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In nur vier Stunden vom Obdachlosen zum Perser

Helge Schneider hat für seine Zivilcourage mal ordentlich Prügel kassiert. Das hat er vergangenen Woche in einem Interview mit der “Süddeutschen Zeitung” (mit Bezahlschranke) erzählt:

Aber viele Künstler sind sehr verliebt in die Regel: Die Politik ist hilflos, wir müssen jetzt ran.

Wenn einem etwas direkt im Alltag begegnet, muss man schon ran. Das nennt man Zivilcourage, hab’ ich auch schon mal gemacht.

Was war passiert?

Das waren zwei Typen, die wollten einen Perser verkloppen. Da bin ich dazwischengegangen. Der konnte wegrennen. Dann hab’ ich das abgekriegt.

Wurden Sie verletzt?

Es hielt sich im Rahmen. Ich hatte den Kiefer angebrochen. […]

Schneider, Schlägerei, angebrochener Kiefer — klar, dass das auch andere Medien aufgreifen. Zum Beispiel “Spiegel Online”

… oder stern.de

… oder welt.de:

Und auch “Focus Online”. Doch dort klingt die Geschichte schon in der Überschrift etwas anders:

Und Helge Schneider erzählt auf einmal eine ganz neue Version des Vorfalls:

“Das waren zwei Typen, die wollten einen Penner verkloppen. Da bin ich dazwischengegangen”, erzählte der Komiker und Musiker der “Süddeutschen Zeitung” vom Samstag.

Bei morgenpost.de ist ebenfalls von einem “Penner” die Rede.

Der Protagonistenwechsel dürfte durch eine fehlerhafte dpa-Meldung entstanden sein. Die Nachrichtenagentur hatte am Samstagmittag den “Penner” ins Spiel gebracht und erst vier Stunden später eine Korrektur verschickt, mit dem Hinweis: “Berichtigung: Wort im zweiten Satz berichtigt”.

Das interessierte offenbar weder “Focus Online” noch morgenpost.de: Ihre falschen Artikel veröffentlichten beide Redaktionen erst, als die dpa-Korrektur schon Stunden raus war.

Dass ein Medium durchaus auf Agentur-Berichtigungen reagieren — und das auch noch der Leserschaft transparent präsentieren — kann, beweist diepresse.com:

Anmerkung der Redaktion: Quelle dieses Artikels ist die Nachrichtenagentur DPA. Diese hat in einer ersten Meldung von einem “Penner” geschrieben, später allerdings auf “Perser” korrigiert. Wir bedauern den Irrtum.

Mit Dank an Hansi!

Ein Stürmer in Gerüchteabwehr

Vergangene Woche wurde der HSV-Fußballer Artjoms Rudnevs bei einem Streit mit seiner Frau verletzt. Es hieß, sie habe ihm in die Zunge gebissen.

Viele Medien stürzten sich mit fröhlicher Empörung auf die Story um die „höchst pikante Verletzung“ (Bild.de), schrieben Sätze wie “Erst verlor er seinen Torriecher und nun fast seine Zunge” (welt.de) und waren sich schnell einig, dass dem Vorfall ein „bizarrer Ehe-Streit“ (“Focus Online”) zugrunde liegen müsse. Doch weil sich der Fußballer zunächst nicht äußerte, oder wie Bild.de es formulierte:

… malten sich die Journalisten die Hintergründe kurzerhand selbst aus.

Die „Hamburger Morgenpost“ brachte nach investigativer Recherche bei “engen Vertrauten” “krankhafte Eifersucht” ins Spiel, „Bild“ vermutete irgendeine peinliche Geschichte (schließlich wollte Rudnevs ja partout nichts dazu sagen und habe sich im Krankenhaus sogar “unter falschem Namen behandeln” lassen) und zitierte einen „Mental-Coach“, der dem Ehepaar zu einem „professionellen Coaching“ riet.

Der “Social-TV-Sender” joiz (der Rudnevs’ Frau Santa konsequent „Santana“ nennt) machte sich einen besonderen Spaß aus der Sache und lieferte am Freitag „fünf Theorien, wie es zu diesem ‘Streit-Zungen-Ungeschick’ gekommen sein könnte“:

Die Privatsphäre des Fußballers wurde zur lustigen medialen Spekulationsspielwiese. Wer hat noch nicht, wer will noch mal?

Artjoms Rudnevs selbst hat gestern auf der HSV-Seite eine Erklärung abgegeben:

Meine Damen und Herren, liebe Fans, 
 
in den letzten Tagen haben Medien viele falsche und leider auch schädliche Informationen über mich und meine Familie verbreitet. Hinter der ganzen Angelegenheit steckt eine sehr persönliche familiäre Tragödie, die bis zu diesem Zeitpunkt von keinem in Zusammenhang mit diesem Vorfall erwähnt worden ist. Daher wollte ich hiermit einiges aufklären, denn die Angelegenheit wurde bislang nur auf Grundlage von Spekulationen dargestellt, die die Familie Rudņevs in einem sehr schädlichen Licht erscheinen lassen. Die mir nahestehenden Familienmitglieder durchleben gerade sehr schwere Zeiten. 
 
