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Das wird man ja wohl noch zeigen dürfen!

Die “Bild”-Medien trommeln heute mal wieder kräftig in eigener Sache.

“Das bringt nur BILD”, so lautet der Slogan der großen PR-Kampagne, deren ganzer Wahnsinn sich schon an diesem Video erahnen lässt:

Die Kampagne findet, wie der Axel-Springer-Verlag verkündet:

auf allen analogen und digitalen Kanälen statt. Sie beinhaltet Print- und Online-Motive, Out-of-Home-Plakate und -Kurzvideos, einen Kino- und TV-Spot sowie verschiedene Funk-Spots.

Und auf redaktioneller Ebene das hier:

Eine (nicht ganz neue) Aktion, mit der das Blatt heute viel Aufmerksamkeit erregt hat. „Bild“ schreibt:

Wir wollen damit zeigen, wie wichtig Fotos im Journalismus sind. Und dass es sich lohnt, jeden Tag um das beste Foto zu kämpfen!

Denn Fotos können beweisen, was Mächtige verstecken wollen. Sie wecken Emotionen in uns. Sie zeigen schöne Momente, aber auch grausame. Sie lassen uns mit anderen Menschen mitfühlen. (…)

Darum steht BILD immer wieder für die Veröffentlichung umstrittener Fotos ein – oft gegen harte Widerstände. Die Welt muss die Wahrheit sehen, um sich zu verändern.

So etwas sagen die Menschen von „Bild“ gern, wenn es um die „Veröffentlichung umstrittener Fotos“ geht. Man müsse die Wahrheit „ungeschönt“ zeigen, man müsse die Geschichten und Gesichter der Opfer (und Täter) abbilden, um „die Tragik“ eines Ereignisses „fassbar“ zu machen.

In den meisten Fällen geht es dann aber nicht um solche Fotos, die „Bild“ in dem Artikel als Beispiele anführt — das des Mädchens, das im Vietnamkrieg vor einer Napalm-Wolke flieht und das des ertrunkenen Flüchtlingsjungen am Strand von Bodrum, bei denen es tatsächlich nachvollziehbare Gründe für eine Veröffentlichung gibt –, sondern um Fotos, die nicht als Symbolbilder um die Welt gegangen sind. Fotos, auf denen Menschen hilflos sind oder trauern oder sterben, Fotos von Menschen, die Schlimmes getan haben oder die nur zufällig Teil eines tragischen Geschehens wurden, über das die „Bild“-Zeitung unbedingt unverpixelt berichten muss.

Solche Fotos:

Oder solche:

Oder solche:

So sieht der Umgang mit „umstrittenen Fotos“ bei der „Bild“-Zeitung tagtäglich aus: „Mutig“ und „ungeschönt“, trotz all der „harten Widerstände“ durch den politisch korrekten Verpixelungswahn dieser Gutjournalisten. Alles im Sinne der „Wahrheit“. Und letztlich im Sinne der „Schwachen“, wie „Bild“-Online-Chef Julian Reichelt erklärt:

Diese BILD-Ausgabe ohne Fotos ist eine Verneigung vor der Kraft der Fotos. Ohne Fotos wäre die Welt noch ignoranter, wären die Schwachen verloren, unsichtbar. Ohne Fotos blieben viele Verbrechen nicht nur ungesühnt – sie würden nicht einmal erinnert. Fotos sind der Aufschrei der Welt.

Und wer meint, die „Bild“-Zeitung mache die Opfer eines Unglücks oder Verbrechens zum zweiten Mal zu Opfern, wenn sie irgendwo private Fotos von ihnen auftreibt oder Fotos, auf denen sie blutüberströmt auf der Straße liegen, und diese dann groß und unverpixelt und ohne Erlaubnis abdruckt, der irrt natürlich gewaltig:

Immer wieder – auch jetzt – hören wir die Forderung, Fotos gar nicht oder nur verpixelt zu zeigen, weil sie menschliches Leid zu drastisch dokumentieren, weil sie Menschen „ihre Würde nehmen“ würden.

