” abgetan, beschimpft, bedroht und attackiert. Für Medienschaffende stellt sich ein weiteres Problem: “Wenn Medien Fotos von Demo-Plakaten veröffentlichen, tragen sie die abgebildeten Slogans und Behauptungen in eine Öffentlichkeit, die über die der Veranstaltungsteilnehmer und -zuschauer weit hinausgeht, und verschaffen so auch falschen Tatsachenbehauptungen und Verschwörungsmythen eine Bühne.”

2. Erster Transparenzbericht: Was Pornhub unterschlägt
(sebastianmeineck.wordpress.com)
Sebastian Meineck hat sich den Transparenzbericht von “Pornhub” angeschaut. Die Porno-Plattform war zuvor in die Kritik geraten, weil es dort zahlreiche Fälle von Menschen gibt, die niemals vor einem Millionenpublikum nackt zur Schau gestellt werden wollten; es geht um Fälle von sexualisierter Gewalt, teilweise auch an Minderjährigen. Meinecks Eindruck: Der Transparenzbericht sei in weiten Teilen eher ein “Opazitätsbericht”.

3. Mehr Likes für die Täter
(katapult-magazin.de, Daniela Krenn)
Nachdem eine südkoreanische Staatsanwältin öffentlich von Übergriffen ihres Chefs berichtet hatte, verbreitete sich der Hashtag #MeToo auch in Südkorea und war dort großes Thema. Die anfängliche Solidarität mit Betroffenen und Unterstützung für Opfer sei zu Beginn groß gewesen, dann jedoch abgerissen und ins Gegenteil umgeschlagen. Eine Studie ist der Frage nachgegangen, wie es zu dem Meinungswandel kam.

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4. Zentrum des Fortschritts: Wie sich das ZDF neu erfindet
(dwdl.de, Alexander Krei)
Thomas Bellut befindet sich nach zwei Amtszeiten im letzten Jahr seiner Tätigkeit als ZDF-Intendant. Die bisherige Bilanz falle positiv für Bellut aus, so Alexander Krei: “On air könnte es für den Sender kaum besser laufen. Die Quoten stimmen und personell wurden jüngst wichtige Weichen gestellt.”

5. Das Comeback des Polittalks
(taz.de, Anne Fromm)
Die öffentlich-rechtlichen Talkshow-GastgeberInnen Anne Will und Markus Lanz können derzeit Rekordquoten verzeichnen. Anne Fromm kommentiert: “Der Erfolg liegt auch daran, dass Talkshows an Tiefe gewonnen haben. Hätten in den vergangenen Jahren so viele Mi­gra­ti­ons­ex­per­t:in­nen in den Talkshows gesessen wie heute Mediziner:innen und Bio­log:in­nen, wäre die Debatte um die Aufnahme von Geflüchteten anders verlaufen.”

6. Diese zehn seltsamen Nutzerfragen (und Millionen mehr) werden bald gelöscht
(spiegel.de, Markus Böhm)
Yahoo macht seine Ratgeber- und Frageportale dicht. Davon betroffen sind im englischsprachigen Raum “Yahoo Answers” und im deutschsprachigen Raum “Yahoo Clever”. Die Portale sollen nicht auf dem jetzigen Stand eingefroren werden, sondern tatsächlich samt aller Inhalte gelöscht werden. Markus Böhm hat sich angeschaut, was der Menschheit so alles an Weltwissen verloren geht. Spoiler: angesichts seiner Liste nicht unbedingt viel.

Bild  

“Wenn ich Reichelt hier sehe, habe ich den Eindruck, dass er in einer Art Kriegszustand lebt”

Günter Wallraff recherchierte einst investigativ und verdeckt als “Hans Esser” bei “Bild” und sorgte mit seinen Büchern “Der Aufmacher” (1977) und “Zeugen der Anklage” (1979) für viel Aufsehen. Jakob Buhre hat für BILDblog Wallraff am 12. Dezember in Köln getroffen und mit ihm einige Passagen der neuen Amazon-Doku “Bild.Macht.Deutschland?” angeschaut.

Protokoll/Interview: Jakob Buhre

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Heiko Maas nach einem “Bild-Live”-Interview in der “Bild”-Redaktion, Folge 1: “Die ‘Bild’ ist eines der größten Printmedien in Deutschland, sie vermittelt einem Zugang zu der breiten Masse der Öffentlichkeit, und Politiker sind darauf angewiesen, dass sie kommunizieren können, in die Öffentlichkeit, mit dem was sie tun, mit dem was sie für richtig halten. Und dafür ist die ‘Bild’ ein richtig gutes Instrument.”

Wallraff: Man kann es schon fast als Unterwerfung deuten, wie staatstragende Politiker hier bei “Bild” ihre Aufwartung machen und antichambrieren. Aber hat unser Außenminister so etwas wirklich nötig?

Peter Tschentscher, Folge 1: “Die ‘Bild’ ist eine konservative Zeitung, ich bin ein konservativer Mensch und die Sozialdemokraten in Hamburg sind sehr bodenständig. Insofern passt das gut zusammen.”

Wallraff: Da bekennt ein Sozialdemokrat vor dem Springer-Hochhaus: “ich bin konservativ”. Ehrlich gesagt hat mich das jetzt erstmal verunsichert, ob Tschentscher nicht am Ende CDU-Mitglied ist. Warum dieser Kotau? Was passt denn da so gut zu zusammen?

Karl Lauterbach, Folge 3: “Es kommt drauf an, ob ich, um Hetze zu betreiben, kleine Unterschiede hochjazze und damit den Eindruck erwecke, die widersprechen sich alle, oder ob ich das Gemeinsame betone und einräume: an der Spitze gibt es noch unterschiedliche Bewertungen.”

Wallraff: Ich bin mit Karl Lauterbach befreundet. Für mich ist er ein Ausnahme-Politiker. Er hat kein sicheres Bundestagsmandat, redet keinem nach dem Mund und macht sich nicht gemein, sich denen anzubiedern. Er spricht hier davon, dass “Hetze betrieben wird”, das finde ich mutig. Und immerhin zeigen uns die Filmemacher das.


“Allein die Liaison “Bild”-Amazon ließ das Schlimmste befürchten.” (Foto: Christoph Michaelis)

Wie ist denn Ihr Eindruck insgesamt vom Filmischen her?

Wallraff: Da waren gerade sehr viele Zeitungen zu sehen. Können wir nochmal dahin spulen? – Hier, diese Stapel, das sind alles “Bild”-Exemplare. Entweder liegen in den Redaktionen auf den Schreibtischen wirklich keine anderen Zeitungen oder ist es eine plumpe Werbung?

Die Auswahl der Themen und Schauplätze wirkt auf mich sehr beliebig. Man erfährt nur wenig über den Durchschnitt der Artikel, die in der Zeitung erscheinen, welche Themen dort bevorzugt werden. Mir fehlen auch die “Bild”-Leserinnen und -Leser.

Insgesamt habe ich den Eindruck, dass das alles sehr im gegenseitigen Einvernehmen von Amazon und “Bild” stattgefunden hat. Wären die Filmemacher unabhängig, hätten sie auch mit Opfern der “Bild”-Berichterstattung oder externen Medienkritikern gesprochen. So ist das die reinste “embedded”-Reportage.

Christian Lindner, von dem “Bild” einen Paparazzo-Abschuss druckte, äußert sich allerdings auch in der Doku.

Wallraff: Na, und. Aber wenn es um die namenlosen Opfer von “Bild” geht, das sehe ich hier nicht, dass die einmal zu Wort kommen. In Folge 7, von der Sie mir gerade Auszüge gezeigt haben, ist die Diskussion der Redaktion über Persönlichkeitsrechte zu sehen, immerhin. Allerdings vermute ich, dass die wenigsten Zuschauer sich diese ermüdende Serie bis zur letzten Folge antun werden.

Auch von Ihren Recherchen bei “Bild” gibt es Filmaufnahmen. Wie sind Sie damals mit Kameras in die “Bild”-Redaktion gekommen?

Wallraff: Das war gar nicht so einfach, es gab ja noch keine versteckten Kameras. Mir half damals ein Freund vom niederländischen Fernsehen, Jan Kuiper. Sein Sender hat vorgegeben, dass sie im Rahmen einer Städtepartnerschaft-Reportage auch in Hannovers Redaktionen filmen wollten. Die erste Anfrage hatte mein Redaktionsleiter abgelehnt. Also hat ein Team zwei bis drei andere Drehs simuliert und so getan, als würden sie zum Beispiel bei der “Hannoverschen Allgemeinen Zeitung” Filmaufnahmen machen. Das hat bei “Bild” die Eitelkeit geweckt, und sie sind drauf angesprungen. Meine Freunde kamen schließlich mit zwei Teams. Die einen haben den Chefredakteur in ein Dauer-Interview verwickelt, die anderen haben im Großraumbüro das zynische Treiben gefilmt.