Meine Frau Santa und ich hatten die Geburt unseres dritten Kindes erwartet. Am Samstag, den 29. August 2015, wenige Tage vor dem beschriebenen Vorfall auf einer der Straßen Hamburgs, erlitt meine Frau Santa eine Fehlgeburt. Keine Tragödie im Leben einer Frau kann mit dem Tod des eigenen Kindes auch nur annähernd verglichen werden. 
 
Meine Frau Santa kann dies nur schwer verarbeiten, wie übrigens jede andere Mutter nach einem derart dramatischen Erlebnis. Am unglückseligen Abend in Hamburg hat meine Frau daher zwischenzeitlich aufgehört rational zu denken und wurde hysterisch, weil sie zutiefst bestürzt über den Verlust unseres Kindes war.

Ich mache meiner Frau keinerlei Vorwürfe, für das was passiert ist. Wir sind seit elf Jahren zusammen und seit sechs Jahren sind wir ein sehr glückliches Ehepaar, niemals hatten wir Ehekrach und es gab nie Gewalt in unserer Ehe. Das was passiert ist, ist die für viele schwer nachvollziehbare Reaktion einer Mutter nach dem Tod ihres Kindes. Ich habe keinerlei Absicht, meiner Frau Vorwürfe zu machen. Unsere Familie wird zusammenhalten, vor allem in diesen schwierigen Zeiten.

Angesichts der oben genannten Tatsachen bestreite ich vehement Unterstellungen, wonach der Grund für die besagte Meinungsverschiedenheit eine Affäre mit einer anderen Frau gewesen sein soll, wie fälschlicherweise von Medien berichtet. Laut dem Verfasser eines Artikels soll ich zum Zeitpunkt des Vorfalls in Anwesenheit einer angeblichen Liebhaberin gewesen sein. Dies ist absolut erdacht und erlogen. Die besagte Frau, die uns an diesem Abend begleitet hat, war die Tante von Santa, die einige Tage vorher zu Besuch kam, um uns bei der Betreuung unserer zwei Kinder zu helfen, während wir nach dem tragischen Verlust unseres Kindes zu uns kommen wollten.

Es ist zudem unwahr, dass ich nach dem Einliefern ins Krankenhaus, angeblich unter falschem Namen registriert worden sein soll.

Körperlich geht es mir von Tag zu Tag immer besser. Der Schmerz der Zunge schwindet langsam und stört immer weniger beim Verzehr von normaler Nahrung und beim Sprechen. Laut den Ärzten werde ich zudem bereits nächste Woche das Training wieder aufnehmen können. Ich kann jetzt nicht detailliert sagen, an welchem Tag dies passieren wird. Ich will meine Familie in diesen schwierigen Momenten unterstützen und Santa darin helfen, zur Normalität zurückkehren zu können. Ich liebe meine Familie über alles, und ich tue auch alles, damit alles wieder gut wird.

Darüber hinaus möchte ich allen Medienvertretern mitteilen, dass ich mich zu diesem Thema nicht mehr äußern werde. Ich werde keine Stellungnahmen mehr zu diesem Vorfall abgeben. Ich bitte mit Nachdruck darum, die Privatsphäre meiner Nächsten zu respektieren und zu wahren.

Artjoms Rudnevs mit seiner Familie

Man kann nur erahnen, wie schwer es dem 27-Jährigen und seiner Familie gefallen sein muss, diese Zeilen zu veröffentlichen und so viel von dem preiszugeben, was sie eigentlich schützen wollen. Aber offenbar ist selbst dieser Weg erträglicher, als die Spinnereien der Journalisten und Leser auszuhalten, die sich ihre Dramen zur Not einfach munter selbst ausdenken.

Über das Statement wird natürlich auch wieder berichtet, zum Beispiel so:

Die medienkritischen Passagen der Erklärung hat Bild.de aber lieber nicht erwähnt.

Mit Dank an Jonas K., @WobTikal, @max_migu, @maxro39 und @V_83.

Heidenau, Leserinnen, Youtuber

1. Was Medien aus #Heidenau lernen können
(marckrueger.tumblr.com, Marc Krüger)
Am Freitagabend eskalierte die rechtsradikale Gewalt in Heidenau. Bei Twitter war der Hashtag #Heidenau Trending Topic, in den klassischen Medien tauchte das Thema bis Samstag dagegen kaum auf. Ein Grund: Die Nachrichtenagenturen berichteten erst spätabends – und die sind für viele Journalisten auch im Jahr 2015 noch die wichtigste Quelle. Ist das noch zeitgemäß? Nein, glaubt Marc Krüger: “Agenturhörigkeit und das absolute Vertrauen in die Vollkommenheit der Texte sind mittlerweile ebenso fehl am (Nachrichten)Platz wie das Glorifizieren von Twitter als einzig wahre Quelle […] Nachrichten sind auch nicht nur dann wichtig, wenn Agenturen sie als ‘Eil’ kennzeichnen.”