Dieses Argument übersieht immer wieder den wichtigsten Punkt: Nicht das Foto stellt die würdelose Situation her, sondern der Krieg oder die Ignoranz der Politik oder unsere Feigheit davor einzuschreiten. Das Foto dokumentiert bloß die Welt. Die Welt ist nicht verpixelt. Wir haben kein Recht darauf, es uns leicht zu machen, wenn Unrecht geschieht. Wir müssen uns zwingen hinzusehen. Der Schmerz, den wir beim Anblick von Leid empfinden, hat nicht das leiseste Recht, sich gleichzumachen oder auch nur zu vergleichen mit dem Schmerz der Abgebildeten.

Der Gedanke, dass auch die Abgebildeten Rechte haben, das Recht am eigenen Bild zum Beispiel, und dass eine Verletzung dieser Rechte ebenfalls Schmerz auslösen kann, ist Julian Reichelt bei seiner Argumentation wohl nicht gekommen, aber er hat ja auch schon genug damit zu tun, sich ständig um die Angehörigen der Abgebildeten zu sorgen:

Das twitterte der Bild.de-Chef vor ein paar Wochen, kurz nachdem die Leiche eines entführten und ermordeten Mädchens entdeckt worden war.

Und weil Reichelt und sein Team den Angehörigen mit einer möglichst unverpixelten Berichterstattung ja im Grunde nur helfen, dokumentieren sie seither akribisch die grausamen Details des Verbrechens, zeigen die Fotos, auf denen das Mädchen in einem Leichensack weggetragen wird, veröffentlichten ihre Todesanzeige und mehrere Fotos von ihrer Beerdigung, fotografierten ihr Grab aus verschiedenen Perspektiven und präsentieren konsequent in jedem Artikel mindestens ein Bild von ihr ohne jede Unkenntlichmachung, „mutig“ und „ungeschönt“ eben, denn es geht ja um die Wahrheit und darum, das Leid „fassbar“ zu machen.

Fotos von Verbrechensopfern, von Leichen, von Menschen, die ums Überleben kämpfen, die von Geiselnehmern oder Vergewaltigern erniedrigt werden, all das zeigt die Zeitung, aber schließlich ist sie ja auch der Chor des Lebens!

So wie es in der griechischen Tragödie des Chors bedarf, der das, was der Zuschauer sieht, beweint, braucht das Leben, braucht das Land jemanden, der es beklagt und besingt.

BILD ist dieser Chor.

… trällert Alexander von Schönburg heute in seinem Beitrag zur „Bild“-Eigen-PR-Kampagne, in dem er vor allem den „einzigartigen Erfolg“ von “Bild” besingt.

BILD zielt nicht nur auf den Verstand, sondern tiefer. Aufs Herz.

Insofern hat BILD die Kernidee seines Gründers doch bewahrt. Er schuf eine Zeitung, die unmittelbarer mit dem Leser kommuniziert.

Ein Beispiel:

Jede Zeitung der Welt druckte das Foto von Willy Brandts historischem Kniefall 1970 in Warschau. Aber nur in BILD wurde beschrieben, wie ihm Tränen in die Augen schossen.

Gut, und in der “Süddeutschen Zeitung”.

Ein Alleinstellungsmerkmal gab’s damals aber dennoch: Nur der damalige Chefredakteur von „Bild“ polterte kurz nach dem Kniefall:


Aber das erwähnt Alexander von Schönburg in seiner „Bild“-Hymne natürlich genauso wenig wie die spätere Verwendung des Kniefall-Fotos durch “Bild” – und hebt stattdessen zum großen, schleimigen Finale an:

Durch ihre Zeilen gibt BILD den Fotos emotionale Kraft. Aber ohne diese Fotos ist BILD nicht mehr BILD.

BILD ist täglich erlebte Geschichte. Weil sie Geschichte fühlbar macht.

Und weil Mitfühlen so ziemlich das Menschlichste ist, dessen wir fähig sind, ist BILD eben in allererster Linie vor allem das – menschlich.

