So berichtet “Bild” heute über eine Mutter, die ihren Säugling umgebracht und in einem Altkleider-Container abgelegt haben soll. “Bild” zeigt ein unverfremdetes Foto der Frau und nennt die Straße und den Stadtteil, wo sie wohnt.
Die “Bild”-Zeitung tut also das, was sie andauernd in solchen Fällen tut: Sie zeigt, dass der PressekodexunddieSpruchpraxisdesPresserats ihr herzlich egal sind – vom Persönlichkeitsrecht der Mutter ganz zu schweigen.
Die “Süddeutsche Zeitung” hat die Gießener Kriminologin Britta Bannenberg gefragt, wie hoch die Nachahmungseffekte bei Amokläufern sind, und sie hat geantwortet:
Sehr hoch. Auch wegen der Medien, die das Gesicht des Täters, seine Waffen, seine schwarze Kleidung zeigen und ein mystisches Bild von ihm zeichnen. Das wirkt wie ein Vorbild. Bei Selbstmorden sind die Medien sehr zurückhaltend, um nicht Nachahmer zu provozieren. Bei Amokläufen gilt leider das Gegenteil. Ab jetzt besteht die große Gefahr, dass wir es in den nächsten Wochen oder Monaten mit einem Nachahmungstäter zu tun bekommen.
Dieser Gedanke kommt oft zu kurz in den Medien: dass nicht nur Killerspiele möglicherweise eine gefährliche Wirkung auf labile Jugendliche haben können, sondern auch ihre eigene Berichterstattung. Das betrifft nicht nur “Bild”, sondern fast alle Medien. Aber wenn es vor allem wichtig ist, die Täter nicht in einer Heldenpose zu zeigen, hatte “Bild” eine besonders schlechte Idee. Die Zeitung zeigt Tim K., den Amokläufer von Winnenden, in einer Pose, die ihm selbst bestimmt am besten Gefallen hätte. Sie hat sein Gesicht auf das Foto eines Mannes in schwarzer Kampfuniform montiert, die Waffe drohend in Richtung Kamera gerichtet. Das Heldenfoto hat Postergröße, ist fast einen halben Meter hoch:
(Rote Unkenntlichmachung von uns.)
Zusätzlich hat sich der “Bild”-Zeichner ausgemalt, wie das wohl ausgesehen hat in dem Klassenzimmer zwischen Tafel und Overheadprojektor, als Tim K. in seiner schwarzen Rächeruniform gerade ein Mädchen erschoss.
Anders als die “Süddeutsche Zeitung” heute (und Bild.de gestern) nennt “Bild” nicht den Nachnamen des Täters. Und anders als die “Berliner Zeitung” gibt “Bild” auch nicht die exakte Anschrift des Hauses an, in dem seine Familie lebt.
Dafür hat Bild.de ein kleines Familienalbum des siebzehnjährigen Täters im Angebot — nicht weniger als sieben private Fotos, die ihn als kleines Kind und als Jugendlicher zeigen und die vor allem bei Tischtennisturnieren entstanden sind.
Aber die “Bild”-Zeitung hält nicht nur den Täter für eine Person der Zeitgeschichte, sondern identifiziert auch einige seiner Opfer. Sie zeigt vier getötete Mädchen im Alter zwischen 14 und 16 Jahren, ein Gesicht fast lebensgroß, mit Fotos, die offensichtlich von SchülerVZ und ähnlichen Internetseiten entnommen wurden.
Opfer von Unglücksfällen oder von Straftaten haben Anspruch auf besonderen Schutz ihres Namens. Für das Verständnis des Unfallgeschehens bzw. des Tathergangs ist das Wissen um die Identität des Opfers in der Regel unerheblich. Ausnahmen können bei Personen der Zeitgeschichte oder bei besonderen Begleitumständen gerechtfertigt sein.