2. Hereinspaziert, klicken und liken!
(medienwoche.ch, Ronnie Grob)
Im zweiten Teil der Serie über die Veränderungen des Journalismus durch das Internet macht sich Ronnie Grob Gedanken über die Finanzierung von Netzinhalten. Wer heutzutage Geld verdienen wolle, sei “dazu gezwungen, viele Leser zu vielen Interaktionen zu bringen, und das passiert nicht mit ausgewogenem, vernünftigem Journalismus. Sondern mit Emotionen, Sex, Kriminalität, Satire, Gerüchten, Überzeichnungen, Halb- und Unwahrheiten. Das Träumen von einer anderen Welt ist zwar nach wie vor erlaubt, doch die Realität des ‘Journalismus’ online sieht so schlimm aus wie Focus.de oder Huffingtonpost.de. Portale, die für einen Klick oder ein Like wohl auch ihre Großmutter verkaufen würden.”

3. Wenn sich Männer nicht mitgemeint fühlen
(blogs.taz.de, Lalon Sander)
Viele Medien verwenden ganz selbstverständlich das generische Maskulinum. Wenn sie von “Lesern” sprechen, sollen sich die Leserinnen natürlich mitgemeint fühlen. Aber was passiert, wenn man das Ganze umdreht? Lalon Sander hat das bei der “taz” ausprobiert und in einem Artikel über E-Mail-Verschlüsselung von Absenderinnen und Empfängerinnen geschrieben. Die Reaktionen der Facebook-Nutzerinnen und -Nutzern zeigen: Drei Buchstaben können für ganz schön viel Empörung sorgen.

4. Letters: Mario Vargas Llosa Responds
(nytimes.com, Mario Vargas Llosa)
Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa beschwert sich in einem Leserbrief, dass in einer Buchrezension der “New York Times” mehrere Falschinformationen über ihn stehen: Weder habe er einen Twitter-Account, noch exklusive Fotos über eine neue Liebesbeziehung an ein Magazin verkauft. “I am flabbergasted to learn that this kind of gossip can work its way into a respectable publication such as the Book Review.”

5. Nehmt Youtuber ernst!
(tagesspiegel.de, Tim Klimeš)
Tim Klimeš ärgert sich über die Häme und die “ablehnenden Anspannung”, mit der viele klassische Medien Youtubern begegnen. “Wenn ich mich nun an meinen Schreibtisch setze, einen Text schreibe, mit dem ich nicht einmal versuche zu verstehen, wie solche Videos erfolgreich werden können, wenn ich stattdessen einen Eimer Häme über dieser neuen Kultur ausküble, dann gewinne ich vielleicht ein paar Fans auf Twitter und werde in einem Branchendienst zitiert. Was ich verliere, ist die Glaubwürdigkeit bei denjenigen, die meine Berichterstattung in den nächsten Jahren noch für voll nehmen sollen.”

6. “vermutlich Rechte”
(twitter.com/morgenpost)
Dass sie achtsam mit Sprache umgehen, wird besonders von denen erwartet, die damit arbeiten. Wie zuvor bereits “Spiegel Online” mit der “Asylgegner”-Bezeichnung hat sich nun die Nachrichtenagentur dpa mit ihrer Überschrift “Randale zwischen Linken und vermutlich Rechten” scharfe Kritik eingefangen. Dpa-Nachrichtenchef Froben Homburger erklärt, warum der Text so verschickt wurde.

St. Pauli löscht RB-Leipzig-Logo – vor drei Monaten

Am kommenden Sonntag spielt der FC St. Pauli gegen den RB Leipzig, doch schon jetzt, kurz vor dem Spiel, …

… provozieren die Hamburger auf der Vereins-Homepage

(sueddeutsche.de)

… geht [St. Pauli] auf Attacke-Kurs

(Bild.de)

… haben [die Hamburger] das Duell auf ihrer offiziellen Klub-Homepage gestartet

(welt.de)

… probieren es [die Hamburger] mit Psycho-Tricks

(sportnet.at)

Denn:

St. Pauli löscht RB-Leipzig-Logo von Vereinsliste - Sonntag treffen RB Leipzig und der FC St. Pauli im Spitzenspiel der 2. Liga aufeinander. Die Hamburger haben das Duell schon jetzt gestartet. Auf der Klub-Homepage strich man das Logo des Brauseklubs.
St. Pauli verbannt Logo von RB Leipzig - Vor der Partie gegen RB Leipzig entfernt St. Pauli das Logo des Rivalen von der eigenen Homepage. Es ist den Hamburgern zu werblich.
Duell am Sonntag - Stunk vor Zweitliga-Kracher: St. Pauli zeigt das Logo von RB Leipzig nicht
RB Leipzig gegen St. Pauli: Provokation? Logo!

So und ähnlich heute zu lesen unter anderem bei der dpa, “Spiegel Online”, “RP Online”, “Focus Online”, stern.de, Bild.de, sport1.de, spox.com, sportal.de, auf den Seiten der “Welt”, der “Süddeutschen”, der “Abendzeitung”, der “Berliner Zeitung”, der “Leipziger Volkszeitung”, des “Express”, des “Hamburger Abendblatt”, der “Mopo”, der “FAZ”, also im Grunde überall.

Doof nur: Das Logo wurde nicht erst jetzt entfernt, wie alle glauben, sondern schon vor Monaten. Nach BILDblog-Informationen bereits im Mai.

Mit einem Blick in die “Wayback Machine”, in der frühere Versionen von Internetseiten gespeichert werden, hätten die Journalisten das auch ganz schnell selbst herausfinden können:

Datiert ist diese Version auf den 8. Juni 2015 — schon damals gab’s anstelle des RB-Logos nur einen „Leipzig“-Schriftzug.