Aus der Veröffentlichung von Leichenfotos einen Beleg für die eigene “Menschlichkeit” zu basteln — stimmt: Das bringt tatsächlich nicht jeder.

Mit Dank an alle Hinweisgeber!

Siehe auch: Die Bild zeigt keine Fotos — wie schön! (Jonas Jansen auf medium.com)

“Bild” ohne Bilder, Germanwings, Pressefreiheit in der Türkei

1. Die Bild zeigt keine Fotos — wie schön!
(medium.com, Jonas Jansen)
Die “Bild”-Medien zeigen heute den ganzen Tag lang keine redaktionellen Fotos. Jonas Jansen findet, dass die Aktion nicht nur zeigt, wie wichtig Bilder sind  — “sondern auch, wie skrupellos die BILD sonst operiert”. Er präsentiert Beispiele, bei denen die Zeitung plötzlich auf jene Persönlichkeitsrechte achtet, die ihr vorher noch egal waren.

2. Presserat: Germanwings Co-Pilot durfte genannt werden
(horizont.at, Timo Niemeier)
Ein halbes Jahr nach dem Absturz der Germanwings-Maschine hat der österreichische Presserat ein medienethisches Urteil gefällt. Demnach war die Namensnennung des Co-Piloten rechtens, die Veröffentlichung der Bilder von trauernden Angehörigen verletze aber den Ehrenkodex. Ähnlich hatte im Juni bereits der deutsche Presserat entschieden.

3. “Man wartet immer bis zur Katastrophe”
(ostpol.de, Stefan Günther)
Die Fotografin Merlin Nadj-Torma besuchte bereits 2011 und 2012 ein illegales Flüchtlingscamp an der ungarisch-serbischen Grenze und ist nun wieder dorthin zurückgekehrt. Im Interview mit Stefan Günther spricht sie darüber, wie in Serbien zum Thema berichtet wird, wie sie die Berichterstattung in Deutschland sieht und wie die Flüchtlinge die Berichterstattung über sich selbst wahrnehmen. Siehe dazu auch: Der “innere Ausnahmezustand” von “taz”-Redakteur Marin Kaul am Bahnhof Budapest-Keleti.

4. Informieren aus Verantwortung
(blog.tagesschau.de, Christian Nitsche)
Hunderttausend geflüchtete Menschen wollen nach Deutschland, das ist eine außergewöhnliche Herausforderung. “Außergewöhnlich ist auch, dass Tagesschau, Tagesthemen und tagesschau.de über viele Tage einem Thema fast alle Berichte widmen”, schreibt Christian Nitsche. Angesichts der “Komplexität, Vielschichtigkeit und Bedeutung des Flüchtlingsthemas” hält er das aber für gerechtfertigt. Denn nicht nur Bürger, Verwaltungen und Politik seien gefordert, “auch die Medien tragen Verantwortung, wie mit dieser besonderen Situation umzugehen ist.”

5. Open letter to President Erdogan
(pen-international.org, englisch)
Die internationale Autorenvereinigung “pen” hat einen offenen Brief an Türkeis Präsident Erdoğan geschrieben und beklagt darin “the current crackdown on freedom of expression in Turkey”. Erst vor Kurzem waren zwei britische “Vice”-Journalisten und ihr Übersetzer in der Türkei verhaftet worden. Die beiden Reporter sind inzwischen wieder frei, ihr Übersetzer befindet sich noch in Haft.

6. Wie ich daran scheiterte, bei “Hart Aber Fair” Fotos zu machen
(buzzfeed.com, Philipp Jahner)

Ist es in Ordnung, das tote Flüchtlingskind zu zeigen?

Wenn Sie in den letzten Stunden im Internet unterwegs waren, haben Sie dieses Foto wahrscheinlich gesehen: Ein dreijähriger Junge liegt leblos am Strand, das Gesicht halb im Wasser. Er ist ertrunken, als seine Familie mit ihm nach Europa flüchten wollte.

Viele Medien zeigen das Foto seit gestern Abend, vor allem in Großbritannien und Griechenland, aber auch hierzulande, wo es etwa auf FAZ.net und Handelsblatt.com zu sehen ist.