Günter Wallraff 1977 als “Hans Esser” in der “Bild”-Redaktion Hannover. (Foto: Günter Zint)

Zurück zur Amazon-Doku: Wie beurteilen Sie die Aussagen der Blattmacherinnen und Blattmacher, die Sie hier sehen?

Wallraff: Es kommen hier welche zu Wort, wo ich sagen würde: Diesen Typus gab es zu meiner Zeit höchst selten. Durchaus reflektierte, vielleicht auch entsprechend ausgebildete Journalisten, die in anderen Blättern vermutlich einen seriösen Journalismus vertreten würden, ihn hier aber nur schwerlich durchsetzen können.

Zu meiner Zeit gab es viel mehr den Drücker-Typ, der den Opfern halb-betrügerisch ins Haus einfiel. Und dann vor allem Machos: Mein Redaktionsleiter hatte einen Schießstand in seiner Penthouse-Wohnung, es wurde Blitzschach gespielt, und man musste sich als trinkfest beweisen. Es war sehr männerbündlerisch. Hier sehe ich, zumindest zwischendurch, auch vereinzelt Frauen, und die kommen eher nachdenklich zu Wort.

Ein großer Unterschied ist auch: Zu meiner Zeit bei “Bild” wurde dem Chef so gut wie nie widersprochen. Der Redaktionsleiter duzte alle, musste aber gesiezt werden.

Wir hatten damals auch viele Kettenraucher, und Whiskey war in der Redaktion das Leitgetränk. Es scheint doch einiges harmloser geworden zu sein, jetzt kaut der Chefredakteur seine Gummibärchen.

Redaktionskonferenz, Folge 1, Redakteur aus dem Off: “Wir wollen die Rede [von Angela Merkel] vernichten?” – Julian Reichelt: “Nein, ich will sie nicht vernichten.”

Wallraff: “Abschießen, vernichten” waren zu meiner Zeit bei “Bild” Alltagsbegriffe. Es ging oft darum, Menschen “fertig zu machen”. “Bring die Sau zur Strecke!” Es gab auch keine Trennung zwischen Berichterstattung und Meinung.

Wenn ich Reichelt hier sehe, habe ich den Eindruck, dass er in einer Art Kriegszustand lebt. Dazu passt ja auch sein Feldbett im Büro. Man weiß von ihm, dass er sich als jemand sieht, der Politik macht – und nicht begleitet.

“Bild am Sonntag”-Chefredakteurin Alexandra Würzbach in einer Redaktionskonferenz, Folge 4: “Wir haben gesagt ‘Refugees Welcome’ und haben es uns zwei, drei Jahre später anders überlegt.” […] – 
Julian Reichelt: “Wir haben uns ‘Refugess Welcome’ nicht anders überlegt, das ist falsch, das lasse ich so nicht stehen.” Es folgen Filmaufnahmen von Paul Ronzheimer im Flüchtlingslager Moria.

Wallraff: Das überrascht mich und entspricht tatsächlich nicht dem Klischee. Vielleicht liegt es auch daran, dass Reichelt noch unter Kai Diekmann selbst in Kriegsgebieten war, in Afghanistan, in Syrien und im Irak, und sogar Flüchtlingen geholfen haben soll, nach Deutschland zu kommen, wie einst der “Spiegel” berichtete. So etwas prägt. Wenn “Bild” Not und Elend im Flüchtlingslager zeigt, könnte man daraus die Forderung an die Politik ableiten, dass sie sich des Themas annimmt.

Filipp Piatov in Folge 3: “Ich bin bei ‘Bild’, weil mir gewisse Grundlinien des Hauses sehr zusagen: Transatlantische Partnerschaft, gutes Verhältnis zu Israel, klares Verhältnis zur Marktwirtschaft, Ablehnung von linken und rechten extremen Ideologien.”

Wallraff: Naja, das sind so Gemeinplätze. Ein paar Gebetssäulen. Ich finde, das ist ein bisschen wenig.

Alexander von Schönburg in Folge 3: “Ich war früher bei der ‘FAZ’, bin jetzt bei der ‘Bild’ und empfinde das, was ich hier mache, als Aufstieg, auch als intellektuellen Aufstieg. […] Wer Wichtiges zu sagen hat, kann es in kurzen Sätzen sagen, dazu zwingt einen ‘Bild’. Darum habe ich persönlich profitiert, für mein eigenes Schreiben, dass man sich zwingt, kurz und präzise zu schreiben. Und nicht, wie das bei der ‘FAZ’ oder ‘SZ’ zum Teil ist: Du schreibst, um deine Kollegen zu beeindrucken.”

Wallraff: Ach, du Schande. Er tut mir richtig leid. Was muss der Mann erlitten haben, dass er sich hier so klein macht? Konnte er sich früher beim Schreiben nicht klar ausdrücken? Es gibt in der “FAZ” und der “SZ” doch genug Artikel, die eine deutliche und klare Sprache benutzen und trotzdem verständlich und differenziert sind.

Früher steckte in der “Bild”-Sprache sehr oft eine Aggression, Verächtlichmachung und Vernichtungswille bis hin zum Rufmord. Für mich benutzt “Bild” immer wieder eine in der Versimplung auch denunzierende Sprache.


“Das ist doch lächerlich und anmaßend.” (Foto: Christoph Michaelis)

Julian Reichelt in Folge 3: “Unser natürlicher Aggregatszustand ist zu hinterfragen. Und wie sehr wir hinterfragen, sieht man uns halt ein bisschen mehr an, weil unsere Überschriften größer sind und unsere Sprache klarer.”

Wallraff: Das ist doch lächerlich und anmaßend. Es klingt so, als würden andere Medien weniger hinterfragen, weil sie kleinere Buchstaben verwenden. Dabei sind es gerade sie, die differenzieren und auch zwischen Kommentar und Bericht zu trennen wissen.

Und zum “Hinterfragen”: Wenn sie Christian Drosten eine Stunde Zeit geben, um eine Anfrage zu seiner wissenschaftlichen Kompetenz abzuverlangen, nennen sie das “hinterfragen”? Ich fand, das war gegenüber Drosten eine Unverfrorenheit, eine Allmachtsallüre. Dass Drosten sich darauf nicht eingelassen hat, das ehrt ihn.

Die Causa Drosten wird in der Doku sehr ausführlich behandelt, mit vielen kritischen Stimmen von innerhalb und außerhalb der Redaktion.

Wallraff: Da blieb ihnen wohl nichts anderes übrig. Ich habe da jetzt Redakteure gesehen, die sich als Opfer gerieren, keinerlei Reue zeigen, sich auch nicht entschuldigen. Und wenn es Reue gab: Wurde sie in der “Bild” zum Ausdruck gebracht? Ich habe nichts davon gehört.

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Wenn Sie einmal “Bild” 1977 und “Bild” 2020 vergleichen …

Wallraff: Die “Bild” hat heute nicht mehr die zerstörerische Kraft und Macht, auch längst nicht mehr das kriminelle Potential wie damals. “Harmlos” wäre der falsche Begriff, aber sie hat nicht mehr die Relevanz. Damals war es ein beherrschendes, flächendeckendes Medium. Und was ich erlebt habe, war ein Hetzblatt, das auch Menschen mit Falschberichterstattung in den Suizid getrieben hat wie zum Beispiel den Schauspieler Raimund Harmstorf. Ich meine, dass ich mit dazu beitragen habe, dass diese Ära überwunden wurde.

Es gab damals die Rubrik “Bild hilft”, die vielen Menschen aber gar nicht geholfen, sondern hilfsbedürftige Personen bis ins Privateste hinein vorgeführt hat. Ein Junge mit Schulproblemen wurde als “Deutschlands faulster Schüler” und eine Frau, die sich wegen Problemen mit ihrer Fahrschule an “Bild hilft” gewandt hatte, fast kampagnenartig als “Deutschlands schlimmste Fahrschülerin” abgestempelt. Ich habe einen Rechtshilfe-Fonds finanziert, durch den “Bild”-Opfern zu Gegendarstellungen und Unterlassungen verholfen wurde bis hin zu Schadenersatz und Schmerzensgeld: Zum Beispiel für die hinterbliebenen minderjährigen Söhne eines Mannes, der sich nach einem Verleumdungsartikel umbrachte. In seinem Abschiedsbrief rief er zum “Bild”-Boykott auf: “Diese Schande kann ich nicht überwinden, ich wollte zuerst diesen Verbrecher, der K. [der “Bild”-Reporter] heißt, umbringen. Aber ihr solltet keinen Mörder als Vater haben. Durch meinen Tod aber ist er zum Mörder geworden. Wer etwas Ehrgefühl und Verstand hat, der sollte dieses Lügenblatt nicht kaufen!”