In die Welt gesetzt wurde die Geschichte heute übrigens, klar, von der “Bild”-Zeitung:

St. Pauli entfernt Leipzig-Logo

Mit Dank an Ananyma.

Korrektur, 22.05 Uhr: Wir hatten zunächst geschrieben, das Logo sei vor fünf Monaten gelöscht worden. Das war Quatsch; richtig sind mindestens drei. Entschuldigung!

Die 19 Jahre alte Hetzvorlage



Das haben Sie vielleicht mitbekommen, es war ja überall zu lesen; bei „Focus Online“, stern.de, web.de, news.de, berliner-kurier.de, welt.de, rtl.de, heute.at und vielen anderen.

Gestreut wurde die Story hierzulande von der Nachrichtenagentur AFP, die sie im Portal “Emirates 24/7” gefunden hatte.

Eine junge Frau ist laut Medienberichten in Dubai ertrunken, weil ihr Vater die Rettungsschwimmer zurückhielt, damit diese nicht seine Tochter anfassen und so ihre Ehre “beschmutzen”. Der asiatische Mann, dessen Identität nicht bekanntgegeben wurde, wurde von der Polizei festgenommen, wie das Internet-Nachrichtenportal Emirates 24/7 am Montag berichtete.

Wann das Ganze passiert sein soll, schreiben weder AFP noch die deutschen Medien, und wenn sie sich (wie etwa der “Guardian”) die Mühe gemacht hätten, den Zeitpunkt des Vorfalls zu recherchieren, hätten sie die Geschichte wohl gar nicht erst angepackt. Denn die Sache liegt nicht bloß ein paar Tage zurück — sondern 19 Jahre.

Das hat die Polizei in Dubai am Mittwoch bestätigt:

Unter dem “Emirates 24/7”-Artikel, den die AFP abgeschrieben hatte, steht inzwischen:

The incident happened many years ago.

Auch die AFP stellte am Mittwoch klar:

Polizei von Dubai: Fall von Ertrinkenlassen der Tochter ist alt

“Das ist eine alte Geschichte”, teilte am Mittwoch die Polizei des Emirats über den Kurznachrichtendienst Twitter auf Anfrage mit. Das Internet-Portal Emirates 24/7 hatte am Montag über den Fall berichtet. Die Meldung wurde von verschiedenen Medien aufgegriffen, auch von AFP. In den sozialen Netzwerken sorgte der Fall für scharfe Kritik.

„Scharfe Kritik“.

Wie hier auf “buzz.at”:

Oder auf „Focus Online“:


Wobei das mit dem “umfassend” ja auch im Internet so eine Sache ist. Bisher hat es nur eine Handvoll Medien geschafft, die Sache klarzustellen. Krone.at, Blick.ch und n24.de haben ihre Artikel ganz gelöscht.

Alle anderen, darunter stern.de, “Focus Online” und der “Berliner Kurier”, haben gar nichts geändert und sorgen damit weiterhin für “scharfe Kritik” von besorgten Bürgern. Dabei könnten gerade die ein bisschen Aufklärung doch wirklich gut gebrauchen.

Mit Dank an Eva R.!

Nachtrag, 17. August: stern.de und berliner-kurier.de weisen jetzt darauf hin, dass der Vorfall lange her ist. “Focus Online” und web.de haben ihre Artikel gelöscht.

Scheckbuchjournalismus, Storytelling, Krisenreporter

1. Geldwerter Vorteil
(sueddeutsche.de, Hans Leyendecker)
Für das Abkommen zur Transpazifischen Partnerschaft (TPP) hatte Wikileaks bereits ein “Kopfgeld” ausgesetzt: 100.000 Euro für vertrauliche Dokumente. Jetzt wiederholt die Plattform das Spiel für das hierzulande so kontrovers diskutierte Freihandelsabkommen TTIP. Hans Leyendecker erinnert das “an den alten Scheckbuchjournalismus, den es bei Magazinen wie Spiegel, Stern und Focus gegeben hat.”

2. Gefilterte Berichterstattung
(cicero.de, Petra Sorge)
Petra Sorge wundert sich darüber, dass kaum über den Dokumentarfilm „Ungefiltert eingeatmet“ berichtet wird, obwohl er ein “gravierendes Problem in Flugzeugen” beleuchte: Nämlich den Umgang mit giftigen Gasen an Bord. Weil Presse und Luftfahrtindustrie den Filmemacher Tim van Beveren für einseitig halten, stellt Sorge die Frage, ob der “Luftfahrt Presse-Club” ein Interesse daran hat, das Thema zu vertuschen. “Eine deutliche Trennung von Journalisten und Pressesprechern gibt es beim LPC jedenfalls nicht.”

3. Krieg im Kopf
(message-online.com)
“Wie Krisenreporter mit traumatischen Erlebnissen umgehen” — erzählen im Interview die Reporter Christoph Maria Fröhder und Wolfgang Bauer.

