Suchergebnisse für ‘erfunden’

Witwenschütteln, Presseagenturen, Komplotte

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Geiselnahme in Leipzig und die Medien”
(konni.org, Konstantin Winkler)
Konstantin Winkler twitterte während einer Geiselnahme in einer H&M-Filiale in Leipzig: “Das Echo darauf war groß, ich bekam positives und negatives Feedback, einige Twitteruser, mit denen ich das Gespräch suchen wollte, hatten mich bereits geblockt. Andere wiederum empfahlen mir einen Job bei der BILD-Zeitung.”

2. “Stille-Post-Journalismus und Medusenhaupt-Effekt”
(heise.de, Peter Mühlbauer)
Perez Hilton twittert über Miley Cyrus, worauf salon.com in einem Artikel auf rechtliche Konsequenzen aufmerksam macht. “Am Ende der journalistischen Stille-Post-Kette, in der Bild-Zeitung, machte man schließlich aus der Forderung von Kommentatoren, das FBI solle den Fall untersuchen, eine bereits begonnene Ermittlung.”

3. “Sein Feind war der ‘Tages-Anzeiger'”
(tagesanzeiger.ch, Constantin Seibt)
Journalist Karl Lüönd erklärt das Witwenschütteln: “Es ist einfacher, als du denkst. Du brauchst etwa ein Foto von einem Opfer. Du gehst also zu den Angehörigen und erklärst ihnen, dass die Zeitung auf jeden Fall ein Bild bringen wird. Und dass es ein besseres Andenken wäre, wenn es ein schönes Bild wäre. Und nicht ein verwackeltes. Man kriegt dann selten die Tür vor der Nase zugeknallt. Die meisten sind sogar froh um deine Fragen. Denn die meisten Leute in Extremsituationen reden gern.”

4. “Vorm endgültigen Redaktionsschluss”
(taz.de, Steffen Grimberg)
Steffen Grimberg sieht die Presseagenturen in einem Überlebenskampf. Das “alte Nachrichtenmonopol” sei gebrochen.

5. “Eine Nacht im Kapstädter Township Delft”
(wintermaerchen2010.com, Audio-Slideshow, 6:28 Minuten)
Christian Frey und Kai Schächtele besuchen Delft, ein Township von Kapstadt.

6. “‘BILD’ deckt deutsches WM-Aus auf”
(westline.de)
Westline macht sich Gedanken über das von “Bild” erfundene “Trainer-Komplott” zwischen Ghana und Serbien.

Bild  

“Armselig und lächerlich”

Seit “Bild” dem Fußballer Ioannis Amanatidis mit Unterstützung des angeblichen Opfers nachgesagt hat, eine Frau ins Gesicht geschlagen zu haben (BILDblog berichtete), ist das Verhältnis zwischen dem Stürmer von Eintracht Frankfurt und der Zeitung zerrüttet.

Darauf wies Amanatidis gerne auch noch mal in einem aktuellen Interview mit der “Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung” hin:

Und was ist mit Ihrer Karriere? “Bild” hat in dieser Woche getitelt: “Amanatidis vor dem Aus”.

Ich habe in der Vergangenheit schon oft gesagt, wozu dieses Blatt fähig ist. Von dieser Zeitung wurden mehrmals Sachen über mich erfunden oder aus Unwissenheit geschrieben. Ich unterhalte mich mit diesen Leuten schon lange nicht mehr, sie bekommen von mir keine Informationen, also müssen sie sich alles ausdenken. Das ist armselig und lächerlich. Es stinkt denen, dass ich mit ihnen nicht mehr spreche, dass sie für mich Luft sind. Also schreiben sie irgendwelche negativen Sachen. Wenn man berechtigte Kritik übt, dann bin ich zufrieden. Aber man darf nicht unter die Gürtellinie gehen, und dieses Schmuddelblatt kann offenbar nichts anderes, als in diese Richtung zu berichten.

Mit Dank an Johnny D.

Nachtrag 17.45 Uhr: … und gestern war Amanatidis bei Bild.de dann einer der “Verlierer der Saison” in den Reihen der Eintracht.

Mit Dank an Gregor H.

In eigener Sache

Der Journalist war auch für den “BILDblog” tätig, der sich zum Ziel gesetzt hat, Missstände in den Medien aufzudecken.