Nachtrag, 13. März. Eines der vier angeblich toten Mädchen, die “Bild” gestern gezeigt hat, lebt. “Bild” schreibt heute:
Sie wurde zunächst selbst als tot gemeldet – doch Selina lebt! In BILD schildert sie die schlimmsten Minuten ihres Lebens – und den Tod ihrer Schulfreundinnen Chantal und Jana.
1. “Wie man Gesagtes ungesagt macht” (welt.de, Hanns-Georg Rodek)
Obwohl davon gar nichts im Pressekodex steht, greift in Deutschland der Autorisierungswahn um sich: “Antworten werden umgeschrieben, ganze Passagen gestrichen, sogar Fragen umformuliert. Spontane Gefühlsäußerungen werden entfernt, jede Kritik an der Produktion getilgt, und die überraschendsten, aussagekräftigsten Aussagen fehlen plötzlich. Manchmal hätte man das Gespräch gar nicht führen müssen, ein Interviewautomat, der Fragen und Antworten aus Versatzstücken zusammenschustert, hätte genügt.”
2. “So lügt man sich in die eigene Tasche” (blog.persoenlich.com, Roger Schawinski)
Roger Schawinksi glaubt nicht, dass die Grösse der Zeitungsredaktion einen Einfluss auf die Qualität des Inhalts hat. Er lobt die kleine Redaktion der Zeitung Sonntag, deren Recherchen die Internetdienste regelmässig aufnehmen müssen. An den letzten Wirtschaftsprimeur der NZZ hingegen müsse man lange zurückdenken – “das war 1976!”. Sein Fazit: “Die Qualitätszeitung wird nur überleben, wenn sie journalistisches Feuer und Engagement einbringt.”
3. Kommunikativer Sprengsatz Twitter (wirres.net, Felix Schwenzel)
“als die beifahrerin achtlos und stark verschlüsselt twitterete, dass wir überlegten uns aus steuerlichen gründen zu vermählen, wusste kurz danach die gesamte verwandschaft bescheid ohne dass wir auch nur einen einzigen angerufen hatte. ein einziger tweet kann in etwa so effektiv wie 60 minuten am telefon sein.”
Der Presserat hat die “Bild”-Zeitung mal wieder wegen der Verletzung von Persönlichkeitsrechten gerügt. “Bild” hatte im Oktober vergangenen Jahres unter der Überschrift “Das letzte Foto – Drei Stunden später ist dieses Liebespaar tot” über einen Verkehrsunfall berichtet, bei dem drei junge Leute ums Leben kamen. Dazu hatte “Bild” Fotos der Toten veröffentlicht und “über die Unfallopfer mit Vor- und abgekürzten Nachnamen berichtet”, wie der Presserat in einer Pressemitteilung schreibt:
Durch die Veröffentlichung der Bilder und die Namensangaben wurden die Betreffenden eindeutig identifizierbar. Dies verletzt das Persönlichkeitsrecht nach Richtlinie 8.1, Abs. 1.
Laut Richtlinie 8.1 des Pressekodex ist die Presse verpflichtet, “bei der Berichterstattung über Unglücksfälle (…) in der Regel keine Informationen in Wort und Bild” zu veröffentlichen, “die eine Identifizierung von Opfern und Tätern ermöglichen würden.”
Außerdem beanstandete der Presserat eine Fotounterzeile, in der es hieß, eines der Opfer sei “zerquetscht” worden, als “unangemessen sensationelle Darstellung von Gewalt, Brutalität und Leid” gemäß Ziffer 11 Pressekodex.
Anfang Dezember vergangenen Jahres wurde die “Bild”-Zeitung mal wieder vom Presserat gerügt. Die Rüge bezog sich auf die “Bild”-Berichterstattung über einen Flugzeugabsturz in Nepal, bei dem 18 Passagiere ums Leben kamen. “Bild” hatte auf der Titelseite unter der Schlagzeile “12 Deutsche im Flugzeug verbrannt!” ein Foto abgedruckt, auf dem “die verkohlten Leichen” geborgen wurden. Im Innenteil hatte “Bild” zudem mehrere unverfremdete Fotos von insgesamt sechs der zwölf deutschen Opfer gezeigt (siehe Ausriss).