4. How To’s
(storybench.org)
Eine Sammlung von Storytelling-Tools und -Tutorials der Northeastern University’s School of Journalism. Hier erfährt man zum Beispiel, wie man Daten organisieren und visualisieren kann, wie man mit Programmen wie Plotly oder Python umgeht — oder wie man einen Star-Wars-Lego-Stopmotion-Film dreht.

5. Bad comments are a system failure
(medium.com, Jessamyn West)
Popular Science, Bloomberg Business, Reuters, Mic, The Week, re/code, The Verge, The Daily Dot – das ist eine Auswahl der Online-Medien, die ihre Kommentarfunktion abgeschaltet haben. Auch deutsche Medien klagen oft über Trolle und wüste Hetze in den Kommentarspalten. Doch die Leser stumm zu schalten sei keine angemessene Reaktion, findet Jessamyn West. Diskussionskultur stelle sich nicht von selbst ein, Medien müssten sich aktiv darum kümmern. Das erfordere viel Arbeit, sei aber eine wichtige Aufgabe für Journalisten. Diese These vertritt zum Beispiel auch “Zeit Online”-Chef Jochen Wegner, hier in einem Interview mit dem “Standard” von Anfang des Jahres.

6. Neues vom Bilddetail-Einkringelungsbeauftragten
(noemix.twoday.net)

Multipler Drei-Minuten-Journalismus

In drei Minuten schafft man ja so einiges. Fünflinge gebären zum Beispiel. Sich einen lässigen Knoten mit zwei eingeflochtenen Zöpfen in die Haare basteln. Den Verstand verlieren. Oder aber: richtig guten Sex haben.

In der Sex-Kürze liegt die Würze – das ist das Ergebnis einer aktuellen US-Umfrage. Demnach sind drei bis dreizehn Minuten Sex völlig ausreichend und befriedigend.

Tatsächlich sind Forscher der Pennsylvania State University gezielt der Frage nachgegangen, wie lange Sex dauern sollte, damit er gut ist. Dafür befragten sie 50 Mitglieder der “Society for Sex Therapy and Research” – genauer: “psychologists, physicians, social workers, marriage/family therapists and nurses” –, von denen 44 Auskunft gaben. Ergebnis:

The average therapists’ responses defined the ranges of intercourse activity times: “adequate,” from three to seven minutes; “desirable,” from seven to 13 minutes; “too short” from one to two minutes; and “too long” from 10 to 30 minutes.

Sie sehen: Für guten Sex braucht man nur drei Minuten. Na gut, mindestens drei.

Höchstens drei braucht man dagegen, um festzustellen, dass die Aussagekraft dieser “Studie” doch arg zu wünschen übrig lässt. Die Aussagen von 44 Ärzten und Krankenschwestern als Maßstab für die Sex-Vorlieben der Menschheit? Nun ja.

Noch viel weniger als drei Minuten bedarf es allerdings, um herauszufinden, dass diese ganze Sache schon über sieben Jahre alt ist.

Trotzdem taucht sie seit ihrer Veröffentlichung (meist pünktlich zum Sommerlochanfang) immer wieder als Nachricht in den deutschen Medien auf.

Der oben zitierte Bild.de-Artikel stammt aus November 2009. Da war die “aktuelle US-Umfrage”, von der die Rede ist, immerhin schon anderthalb Jahre alt, was im Artikel freilich nicht erwähnt wird.

Noch ein Jahr später, im Juni 2010, entdeckte die “Daily Mail” die Geschichte

… woraufhin auch die deutschsprachigen Medien wieder aufsprangen. Zunächst Ende Juni in Österreich:

(oe24.at)

(krone.at)

Dann, Anfang Juli 2010, bei “T-Online” (obwohl das Portal schon zwei Jahre zuvor über die “neue Studie” berichtet hatte):

Und im Oktober 2010 bei RTL.de:

Auch in diesem Jahr — sieben Jahre nach Erscheinen der Studie — haben die Journalisten sie wieder für sich entdeckt. Im Mai schrieb die „Huffington Post“:

Die Autorin verlinkt sogar auf die Studie, tut aber trotzdem so (oder geht tatsächlich davon aus), als wäre das alles neu.

Die eifrigsten Sexartikelwiederverwurster sind aber selbstverständlich die Medien des Axel-Springer-Verlags.

Als die Studie herauskam, berichtete zunächst welt.de:

2009 folgte der Bild.de-Artikel, den wir oben zitiert haben:

Im Mai 2014 dann die „B.Z.“:

Bild.de im Juni 2014

… sowie im September 2014

… und irgendwann zwischendurch noch mal als Meldung im “Newsticker”:

Vor zwei Wochen dann wieder die „B.Z.“:

Und am vergangenen Sonntag wieder Bild.de:

Dass die Studie nur von sehr bedingter Aussagekraft und noch dazu uralt ist, schreiben sie nicht, aber darauf kann man ja auch nicht kommen, wenn man immer nur stumpf voneinander abschreibt.

Also, liebe Recyclingredakteure: Wenn Ihnen diese Story im nächsten Sommer wieder vor die Flinte läuft (und das wird sie ganz bestimmt), nutzen Sie die Zeit, die Sie fürs Copy-und-Pasten brauchen würden, doch lieber für was Sinnvolles. In drei Minuten schafft man ja so einiges.

Mit Dank an Fred R.