Es gibt heute natürlich auch eine andere Gegenöffentlichkeit: Es gibt die Rügen des Presserats, “Bild” liegt hier mit weitem Abstand vorne, lehnt es aber häufig ab, sie abzudrucken. Es gibt die Kollegen vom BILDblog, einige Prominente boykottieren “Bild”, und viele Gerichte betrachten die Persönlichkeitsrechtsverletzungen nicht mehr als Kavaliersdelikt.

Mehmet Scholl, Folge 6: “Die ‘Bild’-Zeitung hat mich ein Jahr lang völlig zerlegt, weil ich nicht mit ihnen gesprochen habe. […] Wenn die “Bild” im Sport alles schreiben würde, was sie wissen … Das tun sie aber nicht, weil sie schlau genug sind, zu wissen: Wir bekommen andere Informationen im Austausch dafür.”

Wallraff: Das sagt natürlich sehr viel aus. Da wird jemand zum Feindbild, weil er nicht mit “Bild” spricht. Und dass man bestimmte Geheimnisse nutzt, um an andere Informationen zu gelangen, das ist eigentlich eine Geheimdienst-Strategie: Wenn bestimmte Dienste Material über Verfehlungen von Politikern besitzen, können sie diese bei Bedarf “gefügig” machen.

Mehmet Scholl: “Ich habe mit der ‘Bild’ die Abmachung: keine privaten Storys. Wenn eine kommt, fragt mich – und dann haben wir es immer gemeinsam entschieden.”

Wallraff: Es gibt Prominente, die der “Bild” bis ins Intimleben hinein Dinge preisgeben, weil sie glauben, dass es ihnen nützt und dass sie geschont werden. Christian Wulff hat sich bis hin zur Home-Story zur Verfügung gestellt, aber es hat ihm nichts genützt. Er war für “Bild” irgendwann fällig, vermutlich aufgrund seiner Äußerung “Der Islam gehört zu Deutschland”. Da ging der Daumen nach unten, und es folgte eine der infamsten Rufmordkampagnen.

Was denken Sie heute über Journalisten, die für “Bild” arbeiten?

Wallraff: Ich differenziere. Wir haben jetzt einen gesehen, der von der “FAZ” zur “Bild” gegangen ist, die Mehrheit hat, glaube ich, eine Journalismus-Ausbildung. Aufgrund meiner früheren Erfahrungen würde ich mich aber nicht auf ein Interview oder eine Home-Story einlassen. Und denjenigen, die es tun, würde ich einen Warnhinweis mitgeben: “Alles, was Sie fortan sagen oder auch nicht sagen, kann gegen Sie verwendet werden.”

Ich kenne auch Menschen, die, durch meine Aufdeckungen inspiriert, zur “Bild” gegangen sind, weil sie es selber wissen wollten. Sandra Maischberger zum Beispiel erzählte in einem “Tagesspiegel”-Interview [Ausgabe vom 10. Februar 2002], dass sie deswegen bei “Bild” ein Praktikum machte und dann ein bisschen enttäuscht gewesen sei, weil sie das “Über-Leichen-gehen” dort nicht erlebt habe. Sie wurde dann übrigens am Ende gefragt, wie oft sie in dem Interview gelogen habe, worauf sie antwortete: einmal. (lacht)

Sollten Politiker heute “Bild” boykottieren?

Wallraff: Das wagt doch kaum noch jemand, aber sie sollten der eigenen Glaubwürdigkeit wegen zumindest Distanz wahren.


Günter Wallraff heute als Günter Wallraff. (Foto: Privat)

Hat man Sie eigentlich für die Amazon-Dokumentation angefragt?

Wallraff: Nein, ich hätte da auch abgesagt. Allein die Liaison “Bild”-Amazon ließ das Schlimmste befürchten.

Sie selbst sagen von sich, dass Sie Amazon boykottieren. Warum kann man dann Ihre Bücher dort kaufen?

Wallraff: Das kann ich leider nicht verhindern. Ich habe meinen Verlag schon vor langer Zeit angewiesen, meine Bücher nicht an Amazon auszuliefern. Mir wurde gesagt, ich würde dadurch zehn bis 15 Prozent Umsatz verlieren – damit kann ich leben. Amazon unterläuft meinen Boykott, indem sie meine Bücher jetzt über Zwischenhändler ordern. Das kann ich nicht verhindern, aber so muss Amazon sie etwas teurer einkaufen, als wenn mein Verlag sie direkt beliefert. Für mich ist Amazon eine globale Seuche, gegen die auch kein Impfstoff hilft.

Seuche ist ein starkes Wort, nicht nur angesichts der aktuellen Situation, wo Menschen froh sind, wenn sie Geschenke online kaufen können.

Wallraff: Das ist das Tragisch-Vertrackte, so ist Amazon auch noch der größte Corona-Krisengewinner, kann seine Umsätze verdoppeln und durch Steuervermeidungsstrategien Milliarden am Staat vorbei einstreichen. Ich verstehe jeden, der keine Möglichkeit hat, in ein Geschäft zu gehen, und deswegen online etwas bestellt. Ich selbst kann und möchte dieses Allmachtstreben von Jeff Bezos nicht unterstützen, der sein Unternehmen ursprünglich “Relentless”, “Gnadenlos” nennen wollte und Konkurrenten als Gazellen bezeichnet, die man jagen müsse. Die Innenstädte sterben aus, die Arbeitsbedingungen bei Amazon sind miserabel – es ist eine seelenlose, total überwachte Arbeitsorganisation. Ich kenne Menschen, die bei Amazon gearbeitet haben und von unheimlichem Druck erzählen. Wer nicht mindestens im Durchschnitt der übrigen Mitarbeiter liegt, fällt heraus. Und nach dem Weihnachtsgeschäft wird aussortiert. Dafür nutzt Amazon den Begriff “ramp down”, der aus dem Vieh-Transport stammt und so viel bedeutet wie “die Rampe runter treiben”. Diejenigen, die entlassen werden, können sich ja dann später neu bewerben, man will so ihre Festanstellung verhindern.

Zum Schluss: Haben Sie mit “Team Wallraff” aktuell jemanden bei “Bild” eingeschleust?

Wallraff: Kein Kommentar.

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“Bunte”-Widerruf, Der Papst und das Nacktmodel, Beliebigkeitsparodie

1. “Bunte” widerruft Titelgeschichte über Helene Fischer und den Vater ihres Freundes
(uebermedien.de, Boris Rosenkranz)
Karl May hat sich seine Wildwest-Geschichten wenigstens komplett ausgedacht. Die stellvertretende “Bunte”-Chefredakteurin Tanja May (nicht verwandt und nicht verschwägert) fantasiert sich zwar auch eine Menge zusammen, verwendet dabei aber real existierende Menschen und schlägt Profit aus ihnen. Aktuell muss die “Bunte” eine von May verfasste Titelgeschichte über Helene Fischer und den Vater ihres Freundes widerrufen. Boris Rosenkranz ist der Sache auf “Übermedien” nachgegangen.

2. Gnihihi, Parodie
(zeit.de, Matthias Kalle)
Matthias Kalle nimmt auf lesenswerte Weise die Kabarett-Disziplin Politikerimitation auseinander. Anlass ist für ihn der Kabarettist Florian Schröder, der mit seiner Karl-Lauterbach-Imitation bei Dieter Nuhr im Ersten vor allem eines bewiesen habe: “Politiker-Imitationen sind das Unlustigste, was es gibt. Die Kunstform scheint komplett aus der Zeit gefallen zu sein, vielleicht war es sie aber schon immer, nur ist es einem in den Achtziger- und Neunzigerjahren einfach nicht aufgefallen.” Kalle weiter: “Florian Schröder will nichts aufdecken. Er will einfach nur so sein wie Karl Lauterbach. Oder wie irgendjemand sonst.”
Weiterer Lesehinweis: Beim “journalist” gibt es aktuell ein ausführliches Interview mit Florian Schröder: “Jeder gute Satiriker braucht einen noch besseren Journalisten” (journalist.de, Thilo Komma-Pöllath).

3. Heftige Kritik an Kurzfilmwettbewerb von ARTE
(beta.blickpunktfilm.de, Frank Heine)
Der deutsch-französische Kulturkanal Arte hat eine Ausschreibung gestartet (“Regisseurin gesucht”), die aus gleich mehreren Gründen auf Ablehnung stößt. Die Autorinnen und Regisseurinnen Pary El-Qalqili und Biene Pilavci haben sich mit einem Offenen Brief direkt an den Sender gewandt. Ihre Hauptvorwürfe: Die Ausschreibung fördere keine strukturelle gleichberechtigte Teilhabe von Regisseurinnen. Die Vorgabe des Themas “Unbeschreiblich weiblich” reduziere die Einreichungen auf die Themen der vermeintlichen Weiblichkeit. Die Ausschreibung sei auf Nachwuchsregisseurinnen beschränkt, und der Sender erwarte die unentgeltliche Anfertigung der Beiträge. Ihrem Offenen Brief haben sich zahlreiche Verbände, Vereine und namhafte Regisseurinnen angeschlossen.