“Bild” hatte die Rüge nicht verstanden, und “Bild”-Chef Kai Diekmann bezeichnete sie in einer Pressemitteilung als “rätselhaft”. Die “Bild”-Berichterstattung hätte “nach allen vom Presserat zu vergleichbaren Fällen kommunizierten Kriterien (…), die BILD vorab sorgfältig bedacht hat”, so Diekmann, “ethisch für unbedenklich gehalten werden müssen” (wir berichteten).
Das war Unsinn. Die Kriterien, die der Presserat bei der Rüge gegen die “Bild”-Zeitung kommuniziert hatte, entsprachen ziemlich exakt denen, die der Presserat zu den vergleichbaren Fällen kommuniziert hatte, auf die Diekmann sich in der Pressemitteilung bezog (wir berichteten).
Gestern druckte “Bild” die “rätselhafte” Rüge ab, wie es ihre Pflicht ist. Sie ist, wie üblich, nicht besonders prominent platziert (siehe Ausriss), aber der Text ist vergleichsweiselang – was daran liegt, dass “Bild” eine “Anmerkung d. Red.” hinzugefügt hat. Wie schon in der Pressemitteilung vom Dezember wird darin der DeutschlandRadio-Intendant Ernst Elitz zitiert. Der fand die “Bild”-Berichterstattung am Erscheinungstag in der öffentlichen Blattkritik nämlich völlig in Ordnung, denn “die Welt ist nun mal so wie sie ist”.
“Bild” hat indes immer noch nicht begriffen, dass sie für die Gesamtberichterstattung über den Flugzeug-Absturz gerügt wurde, weil dadurch laut Presserat “die Gefühle der trauernden Angehörigen verletzt” wurden. “Bild” habe einen “assoziativen Zusammenhang zwischen den Abgelichteten im Innenteil und den anonymen Leichen auf der Vorderseite” hergestellt.
“Bild” behauptet heute beim Abdruck der Rüge unbeirrt etwas anderes:
Nö.
Mit Dank an den Hinweisgeber (wir hätten es sonst übersehen).
Bei der “Bild”-Zeitung ist die Meinung weit verbreitet, dass Angeklagte eigentlich irgendwie auch immer schuldig sind. Entsprechend hat “Bild” kein Problem damit, Angeklagte vor einer Verurteilung vorzuverurteilen. Wie schlecht diese Idee ist, zeigt der Fall “Frank M.”:
Anfang Dezember 2008 stand in der “Bild”-Zeitung eine Geschichte, die wie gemacht war für den Boulevard. Es ging darum, “wie die Thea (14) aus Leipzig einen Sexstrolch fing”. “Bild” berichtete groß und ziemlich eindeutig:
Thea ist erst 14 aber unterschätzen sollte man sie nicht. (…) Mit einem Trick und einer großen Portion Mut überführte sie einen Kinder-Schänder! (…) Der Vorwurf laut Staatsanwalt Michael Höhle: zwischen 2001 und 2007 soll er vier Mädchen (11-12) an ihren intimsten Stellen befummelt haben, darunter seine eigene Tochter.
“Bild” ließ kaum Zweifel daran, dass der vermeintliche “Kinder-Schänder” Frank M. schuldig sei. Zwar ließ sie ihn und dessen Anwalt die Vorwürfe kurz abstreiten (“Alle Vorwürfe sind falsch”, “Was meinem Mandanten vorgeworfen wird, stimmt nicht”), schrieb aber direkt im Anschluss:
Doch die Beweislage lastet schwer. Denn es gibt eine Tonaufzeichnung von einer der Taten des Kinderschänders. Die mutige Thea hat Frank M. damit zur Strecke gebracht!