“Internetblogger”, Schleichwerbung, Afghanistan-Papiere

1. Unglaublich: SO macht “Focus Online” Stimmung gegen Flüchtlinge
(stefan-niggemeier.de, Stefan Niggemeier)
“Focus Online” auf Dumpfbacken-Klickfang: Anfang der Woche hat das Portal einen Artikel, in dem sachlich dargestellt wird, welche Ansprüche Flüchtlinge nach dem Asylbewerberleistungsgesetz haben, bei Facebook mit dem Satz anmoderiert: “Unglaublich: DAS bekommt jeder Flüchtling monatlich!” “Rassistisches Clickbaiting” sei das, findet die “taz”-Journalistin Helke Ellersiek. Und Stefan Niggemeier schreibt: “Wenn es darum geht, aus Scheiße Klicks zu machen, macht ‘Focus Online’ so schnell keiner was vor”.

2. Echte und unechte Journalisten
(taz.de, Kai Schlieter)
Zynisch ausgedrückt: Bessere Öffentlichkeitsarbeit als die Bundesanwaltschaft hätte wohl keine PR-Agentur für netzpolitik.org leisten können. Seit ein paar Tagen tauchen die “Internetblogger” (s. Link 5) in jeder Nachrichtensendung auf, und sowohl Spenden als auch Klickzahlen steigen stetig. Doch wer sind die beiden vermeintlichen Landesverräter Markus Beckedahl und Andre Meister, wer arbeitet sonst noch bei Netzpolitik und wie reagiert das Team auf die Vorwürfe? Kai Schlieter portraitiert die Redakteure, die “stolz darauf [sind], Blogger zu sein, die journalistisch arbeiten.”

3. Urheberrecht an Lageberichten: WAZ nimmt Afghanistan-Papiere vom Netz
(irights.info, David Pachali)
Die WAZ hatte Ende 2012 Tausende interne Dokumente zum Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan veröffentlicht. Diese sogenannten “Afghanistan-Papiere” waren als Verschlusssache eingestuft, allerdings nur mit der niedrigsten Stufe (“Nur für den Dienstgebrauch”). Die Bundesregierung klagte gegen die Veröffentlichung und bekam im Juni vor dem Oberlandesgericht Köln recht. Da eine Zwangsvollstreckung drohte, hat die Funke Mediengruppe die Papiere nun kurzfristig von ihren Online-Portalen entfernt. Allerdings hat die nordrhein-westfälische Piratenfraktion die Website gespiegelt, dort sind die Dokumente weiterhin online. Im WAZ-Rechercheblog äußert sich der Online-Chefredakteur: “Wir gehen weiterhin davon aus, dass die Veröffentlichung der Papiere rechtens war und ist.” Die Funke-Gruppe werde vor den BGH ziehen, um den Fall klären zu lassen – das allerdings könne “ein bis zwei Jahre dauern”, bis dahin würden die Papiere offline bleiben.

4. Die Champions League der Schleichwerbung
(opinion-club.com, Falk Heunemann)
Gestern und vorgestern zeigten das ZDF und ZDFinfo eines der vielen Fußball-Vorbereitungsturniere. Das fuchst Falk Heunemann. Denn die Veranstaltung sei ohne jeglichen sportlichen Wert gewesen, wodurch die TV-Übertragung des “Audi-Cups” nichts anderes gewesen sei als eine “insgesamt viereinhalbstündige Dauerwerbesendung”,”die Wok-WM des ZDF”: “Kaum eine Einstellung vergeht, in der nicht der Schriftzug des Autoherstellers zu sehen ist, der dieses ‘Turnier’ ausrichtet. Auf den Werbebanden im Stadion steht sein Name, rechts und links der Tore und natürlich auch auf allen Wänden, vor denen Trainer und Spieler interviewt werden. Die Eckfahnen sind damit bedruckt, die Leibchen der Ersatzspieler und die Kapitänsbinde von Manuel Neuer. Die Kameraleute fangen sogar regelmäßig Zuschauer mit Audi-Flaggen ein. Wahrscheinlich halten sie die für engagierte Fans.”

5. Hört auf mit “Internetblogs” und “Bloggern”!
(wdrblog.de, Dennis Horn)
WDR-Blogger Dennis Horn ärgert sich, dass derzeit mal wieder über den Unterschied zwischen Bloggern und Journalisten debattiert wird. “Zurzeit fühlt es sich an, als habe das Jahr 2005 angerufen und wolle seine Blogger-gegen-Journalisten-Diskussion zurück.” Horn fragt sich, warum man nicht einfach von den Machern von netzpolitik.org spricht – statt sich mit den anderen Bezeichnungen bemüht abgrenzen zu wollen. Genauso despektierlich würden Medien den Begriff “Internetblog” benutzen – statt nach einem passenderen Wort zu suchen.