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4. Die eigentlichen Corona-Opfer kommen in den Medien viel zu kurz
(riffreporter.de, Peter Spork)
Der Wissenschaftsjournalist Peter Spork denkt über die Corona-Berichterstattung nach, deren Fokus oft auf Menschen liege, die in ihrer Freizeitgestaltung beeinträchtigt sind oder die um das wirtschaftliche Überleben kämpfen: “Verstehen Sie mich nicht falsch: Viele dieser Schicksale sind hart. Sie sind auch berichtenswert. Aber der Gedanke drängt sich auf, hier wird gesamtgesellschaftlich etwas verdrängt. Ist die wahre Krise nicht eine andere, sehr viel bedrohlichere? All den betroffenen Menschen, denen die deutschen Medien derzeit so gerne zuhören, ist eines gemein: Sie haben keine Coronainfektion. Sie sind gesund. Sie leben in der Lockdown-Krise. Von der Corona-Krise erfahren wir fast nichts.”

5. Berliner Justiz übernimmt den Fall Attila Hildmann
(sueddeutsche.de, Florian Flade & Ronen Steinke)
Der Kochbuchautor Attila Hildmann ist nicht nur Objekt der Medienberichterstattung, sondern so etwas wie ein eigenes Medium: Auf seinem Telegram-Kanal (ca. 120.000 Abonnenten) sendet er nahezu ohne Unterlass verschwörungsideologische Botschaften in die Welt, die teils als antisemitisch und rechtsextrem eingestuft werden. Nachdem sich bei der Brandenburger Justiz seit Monaten mehr oder weniger folgenlos die Anzeigen gegen Hildmann angesammelt hätten, habe nun die Staatsanwaltschaft Berlin den Fall übernommen. Die Akten aus Brandenburg seien bereits in Berlin eingetroffen – angeblich 60 Bände sowie weitere 33 Fallakten.

6. Instagram-Account von Papst Franziskus liked Bild von Nacktmodel
(futurezone.at)
Es steht noch nicht fest, ob Papst Franziskus höchstpersönlich auf Instagram ein Foto des brasilianischen Models Natalia Garibotto geliket hat. Was jedoch feststeht: Dass sein Instagram-Account das (mittlerweile zurückgezogene) Like für ein Bild des Nacktmodels gesetzt hat. Der Vatikan habe eine Untersuchung eingeleitet und wolle herausfinden, wie es dazu kam.

“Bild live”: Vier Stunden Falsches zum Terroranschlag in Wien

In der Nacht von Montag auf Dienstag sendete “Bild” eine mehr als vierstündige “Bild live”-Sondersendung zum Terroranschlag in der Wiener Innenstadt. Wie schon in den “Bild TV”-Sendungen zu den Anschlägen in Halle und in Hanau zeigte sich auch dieses Mal das grundlegende Problem: Wenn eine Redaktion, die seit Jahren und Jahrzehnten vor allem dadurch auffällt, dass sie schlecht Recherchiertes und Falsches in Umlauf bringt, sich in eine Live-Situation begibt, in der sie unbedingt etwas zeigen und erzählen muss, kann dabei nur eine mittlere Katastrophe rauskommen. Dann werden falsche Gerüchte weiterverbreitet, es wird der Polizeieinsatz gefährdet und Angst gemacht.

Ein paar Beobachtungen von uns.

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Es dauert nicht mal eine halbe Stunde, da verbreitet “Bild” schon das erste falsche Gerücht. Moderatorin Nele Würzbach sagt:

Jetzt in diesem Moment erreichen uns auch Nachrichten, dass es an einem dritten Ort in Wien zu einer Geiselnahme gekommen sein soll. Wie passt das jetzt in diesen Amoklauf oder diesen Terrorangriff herein? Erst die Schüsse, jetzt also auch eine Geiselnahme.

Der zugeschaltete Terror-Experte Nicolas Stockhammer antwortet:

Es ist mit sehr, sehr großer Wahrscheinlichkeit in einen Zusammenhang zu setzen. Diese Geiselnahme soll sich (…) in einem Schnellrestaurant soll es zu dieser Geiselnahme gekommen sein. Also aus meiner Sicht gibt es einen unmittelbaren Konnex.

Eine Geiselnahme in einem Schnellrestaurant hat es nicht gegeben.

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Der immer noch zugeschaltete Terror-Experte Stockhammer erzählt:

Aktuell habe ich gerade gehört, dass in der U-Bahnlinie U3 es zu einer Schießerei gekommen sein soll. Und sich das Geschehen da ins U-Bahnnetz verlagert haben soll.

Eine solche Schießerei im U-Bahnnetz hat es nicht gegeben.

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Die Redaktion spielt in Dauerschleife verschiedene Videos aus Wien ein. Sie alle scheinen mit Smartphones aufgenommen worden zu sein und aus den Sozialen Netzwerken zu stammen. Eines zeigt eine Szene vor einem Restaurant: Eine Person liegt in einer Blutlache. Anfangs ist diese Stelle noch verpixelt, später nimmt die “Bild”-Redaktion diese Verpixelung raus.

Screenshot der Bild-live-Sendung
(Unkenntlichmachung durch uns.)

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“Bild”-Vizechefredakteur Paul Ronzheimer, der fast die gesamte Sendung über im “Bild”-Studio steht, sagt:

Also wir müssen noch mal zusammenfassen: Es gab also einen Terroranschlag in der Nähe der Synagoge. Wir wissen immer noch nicht, wie viele Menschen getötet oder verletz worden sind. Gleichzeitig gibt es eine Geiselnahme in einem Hotel.

Die Geiselnahme nun also ganz ohne “soll” und inzwischen “in einem Hotel” statt in einem Schnellrestaurant. Ob Ronzheimer dieselbe Geiselnahme meint wie vorhin seine Kollegin Nele Würzbach, ist nicht klar. So oder so: Die Geiselnahme hat es nicht gegeben.

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Wieder ist Terrorexperte Stockhammer dran. Er sagt:

Es gab zwischenzeitlich Schüsse im Stadtpark. (…) Und man spricht auch davon, dass sich einer der Täter selbst in die Luft gesprengt haben soll.

Weder das eine noch das andere stimmt.

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Nun ist “Bild”-Reporterin Dora Varro zugeschaltet, die vor dem Anschlag zufällig in der Wiener Innenstadt unterwegs war. Sie stellt noch mal alles Falsche als gesicherte Fakten dar:

Es ist klar, dass es eine Geiselnahme gab. Es ist klar, dass es Schüsse beziehungsweise eine Gewalttat in einer U-Bahn gekommen ist. Und mehr wissen wir ehrlicher Weise noch nicht. Also noch nicht, was ich dir als Fakten nennen kann. Das sind die Sachen, die wir ganz genau wissen.

Nichts davon stimmt.

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Obwohl die Wiener Polizei bei Twitter eindringlich darum bittet, keine Videoaufnahmen zu verbreiten, weil dies “sowohl Einsatzkräfte als auch [die] Zivilbevölkerung” gefährde, verbreitet die “Bild”-Redaktion Videoaufnahmen – von Menschen, die in Panik wegrennen, vom Täter, der in einer Gasse um sich schießt, von einem Polizisten, der angeschossen wird, und auch von weiteren Polizisten im Einsatz: wie sie über einen Kreisverkehr rennen, wie sie ein Lokal durchsuchen, wie sie die Innenstadt absichern.

Screenshot eines Tweets der Wiener Polizei - Nochmal: Keine Videos und Fotos in sozialen Medien posten, dies gefährdet sowohl Einsatzkräfte als auch Zivilbevölkerung

Auf der Bild.de-Startseite heißt es kurze Zeit später:

Screenshot Bild.de - Schüsse, Blut, Menschen rennen um ihr Leben - Erste Videos aus der Terror-Nacht von Wien!
(Unkenntlichmachung durch uns.)

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Moderatorin Würzbach zitiert aus österreichischen Medien:

Und, ganz wichtig: Sie sagen, dass ein Polizist angeschossen worden ist, und er soll seinen Verletzungen erlegen worden sein. Außerdem berichtet die Krone-Zeitung davon, dass sich einer der Täter selbst in die Luft gesprengt hat. Dies alles aber Medienberichte, noch nichts davon ist bestätigt.

Es ist kein Polizist beim Einsatz in Wien gestorben. Und es hat sich auch niemand selbst in die Luft gesprengt.

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“Bild”-Vize Ronzheimer verbreitet die nicht-existente Geiselnahme noch mal als gesichertes Wissen:

Neben dem Tatort im ersten Bezirk in Wien, in der Nähe der Synagoge, gibt es eine Geiselnahme, die sich in der Nähe im Hilton-Hotel abspielen soll. Das ist das, was wir wissen.

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Moderatorin Nele Würzbach sagt:

Österreichischen Medienberichten zufolge soll sich ein Täter in die Luft gesprengt haben, ein Täter soll bereits festgenommen worden sein.