Detailliert schildert “Bild”, wie “Thea” und ihr Bruder mit einem “Handy-Trick” Frank M. “zur Strecke” brachten:
“Am 13. Januar 2007 lockte er mich zu sich (…)”, erzählt das Mädchen. (…) [Ihr Bruder] sollte sie anrufen, nachdem sie bei Frank M. eingetroffen war. Damit er alles mithören und aufzeichnen konnte. In der Wohnung zog sich Frank M. aus, befummelte die Schülerin. (…) Am anderen Ende der Leitung hörte Theas Bruder alles mit, zeichnete das Gespräch auf. (…) “Dann sind wir mit den Handyaufzeichungen zur Polizei, haben ihn angezeigt”, sagt das tapfere Mädchen.
Anfang Januar sprach das Amtsgericht Leipzig Frank M. von “allen Vorwürfen” des sexuellen Missbrauchs frei.
Das überrascht angesichts der geradezu erdrückenden “Beweislage”, die “Bild” nach dem ersten Verhandlungstag schilderte. Allerdings hatte die mit dem Verlauf der Verhandlung ohnehin nur sehr wenig zu tun.
Was womöglich kein Wunder ist. “Bild”-Autorin Angela Wittig war offenbar einen erheblichen Teil der Verhandlung gar nicht im Saal. So schildert es uns jedenfalls der von “Bild” als “Fummler”, “Sexstrolch” und “Kinder-Schänder” verunglimpfte Frank M.: Der erste Verhandlungstermin habe ein paar Stunden gedauert, die “Bild”-Mitarbeiter seien jedoch nach etwa einer Dreiviertelstunde aus dem Saal gegangen und hätten “Thea” draußen “bearbeitet” und offenbar auch fotografiert (siehe Ausriss oben). Am zweiten Verhandlungstermin im Januar, an dem auch der Freispruch verkündet wurde, sei indes niemand mehr von “Bild” da gewesen.
Und anders als das Gericht, das bereits nach dem ersten Verhandlungstermin den seit 2007 bestehenden Haftbefehl gegen Frank M. aufhob, glaubte “Bild” der “mutigen Thea” offenbar jedes Wort und schrieb das am nächsten Tag ohne jede Distanz auf.
Wäre die “Bild”-Zeitung etwas länger geblieben und hätte der Verhandlung mehr Aufmerksamkeit geschenkt, hätte sie eigentlich mitbekommen müssen, was uns der Anwalt von Frank M., Stephan Bonell, erzählt:
dass auf dem vermeintlichen Handy-Mitschnitt des sexuellen Missbrauchs außer Rauschen nichts zu hören gewesen sei;
dass die Polizei das bereits am Tag, als “Thea” Frank M. angezeigt hatte, festgestellt hatte;
dass die Widersprüche in den Aussagen der Mädchen, die Frank M. sexuell missbraucht haben sollte, so groß gewesen seien, dass das Gericht sie als “unglaubwürdig” eingeschätzt habe.
Laut Frank M. handelt es sich bei den Anschuldigungen um eine pubertäre Racheaktion an ihm und seiner Tochter.
Unabhängig davon zeigt die Urteilsbegründung vom Januar, was das Gericht von den Aussagen der “Opfer” hielt. Zu den Anklagepunkten 4., 5. und 6. (insgesamt waren es sechs), die auf der Aussage von “Thea” beruhten und in denen es jeweils darum ging, wie Frank M. sie und andere Mädchen sexuell missbraucht haben sollte, heißt es unter anderem:
Diese Zeugin ist als völlig unglaubwürdig einzuschätzen, nachdem sie (…) dargelegt hat, dass sie das Tatgeschehen zu 4. frei erfunden habe und sich an das Tatgeschehen zu 5. überhaupt nicht mehr erinnern konnte. Ihre Aussagen (…) besonders auf Punkt 6. bezogen, sind darüberhinaus derart widersprüchlich, dass ihnen nicht gefolgt werden kann. Insbesondere durch die Aussagen ihres Bruders (…), der ohne Umschweife in der Hauptverhandlung kundtat, den Angeklagten in den Knast bringen zu wollen, wurde deutlich, dass dem Angeklagten auch das Tatgeschehen vom 13.01.2007 nicht angelastet werden kann.