6. Zum Schutz der Allgemeinheit: BILD darf nur noch verpixelt erscheinen
(eine-zeitung.net)

“Asylkritiker”, Ferrari-Werbung, mit 10 Franken durch die Schweiz

1. “Asylkritiker” oder “Rassist”? Die Suche nach den richtigen Worten
(sz-online.de, Julia Kilian)
Wenn man über die deutsche Flüchtlingsproblematik … Nein, da fängt es schon an: Wenn man über die deutsche Debatte über den Umgang mit Geflüchteten schreibt, ist es wichtig, seine Worte mit Bedacht zu wählen. Zuerst warnte David Hugendick vor dem Euphemismus “Asylkritiker”, daraufhin reagierte die dpa und kündigte an, künftig auf solche verharmlosenden Begriffe zu verzichten. Das veranlasste Julia Kilian, Sprachwissenschaftler zu Ausdrücken wie “Asylgegner”, “Asylanten” oder “Wirtschaftsflüchtlinge” zu befragen. Noch einen Schritt weiter geht Sascha Lobo, der fordert: “Nennt sie endlich Terroristen!”

2. Attacken gegen Flüchtlinge: Terror in Deutschland
(spiegel.de, Maximilian Popp)
Mehr als 200 Übergriffe auf Flüchtlingsunterkünfte im ersten Halbjahr 2015 — und Politiker und Journalisten haben eine Mitverantwortung, meint Maximilian Popp. Er wirft etwa dem “Focus” vor, populistisch Stimmung gegen “falsche Flüchtlinge” zu machen, nimmt seinen Arbeitgeber aber nicht aus: “DER SPIEGEL hat in den Neunzigerjahren den Populismus, den er heute zu Recht beklagt, mit Titeln wie ‘Zu viele Ausländer?’ selbst befeuert.” Auch Kai Budler übt im Störungsmelder-Blog Medienkritik: “Und auch die Medien haben in den vergangenen 20 Jahren offenbar nichts gelernt, denn wieder einmal hantieren sie mit Angstmetaphern wie dem ‘Das Boot ist voll’-Bild.” Und Tagesschau-Chefredakteur Kai Gniffke appelliert, den Ressentiments Fakten entgegenzusetzen und Menschen zu portraitieren, die sich für Flüchtlinge engagieren.

3. Talkshow-Kritik: Völlige Einseitigkeit und ein nationaler Wir-Diskurs
(heise.de, Marcus Klöckner)
Die Medienwissenschaftler Matthias Thiele und Rainer Vowe haben die zahlreichen Griechenland-Runden der politischen Talkshows im deutschen Fernsehen untersucht. Die Sendungen seien “vor allem von Polemiken, Ressentiments und einer arroganten Haltung gegenüber der neuen griechischen Regierung und den Griechen dominiert” gewesen, erzählt Thiele im Interview. Fast durchgehend sei “mit der symbolischen Frontstellung von ‘Wir’ versus ‘die Anderen'” operiert worden.

4. Wofür das “F” in “FAZ” steht
(stefan-niggemeier.de, Boris Rosenkranz)
Auf der Internetseite der “Frankfurter Allgemeinen Zeitung” erschien in dieser Woche ein Video, in dem ein “FAZ”-Redakteur den Formel-1-Piloten Sebastian Vettel interviewt. Dabei sitzen die beiden in einem Ferrari, machen eine Spritztour mit dem Ferrari, tragen Mützen von Ferrari, sprechen über Ferrari, und produziert wurde das Ganze — von Ferrari. Nach der Kritik von Boris Rosenkranz nahm faz.net den Werbeclip offline.

5. Chronistenpflicht, Chronistenkür
(wortvogel.de, Torsten Dewi)
Eigentlich wollte Torsten Dewi die alte, dicke “Chronik des 20. Jahrhunderts” in einer Bücherkiste vor dem eigenen Haus verschenken, machte sie dann aber doch zu seiner “Frühstücks/Badezimmer/Bett-Lektüre”:

Und tatsächlich: Das Buch hat auch im Zeitalter von Wikipedia und YouTube seine Existenzberechtigung. Weil es strikt chronologisch vorgeht, Entwicklungen nachvollziehbar macht, Kontext liefert. Information nicht punktuell und im luftleeren Raum, sondern als Bestandteil eines riesigen Puzzles aus Kultur, Politik, Natur und Wissenschaft.

Beim Blättern stößt Dewi beispielsweise auf eine ihm bisher unbekannte und völlig desaströse ARD-Fernsehshow zum Geburtstag des Automobils, die der damalige Daimler-Benz-Chef höchstpersönlich abbrechen ließ.

6. Die Grand Tour of Switzerland mit 10 Franken in 10 Tagen
(herrfischer.net, Tin Fischer)
Tin Fischer wurde zu einer Pressereise durch die Schweiz eingeladen, mit luxuriöser Unterkunft, einem eigenen Auto und “geballter Spitzenkulinarik”. Stattdessen erkundet der Journalist nun alleine die Strecke der Reise. Mit nur 10 Franken und der Hoffnung, auf hilfsbereite Menschen zu treffen.

Und noch ein anderes Journalisten-Projekt aus der Schweiz: Unser lieber Kollege und Ex-6-vor-9-Kurator Ronnie Grob will ebenfalls auf Tour gehen und für das Projekt “Nach Bern!” sechs Wochen lang den Schweizer Wahlkampf beobachten. Dafür sucht er noch finanzielle Unterstützung.