Es wurde kein Täter festgenommen.

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Inzwischen ist Terror-Experte Peter Neumann zugeschaltet. Moderatorin Würzbach fragt ihn:

Manche Medienberichte aus Österreich sprechen von bis zu zehn Tätern. Ist das, kann man das als normal überhaupt bezeichnen in so einer Situation, aber zehn Täter, für was spricht das?

Es gab nicht zehn Täter, sondern einen.

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Terror-Experte Neumann spekuliert ein bisschen über Tote:

Ich gehe eher davon aus, dass wahrscheinlich eher so zehn Tote, ein Dutzend Tote mindestens zu beklagen sein werden.

Es wurden vier Menschen vom Attentäter getötet, und dazu der Attentäter durch die Polizei.

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Die “Bild”-Redaktion spielt ein Video ein, auf dem mehrere Menschen vor Polizisten auf Motorrädern weglaufen und die Polizisten auch teilweise angreifen:

Screenshot Bild live

Dieses Video stammt nicht aus Wien, sondern aus Barcelona.

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Noch einmal Neumann:

Ich glaube, dass dieser Anschlag von längerer Hand vorbereitet war. Das geht nicht so einfach, dass man innerhalb von wenigen Tagen so eine koordinierte Kampagne auf die Beine stellt.

Es handelte sich nur um einen Täter, es gab also keine “koordinierte Kampagne”.

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Für Moderatorin Würzbach sieht es offenbar so aus, als würde sich der Terror eine Schneise durch Europa schlagen, vom Süden Richtung Norden, mit dem Ziel Deutschland:

Herr Neumann, wenn Sie jetzt sagen: Jetzt kommt die Welle, wie groß muss die Sorge jetzt auch hier in Deutschland sein, dass hier eines der nächsten Ziele dann ist? Wir haben es jetzt in Nizza, in Wien, diese Anschläge kommen immer näher.

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Für Zwischentöne ist bei Bild.de kein Platz. Terror-Experte Peter Neumann sagt bei “Bild live”:

Sollte es sich allerdings als richtig herausstellen, muss man sagen: Das wäre eine absolut unglaubliche Situation, dass es sechs Tatorte gleichzeitig gibt in der Wiener Innenstadt, dass Täter mit Langwaffen herumlaufen. Das wäre wahrscheinlich die größte und koordinierteste terroristische Attacke seit Brüssel und Paris 2015/16. Aber, wie gesagt: großes Aber.

“Sollte”, Konjunktiv, Kojunktiv, “großes Aber”. Im Bild.de-Liveticker wird daraus:

Screenshot Bild.de - Terrorexperte Neumann: Größte Attacke seit Brüssel und Paris 2015/2016 - Terrorexperte Peter Neumann sprach bei Bild live von der größten Attacke seit Brüssel und Paris 2015/2016.

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Nun ist Reporterin Antonia Rados per Telefon zugeschaltet. Auch sie befindet sich in Wien. Und sagt:

Was wir gesehen haben, das ist ja ein ähnliches Szenario, was wir hier in Wien zumindest bisher sehen können, wie der Anschlag auf “Charlie Hebdo”. Wenn Sie sich daran erinnern: Da war auch ein Kommando, das eben losgestürmt ist und dann geschossen hat und versucht hat, dann zu entkommen. Und dass es damals auch eine Geiselnahme ja auch gegeben hat. Gleichzeitig auch immer wieder mehrere parallele Terroranschläge. Sowas ähnliches als Muster scheint es hier heute Abend in der österreichischen Hauptstadt abzulaufen.

In Wien gab es kein “Kommando”. Es gab keine Terroristen, die geflüchtet sind. Es gab keine Geiselnahme. Und es gab auch keine “parallelen Terroranschläge”.

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Gerade mal acht Minuten, nachdem sie all diese unverifizierten Gerüchte verbreitet hat, sagt Antonia Rados:

Wir müssen da im Moment extrem aufpassen, weil natürlich in diesen angespannten Situationen sich alle möglichen Gerüchte verbreiten. Also alles muss auch vorsichtig berichtet werden und dann auch verifiziert werden.

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Immer wieder ist an diesem Abend ein Video zu sehen, auf dem der Attentäter auf einen Passanten schießt. Zuerst in einer Version, in der das Opfer komplett verpixelt ist. Später ist die Unkenntlichmachung verschwunden. Erst in dem Moment, in dem geschossen wird, erscheint eine digitale dunkle Fläche über dem Mann, wodurch man ihn nicht mehr sehen kann. Wiederum etwas später sendet die “Bild”-Redaktion weitere Aufnahmen, in denen sich Polizisten um den am Boden liegenden Mann kümmern. Dort ist er nicht mehr verpixelt, es gibt auch keine dunkle Fläche, die ihn vor den Blicken der “Bild live”-Zuschauer schützt.

Screenshot Bild live
(Unkenntlichmachung durch uns.)

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“Bild”-Chefreporter Frank Schneider beschreibt diese Videoaufnahmen. Aus dem Vorgehen des Täters schließt er:

Was wiederum doch ein Stück weit zeigt, dass es dort offenbar eine Ausbildung gegeben hat, denn das ist das typische vorgehen, was Dschihadisten in ihrer Ausbildung in arabischen Ländern bekommen.

Der Täter soll zwar den Plan gehabt haben, sich dem sogenannten “Islamischen Staat” in Syrien anzuschließen. Er ist allerdings in der Türkei daran gehindert und wieder nach Österreich geschickt worden. Eine “Ausbildung in arabischen Ländern” hat er nicht bekommen.

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Jetzt ist Hans Mahr im “Bild”-Studio angekommen. Mahr war früher unter anderem RTL-Chefredakteur und soll nun als Berater für “Bild TV” tätig sein. Er erzählt:

Eine Frau, die ich persönlich kenne, hat mir berichtet: Sie war in einem Lokal (…), da wurden die Leute alle in den ersten Stock raufbefördert und dort evakuiert. Von dort haben sie zuschauen können, wie vier der Terroristen, wir haben vorher den Film gesehen, vier der Terroristen entwaffnet wurden und festgenommen wurde.

Die Personen, die auf einem Video zu sehen sind, das auch “Bild live” zeigt, sind nicht “vier der Terroristen” – es gab nur einen, und der wurde zuvor von der Polizei erschossen. Sie dürften auch mit den Anschlag nichts zu tun haben und dementsprechend nicht “entwaffnet” worden sein. Jedenfalls werden sie später bei Pressekonferenzen der österreichischen Regierung nicht weiter erwähnt.

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Antonia Rados ist wieder zugeschaltet. Sie verbreitet das nächste falsche Gerücht:

[Die Polizisten] sagten, ich müsste sofort hier weg. Das war in der Nähe vom Stadtpark übrigens, wo sich angeblich, das ist jedenfalls eine der Informationen, die wir haben, wo sich angeblich eine Gruppe von Terroristen verstecken soll.

Diese “Gruppe von Terroristen” gab es nicht.

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Moderatorin Nele Würzbach nimmt sich noch einmal die vermeintliche Festnahme von vier vermeintlichen Tätern vor:

Aber auch eine Festnahme. Herr Mahr, Sie hatten davon auch berichtet, dass Augenzeugen das dann gesehen haben. Vier Männer sieht man da, die dann oberkörperfrei festgenommen worden sind. Das alles spricht also dafür, dass es tatsächlich mehr als eine Handvoll von Tätern insgesamt dann gab. Wir sehen hier also dieses Video einer Verhaftung, konnten auch mit einer Augenzeugin sprechen, die das Ganze gesehen hat. Hier, vier Männer, einer der Angreifer soll tot sein, mindestens einer noch immer auf freiem Fuß. Vielleicht sogar zwei. Das heißt, wir sprechen von sechs, sieben Tätern mindestens, die jetzt hier in Wien also diesen Terrorangriff vollzogen haben.

Es gab nur einen Täter.

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Ex-RTL-Mann Hans Mahr hat “nicht nur Gerüchte” im Angebot, “sondern fast schon Mitteilungen”:

Es gibt in der Zwischenzeit, wir haben hier gerade neue Meldungen bekommen. Nicht nur Gerüchte, sondern fast schon Mitteilungen, dass es bis zu sieben Tote sein könnten, die dieses Attentat gefordert haben kann.

Es waren nicht sieben Tote.

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Und noch einmal Hans Mahr:

Man darf auch nicht vergessen: Das Erstaunliche bei diesem Attentat war, dass es so viele Täter, so viele, die miteinander verbunden waren, hier in Aktion getreten sind. Bei all den anderen Anschlägen waren es ein, zwei, drei Täter. Diesmal sprechen wir von minimum sechs Tätern, manche Berichte sogar von zehn.

Auch das: komplett falsch.

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Natürlich könnte man jetzt sagen: Ja, gut, hinterher ist man immer schlauer. Und exakt das ist der Punkt: Weil man vorher meist ziemlich ahnungslos und damit ziemlich anfällig für falsche Gerüchte ist, sind “Bild live”-Sondersendungen zu “Breaking News” so gefährlich.