Pressekodex:
Richtlinie 13.2 – Folgeberichterstattung
Hat die Presse über eine noch nicht rechtskräftige Verurteilung eines Betroffenen berichtet, soll sie auch über einen rechtskräftig abschließenden Freispruch (…) berichten, sofern berechtigte Interessen des Betroffenen dem nicht entgegenstehen.
Zu den zwei weiteren Zeuginnen (die Tochter von Frank M. hatte die Aussage verweigert), merkt das Gericht an, ihre Aussagen seien “bemerkenswert widersprüchlich” zu vorherigen gewesen.
All das hätte die “Bild”-Zeitung spätestens am 6. Januar bei der Verkündung des Freispruchs zumindest in groben Zügen erfahren können – hätte sie sich die Mühe gemacht, über den Ausgang des Verfahrens zu berichten, wie es ihre Pflicht gewesen wäre (siehe Kasten). Hat sie aber nicht.
Für die “Bild”-Zeitung und ihre Leser ist Frank M. immer noch der “Fummler”, der “Sexstrolch” und der “Kinder-Schänder”.
1. “Sarkozy: 600 Millionen für die Presse” (deuxzero.de)
Der französische Staat greift massiv in den Markt ein und schnürt ein 600-Millionen-Paket für die sterbende Printbranche: “Alles in allem ein typisch französischer Maßnahmenkatalog. Es wird sich zeigen, ob der französische Staat hier sein Geld gut anlegt. Ich könnte mir auch vorstellen, dass die Wettbewerbsbehörde der EU irgendwann einmal anfragt.”
2. Interview mit Albert Stäheli (persoenlich.com, Matthias Ackeret)
Die NZZ wird immer dünner und sie verliert laufend Abonnenten. Der seit einigen Monaten aktive CEO formuliert Qualität als Ziel: “Unser Ziel ist Klasse. Wir müssen uns durch unsere publizistische Leistung abgrenzen, wir müssen den Mut haben, auch zu definieren, wen wir nicht erreichen wollen.”
3. “Welt ohne Verleger” (ftd.de, Matthias Lambrecht)
Bericht von der DLD aus München: “Für Michael Arrington ist die Sache klar: ‘Ich würde niemals zu einer Zeitung gehen, das macht einfach keinen Sinn’, sagt der Macher des Technologie-Blogs TechCrunch. Ihn grusele es bei der Vorstellung, mit den hohen Kosten eines Printmediums operieren zu müssen. ‘Tägliche Nachrichten auf Papier zu bringen, ist schlicht absurd.'”
Im August 1970 erschien das Satiremagazin “Pardon” mit einem 12-seitigen “Extra” zur “Bild”-Zeitung. Den “Pardon”-Machern (darunter Eckhard Henscheid, Wilhelm Genazino, Peter Knorr – und der spätere “Stern”-Redakteur Gerhard Kromschröder, der wie Günter Wallraff u.a. mit Undercover-Reportagen für Aufsehen und Skandale sorgte und dem wir es verdanken, überhaupt von diesem “Pardon Extra” erfahren zu haben) ging es in ihrem “Sonderdruck” vorrangig darum, humorvoll und doch ernsthaft “Bild” auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen und “BILD-Lügen” zu entlarven; ungefähr das also, was – knapp 40 Jahre später – auch wir versuchen…
Wir dokumentieren (mit herzlichem Dank an Kromschröder!) jeden Tag eine der “BILD-Lügen” aus dem “Pardon” von damals.