BILDblog wird heute, nach fast sechs Jahren, zum ersten Mal in einem eigenen Artikel auf Bild.de erwähnt (siehe Screenshot). Anlass ist der schwerwiegende Verdacht gegen einen freien Journalisten, in Artikeln u.a. für “Welt Online” und “Spiegel Online” Personen und Zitate erfunden zu haben, was er bestreitet.

Der Beschuldigte hat auch insgesamt zwei Beiträge für BILDblog geschrieben, die aber nicht beanstandet werden. Wir werden die Vorwürfe gegen den Autor sorgfältig prüfen. Danach werden wir über Konsequenzen entscheiden.

Von den Medien zwangsverheiratet

Es war ein Skandal erster Güte, eine Geschichte über kulturelle Differenzen und über den ewigen Machtkampf zwischen Vater und Sohn, der in den letzten Wochen diverse deutsche und türkische Boulevardblätter beschäftigte: Der deutsche U21-Nationalspieler Baris Özbek, derzeit Spieler des türkischen Erstligisten Galatasaray Istanbul, wird von seinem Vater zur Heirat einer 16-Jährigen aus der Verwandtschaft seiner Familie gezwungen. Weigert er sich, wird er aus der Familie verstoßen.

So stand es zumindest im “Express”.

Die Geschichte klingt in der Tat äußerst dramatisch und so, als wären dies schwierige Tage für den jungen Baris Özbek — wenn, ja wenn die gesamte Geschichte nicht einen Haken hätte: Sie stimmt nicht.

Dabei hatten sich die deutsche und türkische Boulevardpresse Zitate und Gerüchte so lange im Doppelpass zugespielt, bis jeder eine Quelle hatte und besten Gewissens auf andere Medien als Urheber verweisen konnte.

Am 17. März meldete der “Express”:

Özbek soll laut türkischen Medienberichten zwangsverheiratet werden. Die Zeitung Star berichtet, Özbeks Vater Sinasi verlange von Baris (23) die Heirat mit einem 16-jährigen Mädchen aus dem Verwandtenkreis.

Eben diese Zeitung “Star” berichtete nun genau einen Tag später ebenfalls von der angeblichen Zwangsheirat und hatte dafür überraschende Quellen aufgetan:

Gerüchten zufolge soll Baris von seinem Vater Sinasi Özbek zur Ehe mit einer 16-jährigen mutmaßlichen Verwandten gezwungen werden. Nach Berichten deutscher Medien soll Baris, der sich seiner Familie und insbesondere seinem Vater gegenüber außerordentlich verbunden fühlt, in dieser Angelegenheit nicht in der Lage gewesen sein, zu widersprechen.

(Übersetzung von uns)

Die Meldung von der angeblichen Zwangsheirat verbreitete sich in Windeseile. “Bild” und Bild.de berichteten ebenso wie die großen türkischen Boulevardzeitungen “Hürriyet” und “Milliyet”. Und als sei die Gemengelage aus sich gegenseitig zitierenden Quellen, Spekulationen und Gerüchten nicht schon unübersichtlich genug, ergänzten die verschiedenen Redakteure ihre Beiträge hier und da und malten sich aus, wen und warum Özbek heiraten könnte, sollte, müsste.

Arno Schmitz, der Redakteur des “Express”, verstieg sich gar zu einer knappen Zusammenfassung dessen, was er ganz grundsätzlich für die “türkische Kultur” hält: Zwangsheirat mit Minderjährigen und verstoßene Söhne.

Auf die naheliegende Idee, Özbek selbst zu der Angelegenheit zu befragen, kam offensichtlich keiner der Redakteure der beteiligten Boulevardzeitungen. Verärgert schreibt Baris Özbek auf seiner eigenen Homepage:

Die Nachricht auf den Sportseiten der heutigen Hürriyet mit dem Titel “Wenn Du nicht heiratest, verstoße ich Dich” ist vollkommen aus der Luft gegriffen. (…) Dass diese unwahre Nachricht heute mit Bezug auf deutsche Medien als Quelle nochmals in unsere Zeitungen getragen wird, bedeutet nicht, dass die Inhalte wahr sind; dass darüber hinaus noch neue Details hinzuerfunden wurden, ist nicht zu rechtfertigen.