Mit Dank an die vielen Hinweisgeber!

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“Bild” übernimmt die PR-Arbeit des Wiener Attentäters

Nach dem rechtsterroristischen Anschlag auf zwei Moscheen in Christchurch sagte Neuseelands Premierministerin Jacinda Ardern über den Attentäter:

Speak the names of those who were lost rather than the man who took them. He may seek notoriety, but we in New Zealand will give him nothing, not even his name.

Arderns Idee, dem Täter nicht zu der von ihm gewünschten Bekanntheit zu verhelfen und ihm nicht mal den Gefallen zu tun, seinen Namen zu nennen, passt gut zu den Erkenntnissen vieler Wissenschaftlerinnen und Experten. Diese warnen seit Jahren vor einer ausführlichen, mitunter sogar heroisierenden Berichterstattung, die den Attentäter in den Mittelpunkt stellt. Im schlimmsten Fall könnte daraus eine Inspiration und ein Ansporn für Nachahmer entstehen. Jennifer Johnston und Andrew Joy von der Western New Mexiko University schreiben beispielsweise in einer Studie:

Die Identifikation mit früheren Tätern, die durch die extensive Berichterstattung berühmt geworden sind, einschließlich der Veröffentlichung ihrer Namen, Gesichter, Lebensgeschichten und Hintergründe, löst einen mächtigeren Schub in Richtung Gewalt aus als psychische Erkrankungen oder der Zugang zu Waffen.

Die daraus abzuleitende Empfehlung für alle Medien: Diese “Identifikation mit früheren Tätern” gar nicht erst möglich machen.

Die “Bild”-Redaktion verfolgt einen anderen Ansatz: Sie baut Attentätern regelmäßig Denkmäler. So auch jetzt, nach dem islamistischen Terroranschlag in Wien am Montagabend, bei dem vier Menschen getötet und 23 weitere verletzt wurden. Etwas kleiner auf der Titelseite und groß im Blatt zeigt die “Bild”-Zeitung heute ein unverpixeltes Foto des Täters:

Ausriss Bild-Titelseite - Das Böse und die Helden von Wien ... und ein Licht für die Opfer - dazu zu sehen ein Foto des Attentäters ohne Unkenntlichmachung
Ausriss Bild-Zeitung - Er trickste die Sicherheitsbehörden aus - Das ist der ISIS-Killer von Wien
(Alle Unkenntlichmachungen in diesem Beitrag durch uns.)

Auf dem Foto posiert der Mann mit den Waffen, mit denen er später in Wien seine Opfer tötete. Es soll aus einem Video stammen, das der sogenannte “Islamische Staat” nach der Tat veröffentlicht hat. “Bild” nutzt dieses Propagandamaterial ungefiltert für die eigene Berichterstattung und zeigt den Mann so, wie er sich selbst und wie die Terrororganisation ihn zeigen wollte. Auch auf der Bild.de-Startseite war das Foto an prominenter Stelle zu sehen:

Screenshot Bild.de - Er trickste die Sicherheitsbehörden aus - Das ist der ISIS-Killer von Wien

“Bild” macht sich zum Handlager der Terroristen. Die Redaktion nennt zusätzlich auch den kompletten Vor- und Nachnamen des Täters. Und sendet mit diesem PR-Gesamtpaket allen potentiellen Nachahmern die Botschaft: Solltet ihr einen Anschlag verüben, sorgen wir auf unseren Titel- und Startseiten dafür, dass ihr berühmt werdet.

Dazu auch:

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Kurz-Bilder, Bolsonaro-System, Sobessernicht-Interview mit Meuthen

1. Warum Sebastian Kurz beim EU-Gipfel auf den Fotos in Österreichs Medien so gut aussieht
(moment.at, Tom Schaffer)
Wenn der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz auf Fotos eine gute Figur abgibt, liege dies oft an seinem Mitarbeiter, dem Fotografen Arno Melicharek, der seinen Chef und Auftraggeber geschickt in Szene setze. Und daran, dass Agenturen und Redaktionen die Bilder des Kanzleramts-Fotografen nur allzu gern übernähmen, weil es Geld und Aufwand spare: “Wohlgemerkt ist all das kein Fehler von Melicharek, sondern einer von weiten Teilen der österreichischen Medienlandschaft. Die hat nicht nur keine journalistischen FotografInnen mitgeschickt, keine vor Ort beauftragt und viel zu oft auch keine anderen Bilder von anderen Agenturen übernommen, sondern uns dann auch noch (einmal mehr) PR-Fotos als unabhängige Berichterstattung verkauft.”

2. “Bild”, “Welt” und “FAZ” brechen ein, “Zeit” mit Rekord
(dwdl.de, Uwe Mantel)
Die Print-Auflagenentwicklung im zweiten Quartal dieses Jahres verlief einmal mehr unerfreulich für viele Verlage: Zum generellen Abwärtstrend sei bei manchen Titeln der coronabedingte Wegfall der “Bordexemplare” hinzugekommen, die kostenfrei auf Flügen verteilt werden. Beim “Focus” seien allein durch den “Bordexemplar”-Effekt über 65.000 Exemplare, nun ja, abhanden gekommen, was das gewaltige Auflagen-Minus von 30,5 Prozent zumindest teilweise erkläre. Auch die Auflagen von “Bild”, “Welt” und “FAZ” seien eingebrochen, während die “Zeit” einen neuen Allzeit-Rekord aufgestellt habe.

3. Mehr als aus der Zeit gefallen
(deutschlandfunkkultur.de, Timo Grampes, Audio: 6:51 Minuten)
Bei Deutschlandfunk Kultur geht es um den ersten Kinofilm des Komikers Otto Waalkes aus dem Jahr 1985. “Otto – Der Film” wirke “mehr als aus der Zeit gefallen” und enthalte Szenen, die von vielen als rassistisch empfunden würden. Der Politikwissenschaftler und Menschenrechtsaktivist Joshua Kwesi Aikins erklärt, warum das so sei: “Rassismus soll und muss thematisiert werden. Er darf gerne auch persifliert werden, denn er ist ja nicht nur tödlich und gewaltvoll, sondern auch extrem lächerlich.” Dies müsse jedoch passieren, ohne den Rassismus “einfach nur plump zu wiederholen”.

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4. Prozessauftakt gegen Stephan B. – Die Verantwortung der Medien
(mdr.de, Roland Jäger)
Gestern hat der Prozess gegen Stephan B. begonnen, der am ersten Prozesstag unter anderem den Anschlag auf eine Synagoge in Halle gestanden hat. Während andere Angeklagte die öffentliche Aufmerksamkeit eher scheuen, wolle der von rechtsextremen Gedanken getriebene B. mit vollem Namen genannt werden und dürfe gern unverpixelt gezeigt werden. Auf diese Selbstinszenierung und politische Vermarktung der Tat sollten sich die Medien nicht einlassen, findet Roland Jäger vom MDR: “Weil er diese Theorien und Einstellungen nach wie vor versucht weiterzutragen, dauert das Attentat an. Es liegt in der Verantwortung von uns Prozessberichterstattern, den Opfern und Betroffenen gerecht zu werden – und die Ansichten des Angeklagten nicht weiterzuverbreiten. Nur so kann das Attentat wirklich enden.”

5. RSF-Quartalsbericht: Hetze und Desinformation
(reporter-ohne-grenzen.de)
Dass Brasilien in der Rangliste der Pressefreiheit lediglich auf Platz 107 von 180 Staaten steht, hat laut Reporter ohne Grenzen mit dem sogenannten Bolsonaro-System zu tun: “Während Brasilien so schwer von der Corona-Krise getroffen ist wie kaum ein anderes Land der Welt, sehen sich Journalistinnen und Journalisten mit einer beispiellosen Welle des Hasses konfrontiert. Anfang des Jahres hetzte vor allem Präsident Jair Bolsonaro selbst gegen Medienschaffende, in den vergangenen drei Monaten taten sich vor allem seine Familie, seine engsten Regierungsmitglieder und seine treue Online-Anhängerschaft hervor.”

6. Sommerinterview mit Jörg Meuthen: So besser nicht
(ndr.de, Sebastian Friedrich)
“Das Sommerinterview mit Jörg Meuthen ist ein Lehrstück, wie man besser nicht mit einem AfD-Politiker spricht”, so Sebastian Friedrichs Urteil über das 25-minütige Gespräch der ARD mit dem Bundessprecher der AfD. Der Interviewer habe es Meuthen zu leicht gemacht, zu wenig nachgefasst und ihm altbekannte Zitate von Parteikollegen vorgelegt, die ihn zu wenig herausgefordert hätten.