Es scheint, als hätte sich über die Jahre bei “Bild” nicht wirklich viel geändert…
In der Nacht vom 17. zum 18. Juli 1970 wurde in Magstadt bei Sindelfingen (Württemberg) das Grab des zwei Tage vorher beerdigten Rentners Anton Lauster, Mitglied einer ortsansässigen Zigeunergruppe von Unbekannten geöffnet. Aus dem Sarg wurde eine goldene Uhr gestohlen. Ursache der Leichenfledderei war ein Artikel, der am 17. Juni in der BILD-Zeitung erschienen war. Überschrift:
Im Zigeunergrab liegen 45 000 Mark
BILD hatte berichtet, im Grab des “Zigeunerbarons” Lauster befänden sich nach dessen testamentarischem Willen außer den 45 000 Mark Bargeld auch noch Schmuck im Wert von 15 000 Mark, das Bett, in dem Lauster gestorben sei, und sein Lieblingsmantel aus Schafsfell.
Dazu Magstadts Bürgermeister Bohlinger, der alle rechtlichen Angelegenheiten der Familie Lauster betreute und also auch das Testament kannte: Im Grab waren lediglich der Mantel des Toten, ein Ring, zwei Kissen und eine Uhr.
Bohlinger weiter: Rentner Lauster, Vater von 11 Kindern zwischen 3 und 22 Jahren, habe keineswegs über die Geldsummen verfügt, die man ihm angedichtet habe. Es sei völlig absurd, daß er so viel Geld mit ins Grab genommen habe.
Die Witwe des Verstorbenen hatte schon am 17. Juli – noch vor der Grabschändung – gegen die BILD-Zeitung eine Zivilklage wegen Verleumdung und wegen Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener eingereicht.
Ein Sohn des Verstorbenen nach der Grabschändung: “Hier in der Gegend weiß jeder, daß wir so viel Geld nicht haben.”
Urheber des Berichts, der zu der Leichenfledderei geführt hat, ist das mit BILD zusammenarbeitende Pressebüro Teichmann aus Stuttgart.
Teichmann auf Anfrage von PARDON, woher er seine Informationen bezogen habe: “Das Gerücht geht durch die Straßen von Magstadt.”
Nach der Grabschändung, am 20. Juli, veröffentlichte BILD eine Richtigstellung (siehe Faksimile), die für den Uneingeweihten als solche nicht erkennbar ist.
Der BILD-Chef von Baden-Württemberg, Reinhold Stimpert, auf den BILD-Türken angesprochen:
“Was soll’s? Das gibt allenfalls ‘ne Rüge vom Presserat”.
Lesen Sie morgen: “Bild” über eine Autopanne mit Folgen – und was der ADAC dazu sagte. Die BILDblogger sind derweil – wieüblich – noch im Winterschlaf.
1. “Die ‘Wanze’ im Nationalratssaal” (medienspiegel.ch, Peter Studer)
Für eine Hintergrundreportage wird bei den Bundesratswahlen ein Parteipräsident mit einem Ansteckmikrophon ausgestattet. Weil er damit den Parlamentssaal betritt und andere Parlamentarier und Medienleute, die darüber nur zum Teil informiert sind, aufnimmt, sieht sich das Schweizer Fernsehen und sein “Hilfsreporter” Klagen gegenüber. Peter Studer, ehemaliger Chefredaktor des Schweizer Fernsehens und ehemaliger Präsident des Schweizer Presserats, klärt über die rechtliche Lage auf.
2. “ZDF wirbt in ‘Vanity Fair’ für vergangene Sendungen” (dwdl.de, Thomas Lückerath)
“In der neuesten Ausgabe der ‘Vanity Fair’ wirbt das ZDF mit ganzseitiger Anzeige für zwei Fernsehsendungen, die vor dem Erscheinungstag der Zeitschrift ausgestrahlt wurden. Was ist da denn schief gelaufen? “
3. Interview mit Dieter Wedel (tagesspiegel.de, Thomas Eckert und Joachim Huber)
Regisseur Dieter Wedel fordert mehr Bissigkeit: “Ich finde, die Definition von Erfolg muss bei den öffentlich-rechtlichen Sendern eine andere sein als bei den Privaten. Für die kann nur die Quote der einzige Maßstab sein, Öffentlich-Rechtliche sollten auch dafür sorgen, dass den Zuschauern nicht die Zähne ausfallen. Immer nur Breichen macht das Gebiss kaputt. Es muss auch mal kräftig gekaut werden. Wenn er zu faul dazu ist, muss man den Zuschauer dazu zwingen, sonst haben wir irgendwann ein zahnloses Publikum. Wenn es denn nicht schon so weit ist.”