(Übersetzung von uns)

Ja, es war ein Skandal erster Güte und es waren schwierige Tage für Baris Özbek. Dafür haben “Express” und “Bild”, “Star”, “Milliyet” und “Hürriyet” selbst gesorgt.

Mit Dank an Erhan S. für den Hinweis und besonderem Dank an Baris Ü. für die Übersetzung aus dem Türkischen.

Bild.de, jetzt.de  etc.

Facebook-Syphilis ist bloß Journalisten-Krätze

Diese Meldung geht gerade um die Welt: In der nordenglischen Stadt Middlesbrough hat sich die Zahl der jährlichen Syphilis-Erkrankungen von unter zehn auf 30 erhöht. Peter Kelly, ein Verantwortlicher der örtlichen Gesundheitsbehörde, warnt deshalb vor ungeschütztem Sex mit wechselnden Geschlechtspartnern.

Das ist in dieser Form natürlich noch kein Anlass für internationale Schlagzeilen. Doch die Medien haben ihre industrielle Entenproduktion inzwischen soweit perfektioniert, dass das als Rohstoff schon ausreicht.

Ausgangspunkt war, wie so oft, das britische Revolverblatt “The Sun”. Es griff einen Satz Kellys aus der Safer-Sex-Warnung auf: “Soziale-Netzwerk-Seiten erleichtern es Menschen, sich mit anderen für zwanglosen Sex zu treffen.” Die “Sun” verknüpfte diese schlichte Beobachtung mit Zahlen aus dem vergangenen Monat, wonach die Menschen (zwar nicht in Middlesbrough, aber in Städten in der Nähe) überdurchschnittlich häufig solche sozialen Netzwerke nutzten. Sie spitzte beides auf “Facebook” zu, erfand einen kausalen Zusammenhang und titelte konsequent: “Sex diseases soaring due to Facebook romps” (frei übersetzt: Geschlechtskrankheiten explodieren wegen Facebook-Sex).

Damit war die Geschichte zwar falsch, aber spektakulär genug, ihre Reise um die Welt anzutreten, wobei die Lügen, die ihr zugrunde lagen, immer weiter ausgeschmückt wurden. Als eine der ersten schrieb die Online-Redaktion des “Daily Telegraph” die “Sun”-Meldung ab und veröffentlichte sie ohne Quellenangabe. Das war praktisch, weil sich weitere Abschreiber nun auf diese vermeintlich seriösere Zeitung berufen konnten. “Facebook ‘linked to rise in syphilis'” (“Facebook ‘mit Syphilis-Anstieg in Verbindung gebracht'”) titelte der “Telegraph” und legte somit gleich dem Gesundheitsbeamten den Zusammenhang in den Mund, den die “Sun” erfunden hatte.

Die britische Zeitung “Daily Mail”, der amerikanische Fernsehsender “Fox News” und viele andere verbreiteten die Falschmeldung der “Sun” weiter. Nach Deutschland schaffte es die Meldung mit tatkräftiger Unterstützung einer Hallenser Firma namens dts (“Deutsche Textservice Nachrichtenagentur”), die dem schon vorhandenen Unsinn weitere Fehler hinzufügte. Auch die einschlägig bekannte Düsseldorfer Agentur “Global Press” mischte mit ihrem Dienst “Medical Press” wieder mit.

Vor allem Online-Redaktionen, die auf irgendeinem Weg mit der offenbar ansteckenden Geschichte in Kontakt kamen, waren sofort von ihr infiziert. Sie breitete sich in Österreich (“Kurier”) ebenso aus wie in der Schweiz (“20 Minuten”), erreichte das deutschen Schwulen-Portal “queer.de” und das Jugendportal der “Süddeutschen Zeitung” “jetzt.de” — und natürlich: Bild.de.

“Facebook wird in Großbritannien als Sex-Kontaktbörse benutzt”, heißt es dort einigermaßen sinnlos in der Titelzeile, um dann erstaunlich skeptisch von einer “gewagten These” zu sprechen. Die Geschichte von Peter Kelly hat auf Bild.de inzwischen folgende Märchenform angenommen:

Nachdem er beobachtete, dass die Zahl der Syphilis-Erkrankungen in den britischen Orten Sunderland, Durham und Teesside um das Vierfache angestiegen sind, schaute er sich das Nutzerverhalten von Facebook an. Das Ergebnis: In den Orten mit hoher Syphilis-Rate nutzten auffällig viele Personen den Online-Dienst.