Julian Reichelt in der Champions League der Heuchler

Eine der großen Stärken von “Bild”-Chef Julian Reichelt war schon immer seine Doppelmoral. Er, der schlimmste Schläger auf dem Schulhof, zeigt sich regelmäßig völlig überrascht/entsetzt/angeekelt, sobald eine Keilerei mal ihn oder “Bild” betrifft. Die Maßstäbe, die Reichelt bei anderen anlegt, müssen ja keineswegs für ihn oder seine Redaktion gelten. Und damit herzlich willkommen zu Folge 3471 der Serie “Julian gefällt sich in der Opferrolle”.

Gestern, nach dem Bundesligaspiel zwischen der TSG Hoffenheim und Union Berlin, twitterte Holger Kliem, der in Hoffenheim für die Medien- und Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist, folgendes (von ihm unkenntlich gemachtes) Foto:

Screenshot eines Tweets von Holger Kliem - Hier schwänzt Bild die Maskenpflicht! Auf allen Bundesliga-Pressetribünen herrscht weiterhin Maskenpflicht nur Bild macht es anders, trotz mehrmaligen Hinweises! - Dazu sieht man ein Foto eines Bild-Reporters, der seinen Mund-Nase-Schutz nicht über Mund und Nase trägt und dabei telefoniert.

Julian Reichelt fand es selbstverständlich gar nicht in Ordnung, dass Kliem öffentlich machte, dass ein “Bild”-Reporter “trotz mehrmaligen Hinweises” seinen Mund-Nase-Schutz lieber als Kinnschutz verwendete. Der “Bild”-Chef kommentierte bei Twitter:

Screenshot eines Tweets von Julian Reichelt - Gleich zwei deutsche Volkssportarten in einem Stadion: Fußball und Denunziation.

Nun wäre dieser Reichelt-Tweet lediglich eine weitere Folge in der oben erwähnten Serie. Hätte der, der hier laut “Da ist eine Petze!” ruft, nicht mit seinem Team nur wenige Stunden zuvor selbst und verblüffend ähnlich gepetzt:

Screenshot Bild.de - In Berlin-Tegel - Hier sitzt Kretschmann ohne Mundschutz im Flughafen

In dem Bild.de-Artikel geht es um ein Foto, auf dem Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann zu sehen ist, wie er am Flughafen ein paar Süßigkeiten isst und dabei — wenig überraschend — keinen Mund-Nase-Schutz trägt. Laut einer Augenzeugin habe Kretschmann auch später keine Maske getragen. Ein Sprecher Kretschmanns sagt hingegen, dass die Maske nur für “ganz kurze Zeit” nicht aufgesetzt gewesen sei.

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Die Kombination aus Kretschmann-Artikel und Reichelt-Tweet lässt letztlich nur einen logischen Schluss zu: Julian Reichelt und seine “Bild”-Redaktion sind aus Sicht von Julian Reichelt Denunzianten.

Mit Dank an @the_real_urbsi und die vielen Hinweisgeber!

Corona-Tote-Gedenken, Journalist als Störer, Bloße Kritik kein “Shitstorm”

1. Auferstanden aus der Anonymität
(sueddeutsche.de, Willi Winkler)
In den USA gibt es mittlerweile annähernd 100.000 Opfer der Corona-Pandemie. Die “New York Times” veröffentlichte auf der Frontseite ihrer Wochenendausgabe die Namen von Hunderten von Toten, um sie aus der Anonymität herauszuholen. Eine puristisch gehaltene Namensübersicht ohne Fotos und Grafiken, jedoch ergänzt um teilweise berührende Anmerkungen.
Weitere Lesehinweise: Der Zeitstrahl samt Gedenken an die Corona-Toten als schier endloser Digitalfriedhof zum Scrollen: An Incalculable Loss (nytimes.com). Und der Hintergrundbericht: The Project Behind a Front Page Full of Names (nytimes.com).
In diesem Zusammenhang ebenfalls lesenswert: Wo bleibt die Titelseite für Internet-Seiten? (dirkvongehlen.de).

2. Kritik an rassistischer Werbung ist kein “Shitstorm”
(uebermedien.de, Said Rezek)
Volkswagen veröffentlichte jüngst einen Werbeclip, der wegen seiner rassistischen Begleitbotschaft heftige Kritik nach sich zog. Nach anfänglichem Herumlavieren und Abstreiten bat der Konzern um Entschuldigung und löschte das Video. Handelte es sich bei den Reaktionen in den Sozialen Medien um einen “Shitstorm”? Keineswegs, findet der Politikwissenschaftler und freie Journalist Said Rezek: “Wir haben es mit einer klassischen Täter-Opfer-Umkehr zu tun, die gerade bei rassistischen und sexistischen Übergriffen weit verbreitet ist. Denn wer die vielen Twitter-, Facebook- und Instagram-Nutzer:innen in der Causa VW eines Shitstorms beschuldigt, macht sie kollektiv zum Täter und VW zum Opfer.”

3. “Wer an Verschwörungen glaubt, ist nicht verloren”
(zeit.de, Eike Kühl)
“Zeit Online” hat sich mit dem Autor, Journalisten und Aktivisten Cory Doctorow über Verschwörungserzählungen in Corona-Zeiten unterhalten. Wie entstehen derartige Mythen, wie werden sie befördert, und wie kann man ihnen begegnen? Doctorows hoffnungsvolle Sicht: “Ich finde, wer an Verschwörungen glaubt, ist nicht per se verloren. Viele sind bloß im letzten Moment der Wahrheitssuche falsch abgebogen. Und leider können sie sich heutzutage nicht immer auf die Institutionen verlassen, die ihnen dabei helfen sollen, zwischen guter und schlechter Recherche zu unterscheiden.”
Weiterer Lesehinweis: Verschwörungstheorien in sozialen Medien: Die Pandemie der Unwahrheiten (taz.de, Carolina Schwarz).

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4. Alles lässt sich immer so oder so (oder sogar so!) sehen
(spiegel.de, Arno Frank)
Aron Frank hat sich die Meinungs-App “The Buzzard” (“Der tägliche Perspektivwechsel im Mediendschungel”) angeschaut: “The Buzzard setzt ganz auf die Kraft des Arguments und voraus, dass weltanschauliche Vorprägungen sich damit mühelos aushebeln lassen. Könnten wir nur lesen, was die jeweils ‘andere Seite’ liest, würde gegenseitiges Verständnis sich schon von selbst einstellen. Der Wunsch ist fromm, zeugt aber auch von einer Selbstüberschätzung. Und einem entleerten Begriff von Journalismus.”

5. Datteln IV und der Journalist als Störer
(verdi.de, Helma Nehrlich)
Der freie Fotograf Björn Kietzmann habe eine Protestaktion gegen das Kraftwerk Datteln IV dokumentiert und dafür einen Strafbefehl von 900 Euro wegen Hausfriedensbruchs erhalten. Außerdem sei er vom Polizeipräsidium Recklinghausen mit einem Betretungs- und Aufenthaltsverbot für das Kraftwerksgelände belegt worden. Dagegen wolle er sich nun auf juristischem Wege wehren.

6. Der Begriff “Journalist” ist nicht mehr zu gebrauchen
(dwdl.de, Hans Hoff)
Der Begriff “Journalist” ist keine geschützte Berufsbezeichnung und werde oft von Menschen für sich in Anspruch genommen, die nichts mit Journalismus am Hut haben. Es mangele an Trennschärfe, so Hans Hoff in seinem Rant bei “DWDL”: “Es gibt Mistschleudern wie ‘Der Westen’, Dumpfportale wie ‘Express’, Hetzblätter wie ‘Bild’ und Lügenorgane wie ‘Die Aktuelle’. Überall dort arbeiten Menschen, die sich als Journalisten bezeichnen. Sie zeichnen sich mehrheitlich dadurch aus, dass ihnen komplett egal ist, was sie transportieren, so lange sie mit ihrem Output genügend Deppen einfangen und am Ende die Zahlen stimmen. Sie optimieren ihre Produkte der Form nach und scheren sich einen Dreck um Inhalte.”

Bei Mordverdacht macht “Bild” einen Deutschen wieder zum Flüchtling

Wann ist man eigentlich Deutscher? Also so richtig deutsch, akzeptiert sogar von der “Bild”-Redaktion? Braucht man dafür einen deutschen Namen, deutsche Vorfahren, ein irgendwie geartetes deutsches Aussehen? Muss man in Deutschland geboren sein? Oder reicht die deutsche Staatsbürgerschaft?

In Leipzig soll ein Mann seine Ex-Freundin getötet haben. Der 30-Jährige ist Deutscher mit deutschem Pass und lebt seit knapp 25 Jahren in Deutschland. Als 6-Jähriger flüchteten er und seine Familie aus Afghanistan, was bei dieser Geschichte eigentlich keine Rolle spielen sollte. “Bild” und Bild.de sehen das offenbar anders. Denn wenn man möglicherweise zum Straftäter geworden ist, dann kann man noch so lange schon in Deutschland leben und einen noch so deutschen Pass haben. Dann ist man direkt: einstiger “Vorzeigeflüchtling”, wie die “Bild”-Redaktion in einem Facebook-Teaser schreibt.