Seit einiger Zeit versteckt die “Bild”-Zeitung die Rügen, die der Presserat gegen sie ausspricht, nicht mehr möglichstunauffälligimBlatt, sondern widersprichtlieberlautstark – beweist darin aber deutlich weniger Geschick.
Aktuell sieht sich die “Bild”-Zeitung ja zu Unrecht für ihre drastische Berichterstattung über einen Flugzeugabsturz in Nepal gerügt. Deshalb gab die Axel Springer AG gestern eine Pressemitteilung heraus. “Bild”-Chef Kai Diekmann bezeichnet die Rüge darin als “rätselhaft”, berief sich auf frühere Entscheidungen des Presserats, schien aber gar nicht begriffen zu haben, warum “Bild” eigentlich genau gerügt wurde (wir berichteten).
Der Presserat sah sich daraufhin genötigt, heute seinerseits eine Pressemitteilung herauszugeben, in der er Diekmanns Kritik “entschieden zurück” weist:
Die Rüge für die Abbildung von verkohlten Leichen auf der Titelseite der Zeitung – insbesondere in Verbindung mit Porträtfotos von Absturzopfern im Innenteil – liegt auf einer Linie mit der bisherigen Spruchpraxis des Presserats. Dies zeigen die Entscheidungen des Selbstkontrollgremiums zu Beschwerden über die Veröffentlichung von Fotos vom Concorde-Absturz und der Tsunami-Katastrophe, in denen ebenfalls gerügt bzw. missbilligt wurde.
Damit geht der Presserat explizit auf eine Passage aus der gestrigen Springer-Pressemitteilung ein, in der Diekmann sich so zitieren ließ:
“Nach allen vom Presserat zu vergleichbaren Fällen kommunizierten Kriterien – siehe ‘Stern’ und ‘Spiegel’ zum Concorde-Absturz und Tsunami –, die BILD vorab sorgfältig bedacht hat, hätte diese Veröffentlichung ethisch für unbedenklich gehalten werden müssen.”
Wie sorgfältig “Bild” insbesondere die Begründung des Presserats etwa zur Rüge für die Concorde-Berichterstattung des “Stern” bedacht hat, wird deutlich, wenn man sich anschaut, welche Kriterien der Presserat im Jahr 2000 in seiner Entscheidung kommuniziert hat:
Unter der Überschrift “Die Tragödie – Das Leben geht weiter” zeigt [der “Stern”] die Stelle in Paris, an der am 25. Juli 2000 eine Concorde-Maschine der Air France abgestürzt ist. Das Farbfoto veranschaulicht das Grauen auf dem Trümmerfeld und die Bergungsarbeiten nach der Katastrophe. So sind auf dem doppelseitigen Bild verkohlte Leichen zu sehen. Am rechten Rand der Seite sind die Fotos zweier Ehepaare und eines Mannes eingeblockt, die sich an Bord der Unglücksmaschine befanden. (…)
Der Presserat (…) erteilt der Zeitschrift eine öffentliche Rüge. (…)
Die eingeblockten Fotos der Absturzopfer stellen einen optischen und assoziativen Zusammenhang zwischen den Abgelichteten und den anonymen Leichen her. Das verletzt zumindest die Würde der trauernden Angehörigen.
Zur Erinnerung hier nochmal die Begründung der aktuellen Rüge gegen die “Bild”-Zeitung:
Durch den assoziativen Zusammenhang zwischen den Abgelichteten im Innenteil und den anonymen Leichen auf der Vorderseite wurden die Gefühle der trauernden Angehörigen verletzt.
Was auch immer Kai Diekmann daran nicht verstanden hat – es scheint ein grundsätzliches Problem zu sein.