Macht Facebook krank?

Eine britische Untersuchung lässt vermuten, dass es einen Zusammenhang zwischen häufiger Facebook-Nutzung und der Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung an Syphilis gibt. “Diese Seite vereinfacht die Suche nach Sexabenteuern”, so die Forscher.

(“B.Z.”, 25. März)

Nichts davon ist wahr; mit Sunderland und Durham hat Kelly ohnehin gar nichts zu tun, die Städte waren nur die beiden mit den hohen Facebook-Nutzerzahlen, die die “Sun” unauffällig mit in das Gemenge eingerührt hatte, um überhaupt erst einen Schein-Zusammenhang zu konstruieren.

Die Gesundheitsbehörde hat inzwischen klargestellt, dass sie mit ihrer Mitteilung nur die Risiken von Geschlechtsverkehr mit wechselnden Partnern herausstellen wollte: “Wir haben nicht behauptet, dass Soziale Netzwerke den Anstieg in der Zahl von Syphilis-Fällen verursachen.”

Und vielleicht lohnt es sich, am Ende den einen Satz von Kelly aus der “Sun” zu zitieren, von dem aus sich die ganze Falschmeldungsepidemie weltweit ausbreitete. Gesagt hatte er bloß: “Ich habe gesehen, dass mehrere der [von Syphilis] Betroffenen ihre Sex-Partner durch solche Sozialen Netzwerke kennen gelernt hatten.”

Das Erstaunliche ist, dass die Medien sich überhaupt noch die Mühe geben, von einer Tatsache auszugehen, die sie dann verdrehen, verfälschen und übertreiben, anstatt sich gleich Geschichten komplett selbst auszudenken — wenn ihnen doch so offenkundig egal ist, ob es stimmt, was sie berichten. Aber vielleicht wäre gerade das Selbstausdenken viel mehr Arbeit als die routinierte Methode der Produktion falscher, aber gut verkäuflicher Geschichten.

PS: So illustiert die “Sun” ihren Service-Artikel zur Frage, woran man erkennt, sich mit Syphilis infiziert zu haben:

Neon, NDR, Product Placement

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Erfundene Star-Interviews bei ‘Neon'”
(faz.net)
Die Zeitschrift “Neon” stellt ihren Autor Ingo Mocek per sofort frei, weil Zweifel an der Echtheit von Interviews bestehen, die er mit Beyoncé Knowles, Slash, Christina Aguilera, Snoop Doggy Dog und Jay-Z geführt haben soll.

2. “Neuer Verdacht beim NDR”
(tagesspiegel.de)
Die Staatsanwaltschaft Kiel ermittelt gegen einen NDR-Mitarbeiter: “Der Beschuldigte soll von mindestens einer Firmengruppe Geld dafür erhalten haben, dass er ihr Sendezeiten im Fernsehen verschaffte oder sich dazu bereiterklärte.”

3. “Praktische Product Placement-Regeln”
(dwdl.de, Jochen Voß)
Privatsender dürfen ab April gegen ein Entgelt Produkte in ihren Unterhaltungssendungen platzieren. “Sofern in einer Sendung eine bezahlte Produktplatzierung enthalten ist, muss mit der Einblendung eines entsprechenden Logos darauf hingewiesen werden. Die Sendungen müssen am Anfang, am Ende nun nach einer Werbepause gekennzeichnet werden.”

4. “Sie sind umzingelt!”
(merkur.de, Antje Hildebrandt)
Antje Hildebrandt schreibt über den Journalimus von “Bild” und “Bunte”. “Weder die ‘Bild’-Story über die trunkene Autofahrt noch die Schlafzimmer-Reporte der ‘Bunten’ haben das Vertrauen in den Journalismus gefördert. Im ersten Fall bleibt der Verdacht, dass entweder Polizisten geplaudert oder Leserreporter Jagd auf Hannovers prominenteste Bürgerin gemacht haben. Der zweite Fall rückt die Recherche, Kerngeschäft des Journalismus, in die Nähe geheimdienstlicher Ermittlungsmethoden. ”

5. Interview mit Wolf Schneider
(meedia.de, Christine Lübbers)
Wolf Schneider findet, dass sich Blogger mehr Mühe geben und nicht einfach das aufschreiben sollten, was ihnen zuerst in den Sinn kommt.