Mehrere Tage berichteten die “Bild”-Medien in der vergangenen Woche über den Fall. In ihrer Leipzig-Ausgabe titelte die “Bild”-Zeitung am Mittwoch:

Ausriss Bild-Zeitung - Myriams Killer war mal ein Musterbeispiel gelungener Integration

Man kann nur mutmaßen, was der Leserschaft eine solche Überschrift sagen soll — hängen bleibt aber irgendein Zusammenhang zwischen Migration und Gewaltverbrechen. Und dann noch nicht mal von irgendeinem sowieso schon kriminellen Dahergelaufenen verübt, sondern von einem “Musterbeispiel gelungener Integration”. Wenn jetzt die sogar schon …

Die Onlineversion des Artikels wurde über 4000 Mal bei Facebook geteilt, von AfD-Politikern und -Ortsverbänden, von der NPD, von “Pegida”, von Facebookgruppen mit Namen wie “Büdingen wehrt sich — Asylflut stoppen”, “Klartext für Deutschland — FREI statt bunt” und “Aufbruch deutscher Patrioten”. Sie alle stürzen sich auf die Bezeichnungen “Vorzeigeflüchtling” und “Musterbeispiel gelungener Integration”. Die “Bild”-Redaktion weiß sehr genau, für wen sie schreibt.

Den viel passenderen größeren Zusammenhang lässt sie hingegen außen vor: Gewalt gegen Frauen. Der Tod der Frau in Leipzig reiht sich ein in die zahlreichen Frauenmorde, die hierzulande und überall auf der Welt eine traurige Alltäglichkeit haben. Wegen Fällen wie diesem gab es in letzter Zeit Debatten zu verharmlosenden Bezeichnungen in Medien wie “Beziehungsdrama”: Gewalttaten in Beziehungen sollen nicht mehr als einzelne “Tragödien” beschrieben werden, sondern als strukturelles Problem. Die dpa kündigte beispielsweise an, künftig auf Begriffe wie “Familientragödie” verzichten zu wollen.

Anders Bild.de. Als die genauen Hintergründe der Tat in Leipzig noch nicht bekannt waren, titelte die Redaktion:

War der Mordversuch eine Beziehungstat?

Kolumnistin Katja Thorwarth schrieb vergangenes Jahr in der “Frankfurter Rundschau” darüber, “warum Mord keine ‘Beziehungstat’ ist”. Solche Überlegungen scheinen an “Bild” spurlos vorbeizugehen.

Das gilt auch für Überlegungen zu Persönlichkeitsrechten: Regelmäßig veröffentlichen die “Bild”-Medien unverpixelte Fotos von Tatopfern und von bisher nicht verurteilten Tatverdächtigen. Die Unschuldsvermutung ist der Redaktion eher lästig. Und so lässt “Bild” auch diese Gelegenheit nicht aus und zeigt sowohl ein Foto der Getöteten als auch eines des mutmaßlichen Täters ohne jegliche Unkenntlichmachung.

Das Foto der Getöteten hat “Bild” vom Facebook-Account der Frau:

Screenshot Bild.de - Foto: Facebook

Dabei hatte der Deutsche Presserat schon vergangenen Dezember festgestellt:

Facebookeintrag kein Freibrief für Verwendung von Opferfotos

Konkret ging es damals um einen Fall, bei dem Bild.de ein Foto einer getöteten Frau von Facebook gezogen und veröffentlicht hatte — für den Presserat ein Verstoß gegen den Opferschutz. Der Ehemann des Opfers sei in den Sozialen Netzwerken zwar offen mit dem Tod seiner Frau umgegangen, so das Gremium, trotzdem hätte die “Bild”-Redaktion eine Erlaubnis zur Veröffentlichung der Bilder einholen müssen:

Die Veröffentlichung von Fotos und Angaben zu Opfern durch die Angehörigen in sozialen Netzwerken ist nicht gleichzusetzen mit einer Zustimmung zu einer identifizierenden Darstellung in den Medien.

Gab es für die “Bild”-Berichterstattung aus Leipzig so eine Zustimmung? “Bild”-Sprecher Christian Senft wollte sich dazu nicht äußern: Man kommentiere, “wie üblich”, keine redaktionellen Entscheidungen. Nach unserer Anfrage hat die Redaktion die Fotos des Opfers bei Bild.de verpixelt.

Mit Dank an Maria T. und anonym für die Hinweise!

Nachtrag, 23:24 Uhr: Mit dem Herauskramen der Bezeichnung “Vorzeigeflüchtling” ist die “Bild”-Redaktion nicht allein. Auch Sächsische.de bezeichnet den Tatverdächtigen in einem später erschienenen Artikel so.

Mit Dank an @doestrei für den Hinweis!

Nachtrag, 21. April: Auch die “Leipziger Volkszeitung” berichtet von dem Fall und schreibt über den Tatverdächtigen, er sei ein “Musterbeispiel gelungener Integration” gewesen.

“Tag24” bekommt es hin, den Mord an der Frau sprachlich auf ganz besondere Weise zu verharmlosen: Die Redaktion schreibt vom “dramatischen Höhepunkt einer toxischen Liebe im Sozialarbeiter-Milieu”.

Mit Dank an @RASSISMUSTOETET für den Hinweis!

Für Sie geklickt (Corona-Ausgabe) (5)

Der (vorerst) letzte Teil unserer Corona-Clickbait-Spezial-Serie! Auch diesmal wieder “Für Sie geklickt”: “DerWesten”, DAS Portal der Funke-Mediengruppe.

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Eine Ikea-Filiale hängte vor dem Parkplatz ein Banner auf, auf dem stand: “Vom Supermarkt bis Krankenhaus. Was ihr gerade leistet, verdient Applaus.”

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… Präsident Trump in diesem Jahr an einer schweren Krankheit sterben und Präsident Putin einem Anschlag zum Opfer fallen wird. Denn sie ist “die wohl bekannteste Seherin ihres Heimatlandes Bulgarien”.

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Die ISS.

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Die Frau war Corona-Patientin. Die Unfallaufnahme musste in Schutzkleidung durchgeführt werden.

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In Großbritannien kann man nur noch bestimmte Mengen eines Produktes kaufen.

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Sie wollte in ihrer Wohnung Kita-Kinder betreuen. Aber solche Gruppenkontakte sollen ja vermieden werden.

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Sie verschenkt die gebuchten Hotelzimmer an Obdachlose.

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Sie hilft Betrieben beim Stellen eines Antrags auf Liquiditätshilfen: “Hier geht es um Kundengruppen, bei denen vor allem Zuschüsse wirksam sind und mit Krediten nur im Ausnahmefall geholfen werden kann.”

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Viel Sonne und viel Wind.

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“… Prioritäten setzen.”

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Ausgerechnet in Krisenzeiten nach dem Toilettengang improvisieren zu müssen, könnte bei vielen Menschen Ekel und damit Panik auslösen, mutmaßt eine Wirtschaftspsychologin.

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Die Rechte an der australischen A-League, in der zu dieser Zeit noch gespielt wurde.

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Der Kauf der Rechte an der australischen A-League, die kurz darauf ihren Spielbetrieb einstellte.

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Sie zeigten sich uneinsichtig und wurden in Gewahrsam genommen.

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“Als seine Mutter vom Einkaufen nach Hause kam, konnte er seinen Augen nicht trauen. Seine Mutter hatte nämlich mindestens neun prall gefüllte Einkaufstüten angeschleppt (…). Der Sohn aus München schoss daraufhin ein Foto von den Einkaufstüten und lud es in der App Jodel hoch. Dazu schrieb er: ‘Sag mal Mama, geht’s noch?!? Fremdschämen hoch 100’.”

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“Der Kunde reagierte heftig und trat dem 32-jährigen Angestellten zwischen die Beine!”

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“… so weitermachen, geht es uns wie Italien.”

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“Als er am Freitag aus dem Fenster schaute, sah er eine Gruppe von mehreren Personen im Garten an einer Bierbank stehen. Seine Beobachtung teilte der Anwohner auf der lokalen App ‘Jodel’, Kommentar: ‘Seid ihr eigentlich vollkommen bescheuert?'”

***

Nein.

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1. Den Tag strukturieren
2. Tagebuch führen
3. Kontakt mit anderen halten
4. Über Ängste sprechen
5. An die frische Luft gehen
6. Pläne schmieden für „danach“

Und an dieser Stelle noch sechs weitere Tipps von uns:

1. Nicht auf “DerWesten” klicken
2. Nicht auf “DerWesten” klicken
3. Nicht auf “DerWesten” klicken
4. Nicht auf “DerWesten” klicken
5. Nicht auf “DerWesten” klicken
6. Nicht auf “DerWesten” klicken

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Bitteschön. Keine Ursache.

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