Das “Kollaps”-Drama von Bayreuth: Merkel fällt vom Stuhl

Sie müssen sich sehr beeilt haben bei der “Bild am Sonntag”. So schafften sie es noch, die dramatische Meldung vom späten Samstagabend in einem Teil ihrer Auflage unterzubringen:

Das Drama in Bayreuth spielte sich in diesem Jahr nicht nur auf der Bühne ab. Nach Informationen von bild.de erlitt Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bei den Bayreuther Festspielen einen Kollaps!

(…) Um 16 Uhr beginnt “Tristan und Isolde”. Gegen 17.20 Uhr ist der erste Akt zu Ende. Während der Kaffeepause fällt die Kanzlerin in Ohnmacht, rutscht von ihrem Stuhl. Zwei Minuten soll es gedauert haben, bis Merkel wieder auf die Beine kommt. Die Menschen an ihrem Tisch kümmern sich um sie. Unter anderen Bundestagspräsident Norbert Lammert und Kulturstaatsministerin Monika Grütters.

Offenbar war es ein ähnlicher Kollaps wie beim CDU-Parteitag in Köln, damals ging man von Stress und Dehydrierung aus. Auch diesmal zeigte Merkel Nehmer-Qualitäten, ließ sich den Empfang nach der Aufführung nicht nehmen!

Um 22:59 Uhr hatte Bild.de das unter der Überschrift “Schock in Bayreuth: Angela Merkel – Kollaps!” gemeldet.

Keine halbe Stunde später alarmiert eine Reihe von Online-Medien seine Leser mit Eilmeldungen. “Festspiele in Bayreuth: Merkel offenbar kurzzeitig kollabiert”, berichtet “Spiegel Online”. “Kollaps während der Pause – Schock in Bayreuth: Angela Merkel bricht zusammen”, tickert “Focus Online”. “Zusammenbruch! Sorge um die Kanzlerin”, schreibt Bunte.de.

Um 0:23 Uhr verbreitet die Nachrichtenagentur AFP die “Bild”-Meldung:

“Bild”: Merkel bei Wagner-Festspielen kurzzeitig in Ohnmacht gefallen
– Kanzlerin offenbar schnell wieder auf den Beinen

Berlin (AFP) – Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat bei den Richard-Wagner-Festspielen in Bayreuth laut einem Medienbericht einen Kollaps erlitten. Die 61-Jährige sei am Samstag während der ersten Pause der Oper “Tristan und Isolde” in Ohnmacht gefallen und vom Stuhl gerutscht, berichtete das Nachrichtenportal “Bild Online”. (…)

Eineinhalb Stunden später rudert AFP zurück:

Regierungssprecher: Merkel bei Wagner-Festspielen nicht kollabiert – Kein Schwächefall – Stuhl der Kanzlerin brach zusammen

Berlin (AFP) – Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat die Eröffnung der Richard-Wagner-Festspiele in Bayreuth am Samstag trotz eines Zwischenfalls in der Pause unbeschadet überstanden. Merkel habe keinen Schwächeanfall erlitten, lediglich der Stuhl der Kanzlerin sei zusammengebrochen, sagte Vize-Regierungssprecher Georg Streiter der Nachrichtenagentur AFP.

Er dementierte damit einen Bericht des Nachrichtenportals “Bild Online”, wonach die 61-Jährige während der ersten Pause der Oper “Tristan und Isolde” kurzzeitig in Ohnmacht gefallen und vom Stuhl gerutscht sei.

Auch die Agentur dpa, die die “Bild”-Behauptung, anders als AFP und viele Online-Medien, nicht ungeprüft verbreitet hatte, vermeldet gegen zwei Uhr früh das Dementi.

Nutzer von “Focus Online” bekommen bald darauf erneut eine “Eilmeldung”: “Nicht Merkel brach zusammen, sondern ihr Stuhl”. Online-Medien löschen ihre alten Meldungen, korrigieren sie eilig oder fügen nur am Ende noch einen kleinen Absatz an.

Und bei Bild.de steht an der Stelle, an der gerade noch über den dramatischen “Kollaps” der Kanzlerin berichtet wurde, nun ein Stück über eine “Panne bei Bild.de”, nee: “bei Festspielen in Bayreuth: “Weshalb Angela Merkel mit ihrem Stuhl zusammenbrach”:

Zunächst hatte es geheißen, die Bundeskanzlerin habe einen Schwächeanfall gehabt und sei kollabiert. Lokale Medien und auch BILD hatten darüber berichtet.

Na sowas: Als “Bild” noch an die Richtigkeit der eigenen Geschichte glaubte, war von anderen, “lokalen Medien” als Quelle noch nicht die Rede gewesen.

PS: In einem großen Artikel über die Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Presse hatte die “Bild am Sonntag” zum Tag der Pressefreiheit vor zwei Monaten übrigens erklärt:

Viele Medien, wie auch BILD am SONNTAG, haben zudem einige praktische Regeln für ihre Arbeit. Dazu gehört zum Beispiel das Zwei-Quellen-Prinzip. Das bedeutet: Es genügt nicht, eine Information zu bekommen, sie kann erst verwendet werden, wenn sie durch mindestens eine zweite Quelle bestätigt wurde.

Nachtrag, 12:25 Uhr. “Bild am Sonntag”-Chefredakteurin Marion Horn schreibt auf Twitter, es habe zwei Quellen für den Merkel-Kollaps gegeben, “nicht unbekannte Menschen, die dort waren”.

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