6. Interview mit André Müller
(diepresse.com, Christian Ultsch)
Der selbst als Interviewer bekannte André Müller gibt ein Interview: “Mich interessiert meine Geliebte, weil von ihr bin ich existenziell abhängig. Sonst interessiert mich als Mensch kaum jemand. Ich mache das Interviewen ausschließlich zum Geldverdienen. Und da muss ich mir Leute aussuchen, die man verkaufen kann.”

Bild  

Der tote “Grand-Prix-Kandidat” von Seite 1

Mark Pittelkau, einer der Chefreporter der “Bild”-Zeitung und sowas wie ihr Grand-Prix-Beauftragter, ist bei dem von Stefan Raab organisierten deutschen Vorentscheid eine unerwünschte Person. Wenn das Blatt bei den Pressekonferenzen von “Unser Star für Oslo” dabei sein will, muss es einen anderen Vertreter schicken.

Das ist nicht gerade förderlich für eine faire oder gar freundliche Berichterstattung in “Bild”, aber die erwarten die Leute um Raab von der Zeitung im Allgemeinen und Pittelkau im Besonderen ohnehin schon lange nicht mehr.

Eine einschneidende Erfahrung liegt zehn Jahre zurück: Damals vertrat Stefan Raab Deutschland beim Song Contest in Stockholm. Einen Tag vor dem Wettbewerb veröffentlichte “Bild” einen Artikel, der laut Raab frei erfunden war. Pittelkau hatte unter anderem behauptet, dass zwei 16-Jährige Mädchen Raab in Stockholm mit den Worten “Hadder denn da wat, un wenn ja, was hadder da” in den Schritt gegriffen hätten und der Moderator zum Frühstück Gummibärchen esse – wegen der Potenz.

Vier Jahre später war Raab wieder beim Grand-Prix, diesmal als Komponist und Mentor von Max Mutzke. Er hatte — im Gegensatz zu RTL, das seine Kandidaten mit Haut und Haaren der “Bild”-Zeitung ausliefert — erkannt, dass er für den Erfolg nicht auf das Wohlwollen und große Schlagzeilen von “Bild” angewiesen ist. Die “Bild”-Zeitung versuchte die Veranstaltung zunächst weitgehend totzuschweigen. Doch dann kam Pittelkaus Kollege Christian Schommers mit einer Enthüllung:

Grand-Prix-Max als Zechpreller überführt

Ein türkischer Hotelier, bei dem er seine Rechnung trotz Mahnungen nicht bezahlt habe, erhebe “schwere Vorwürfe” gegen Mutzke.

Die Geschichte hielt keiner Überprüfung stand: Das vermeintliche Opfer selbst widersprach. Um eine Gegendarstellung zu vermeiden, bot “Bild” nach Angaben von Raabs Management 5000 Euro und freundliche Berichterstattung. Mutzke lehnte ab. Ein Gericht zwang “Bild” dazu, eine lange Gegendarstellung zu veröffentlichen.

Wer “Bild” kennt, weiß, dass ihre Berichterstattung eher von solchen Vorgeschichten und einer Sortierung nach Freunden (Dieter Bohlen) und Feinden (Stefan Raab) bestimmt wird, als von irgendwelchen journalistischen Kriterien.

Insofern ist es auch konsequent, dass das Blatt über die Sendung “Unser Star für Oslo” seit ihrem Start vor sechs Wochen zumindest bundesweit nicht berichtet hat.

Bis gestern:

Mark Pittelkau konnte exklusiv enthüllen, dass ein völlig unbekannter Mann, der sich als einer von Tausenden beim Casting für die Show beworben hatte und dessen misslungenes Vorsingen in einem kurzen Clip bei “TV Total” zu sehen war, im Urlaub in Thailand gestorben ist — für “Bild” die Nachricht des Tages. Online zeigte Bild.de ein Dutzend Fotos des unbekannten jungen Mannes, Urlaubsbilder und Aufnahmen von früheren Auftritten auf irgendwelchen Bühnen, erzählte detailverliebt und tränenreich, dass er auf der Rückreise von einem Urlaub in Australien war, wo er sechs Wochen lang war und einen Freund besucht hatte, der Karim heißt und “vor Jahren Europa den Rücken gekehrt hatte” — zufälligerweise exakt jenes Europa, in dem es einen Schlagerwettbewerb gibt, an dem sein Freund Bobby Donner gerne teilgenommen hätte!

Heute verriet Pittelkau in einem weiteren großen Artikel neue Details über das Drama dieses völlig unbekannten jungen Mannes: Todesursache sei eine verschleppte Herzmuskelentzündung gewesen, die Leiche soll nächste Woche nach Deutschland überführt werden, die Mutter hat schon ein Grab ausgesucht. Daneben auch diesmal wieder ein Foto von Stefan Raab, der Bobby Donner vermutlich nie getroffen hat. “Bild” hat den Toten posthum sogar zum “Grand-Prix-Kandidaten” befördert.

Fast könnte man Mitleid haben mit Mark Pittelkau. Womöglich hat er wochenlang nach Schmutz gewühlt, mit dem er Raab und sein verdammtes Casting bewerfen kann, irgendeine schlimme Geschichte, um den Mann schlecht aussehen zu lassen, wie damals bei Max Mutzke. Und alles, was er gefunden hat, ist, dass einer der viereinhalb Tausenden Bewerber Monate nach dem Vorsingen unter tragischen Umständen im Ausland gestorben ist? Und der Skandal besteht darin, dass der Clip, wie er sich beim Vorsingen blamiert, danach noch einen Tag lang auf den Internetseiten von “TV Total” zu sehen war? (Iinzwischen ist er dort verschwunden, aber stattdessen auf Bild.de zu sehen, was man ironisch finden kann oder konsequent.)

Aber so lächerlich und durchschaubar das Aufblasen dieser Geschichte ist — es ist nicht lächerlich genug, dass anderen Medien sie nicht besinnungslos abschreiben würden. Seiten wie Quotenmeter.de und die Internet-Ableger von “Focus”, “Abendzeitung”, “Hamburger Morgenpost”, “Augsburger Allgemeine” u.v.a. erzählen die Nicht-Geschichte nach. Der Online-Auftritt von “Gala” formuliert: “Kurz vor dem Halbfinale (8. März, 20.15 Uhr, Pro7) von ‘Unser Star für Oslo’ ist einer der Kandidaten der Stefan-Raab-Show gestorben” — als hätte es sich um einen der Kandidaten aus dem Halbfinale (am 9. März) gehandelt, was tatsächlich eine Nachricht gewesen wäre. Selbst dpa hat inzwischen eine Meldung zum Thema veröffentlicht.

So gesehen muss man mit Pittelkau wohl doch kein Mitleid haben. Und immerhin scheint seine Geschichte nicht erfunden zu sein. Das ist doch schon was.

dpa, Nordwest-Zeitung, SZ-Magazin

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Wozu noch Journalismus?”
(stefan-niggemeier.de)
Stefan Niggemeier schreibt über den Zustand des Online-Journalismus in Deutschland. Im Gegensatz zum Text auf sueddeutsche.de ungestückelt und inklusive dem ersten Satz. “Eigentlich müssten La-Ola-Wellen von Journalisten durch das Land schwappen, vor lauter Begeisterung darüber, wie das Internet ihre Arbeit erleichtert und verbessert und ihre Möglichkeiten potenziert hat. Das Gegenteil ist der Fall.”

2. “Bericht über Bundeswehr mit erfundenen Zitaten”
(meedia.de, Daniel Bouhs)
Die dpa trennt sich von einem langjährigen Mitarbeiter, weil dieser zitierte, was niemand je äusserte. “Die Zitate stammten ‘aus Internet-Foren oder waren frei erfunden’.”

3. “In 11 Schritten zum Meinungsmonopol”
(taz.de, Felix Zimmermann)
Felix Zimmermann notiert elf Punkte zum Lokaljournalismus der “Nordwest-Zeitung” in Oldenburg. Punkt 8: “Ignorieren Sie das Internet, Ihre Leser sind eh zu alt dafür. Die NWZ macht’s vor: Zwei Leute stellen die Lokalausgaben ins Netz und bauen Bilderstrecken, zum Beispiel von Autounfällen – das war’s. Setzen Sie auch keine Links, sonst wechseln Ihre Leser ja die Seite!”

4. “Darauf einen Edelobstgeist – das SZ-Magazin”
(blog.dummy-magazin.de, Oliver Gehrs)
“Dummy”-Chef Oliver Gehrs beleuchtet den aktuellen Zustand des Magazins der “Süddeutschen Zeitung”. In den Kommentaren meldet sich Jan Heidtmann zu Wort, der stellvertretende Chefredakteur des Magazins.

5. “Mit Schirrmacher ins Keta-Loch”
(floriansiepert.com)
Florian Siepert schlägt nach dem Plagiatsfall “Axolotl Roadkill” einen vierwöchigen “Zwangsberlinaufenthalt mit allen Schikanen für sämtliche Feuilletonredakteure und Lektoren” vor.

6. “Save the Newspaper!”
(youtube.com, Video, 2:20 Minuten, englisch)
Jesse Brown mit einem leidenschaftlichen Appell zur Rettung der Zeitungen.

Mangelndes All-Wissen

Wann immer die Frage aufkommt, was die Menschheit eigentlich von der Raumfahrt habe, wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das Wort “Teflon” fallen.

Bild.de tat gut daran, in der Auflistung “Diese Nasa-Erfindungen erleichtern uns den Alltag” auf Bratpfannenbeschichtungen zu verzichten, denn bekanntlich wurde das Zeugs schon 1938 entdeckt.

Trotzdem hat Bild.de noch genug hilfreiche Nasa-Erfindungen auftreiben können, um nicht nur einen Aufhänger (Infrarot-Ohr-Thermometer) für den Artikel zu haben, sondern auch gleich noch eine 13-teilige Klickstrecke füllen zu können.

Neun der 13 Objekte finden sich – in der gleichen Reihenfolge – in der Liste “10 NASA Inventions You Might Use Every Day”, die die amerikanische Website HowStuffWorks am 12. Mai 2008 veröffentlicht hat. (Die titelgebende zehnte Erfindung dort ist übrigens das Infrarot-Ohr-Thermometer.)

Zu den vier restlichen “Nasa-Erfindungen” zählt Bild.de unter anderem:

Strichcode: Eine weitere Erfindung, die den Weg vom Mond in die Einkaufszentren geschafft habt, ist der Strichcode. Die Nasa benutzte die schwarz-weißen Streifen, um die Übersicht über die Tausenden Teile nicht zu verlieren. Heute wird der Strichcode bei nahezu allen Produkten verwendet.

Das wäre schon insofern beeindruckend, als das erste Patent für den Strichcode im Oktober 1952 erteilt wurde — gut sechs Jahre vor Gründung der NASA.

Aber die NASA selbst schreibt auf ihrer Website:

Strichcodes wurden nicht von der NASA erfunden. Die NASA entwickelte eine besondere Form des Strichcodes zur Inventarisierung von Space-Shuttle- und anderen Weltraum-System-Komponenten, der harte Umgebungen aushalten konnte, aber dieser sollte nicht mit dem originalen Strichcode verwechselt werden.
(Übersetzung von uns)

Mit Dank an Malte L.

Nachtrag, 27. Januar: Bild.de hat den Strichcode aus der Klickstrecke entfernt (in der Dachzeile steht er noch) und bei Texttafel 12 von 12 ein “Quelle: howstuffworks.com” hinzugefügt.

Bild  

Es ist etwas faul …

Ganz Deutschland diskutiert über Hartz IV.

erklärte “Bild” am vergangenen Freitag mit dem üblichen Understatement und ließ es sich nicht nehmen, einen eigenen Beitrag zur Diskussion zu liefern, der knapp ein Viertel der Titelseite einnahm:

Macht Hartz IV faul?

Diese Frage war für “Bild” ungefähr so rhetorisch wie die, mit denen der große Seite-2-Artikel begann:

Muss es eine verschärfte Arbeitspflicht für Arbeitslose geben, wie Hessens Ministerpräsident Roland Koch fordert? Haben Hartz-IV-Empfänger keine Lust zu arbeiten? Oder lohnt es sich schlicht für viele nicht mehr, überhaupt eine Arbeit anzunehmen?

Gleich drei O-Töne hat die Zeitung eingesammelt (von Arbeitgeber-Präsident Dieter Hundt, CDU-Wirtschaftsexperte Michael Fuchs und FDP-Sozialexperte Pascal Kober), die alle der Meinung zu sein scheinen, dass die Menschen die Lust am Arbeiten verlieren, wenn die Hartz-IV-Bezüge zu hoch sind bzw. jemand, der arbeitet, nicht “wirklich mehr” verdient.

Um dieses “wirklich mehr” zu qualifizieren, hat “Bild” drei Beispielfamilien erfunden und für sie verglichen, was sie als Berufstätige und als Bezieher von Arbeitslosengeld II bekommen. Wenig überraschendes Ergebnis: Laut “Bild” bekommt, wer arbeitet, nur wenig mehr — oder gar gleich weniger — als der vergleichbare Hartz-IV-Empfänger.

Allein: “Bild” rechnet falsch. Der Paritätische Wohlfahrtsverband wirft “Bild” vor, bei den Arbeitnehmern Wohngeld und Kinderzuschlag “systematisch unterschlagen” zu haben. Familien, die so wenig verdienen, hätten darauf allesamt Anspruch und damit durch die Bank rund 500 Euro mehr zur Verfügung als mit ALG II.

“Bild” widersprach, nannte den Vorwurf “grob irreführend” und wies darauf hin, dass jemand, der die “Aufstockung” seines Gehaltes mit Arbeitslosengeld II beantrage, Wohngeld und Kinderzuschlag nicht mehr beantragen dürfe. Was “Bild” aber dabei unterschlägt: Mit diesen zusätzlichen Einnahmequellen erreichen die Beispielfamilien auch ohne diese “Aufstockung” (die ihnen dann ohnehin nicht zustünde) höhere Summen als von “Bild” angegeben. Der Wohlfahrtsverband nennt die Verteidigung von “Bild” daher “wiederum völlig falsch und damit bewusst irreführend”.

“Bild” gibt das Einkommen der Beispielfälle nach den Berechnungen des Wohlfahrtsverbandes um jeweils mindestens 200 bis 250 Euro zu niedrig an. Bei richtiger Berechnung wüchse der Abstand der Einnahmen der arbeitenden Familien gegenüber denen, die nur von Hartz IV leben, auf jeweils rund 500 Euro im Monat.

Doch die “Bild”-Zeitung blieb auch am Samstag ihrer Linie treu: Sie ließ “Betroffene” zu Wort kommen, die erklären, dass sie arbeiten gehen, obwohl sie “läppische 52 Euro mehr” bekommen als ihnen bei Hartz IV zustünden. Passend dazu veröffentlichte das Blatt einen angeblichen Leserbrief mit folgendem Inhalt:

Ich bin 40, Krankenpfleger, Langzeitarbeitsloser aus gesundheitlichen Gründen (Psyche). Ich warte jetzt erst mal die Neuregelungen ab. Nach 10 Jahren lohnt es sich für mich nicht, wieder einzusteigen. Im Juni war ich eine Woche auf Helgoland. Im September und Dezember auf Mallorca. April-Urlaub ist schon gebucht. Also, geht doch!
H. R., Hamburg (E-Mail)

Am Montag dürfen sich Hartz-IV-Empfänger in “Bild” “wehren”:

Dass Hartz-IV-Empfänger “NICHT allesamt faul” seien, hatte Nikolaus Blome aus dem Hauptstadtbüro von “Bild” schon am Freitag in seinem Kommentar geschrieben.

Blome und “Bild” wünschen sich aber offenbar eine Reduzierung der Hartz-IV-Sätze:

Die Ansprüche zu erhöhen, unter dem Strich also mehr Geld für Hartz-IV-Haushalte zu geben, das ist keine Lösung. Sondern das Gegenteil.

Dafür rechnen sie auch schon mal falsch.

Mit Dank an Ceggis, Joachim R., Kristin H. und Andreas.

Blättern:  1 ... 21 22 23 ... 31