Und natürlich in “Bild”. Es erschien heute auf der letzten Seite der „Bild“-Zeitung …

… auf der Startseite von Bild.de …

… und auf so ziemlich allen anderen Kanälen:






Wir bekommen seit gestern viele Mails dazu, viele Leser sind “zutiefst schockiert” darüber, dass “Bild” und andere Medien das Foto zeigen.

Doch ähnlich wie bei dem vor Kurzem veröffentlichten Foto der Flüchtlinge, die in einem Lkw in Österreich erstickt sind, sind wir uns nicht sicher, was wir davon halten sollen. Ist es in Ordnung, das Foto zu veröffentlichen? Oder sollte man es lieber verpixeln? Oder ganz darauf verzichten? Wir wissen es nicht. Fühlen uns aber deutlich wohler dabei, wenn wir es hier bei uns unkenntlich machen.

Auch der Deutsche Presserat konnte uns heute noch keine abschließende Einschätzung zu dem Fall geben. Er verweist auf die Ziffern 1 (Achtung der Menschenwürde) und 11 (Sensationsberichterstattung) des Pressekodex und erklärt, man müsse immer abwägen zwischen dem öffentlichen Informationsinteresse auf der einen und dem Schutz der Menschenwürde und der Persönlichkeit auf der anderen Seite. Zum Foto des toten Jungen seien bislang zwölf Beschwerden eingegangen, zehn davon gegen “Bild”.

Damit Sie sich selbst ein Bild machen können, haben wir einige Debatten-Beiträge gesammelt. Wir werden die Liste im Laufe des Tages ggf. erweitern. Sachdienliche Hinweise wie immer gerne an [email protected].

***

Achtung: In einigen der Artikel sind die Fotos unverpixelt zu sehen. Diese Artikel haben wir mit einem * gekennzeichnet.

Presseschauen zum Thema finden Sie unter anderem auf neues-deutschland.de* und bei der „New York Times“*.

Was uns der tote Junge von Bodrum lehrt
(sueddeutsche.de, Stefan Plöchinger)
Stefan Plöchinger, Chefredakteur von sueddeutsche.de, entschied sich mit seinem Team gegen die Veröffentlichung des Fotos: “Zeigen oder nicht? Ist es tatsächlich so, dass Menschen dem Tod erst ins Auge sehen müssen, um das tödliche Potenzial politischer Entscheidungen zu verstehen? Reichen nicht Worte wie zu Beginn dieses Artikels, um begreifbar zu machen, was vor jenem Strand passiert ist, was an vielen Orten gerade vielen Menschen passiert?”

*Hinsehen!
(handelsblatt.com, Rüdiger Scheidges)
Der Internetauftritt des “Handelsblatts” zeigt gleich mehrere Fotos, Autor Rüdiger Scheidges fordert seine Leser auf hinzusehen: “Doch was Berichte und Erzählungen wohl nie schaffen, das bewirkt ein solches Bild, das uns jetzt so sehr schockt. Das Dokument der uns umgebenden Wirklichkeit zeigt uns nämlich aufs drastischste, dass dieser kleine Mensch in seinem hochgerutschten roten T-Shirt, seiner Jeanshose, den kleinen Turnschuhen und seinem zusammengepressten kleinen Händchen einer von uns ist. ”

Endet die professionelle Distanz an einer Wasserleiche
(udostiehl.wordpress.com, Udo Stiehl)
Der Journalist Udo Stiehl fragt mit Blick auf den Pressekodex: “Rechtfertigt es die besondere Nähe und Emotionalität zum Thema, dass plötzlich Bilder einer Kinderleiche die journalistischen Grundsätze und die professionelle Distanz verpuffen lassen? Gilt Ziffer 9 nicht mehr? […] Haben tote Flüchtlingskinder, die am Strand angespült werden, jetzt etwa keine Ehre und Würde mehr? Es steckt sicher eine gute Absicht dahinter, in Verbindung mit dem Foto an die Politik zu appellieren, sichere Zufluchtswege zu schaffen. Aber dazu sollte keine Kinderleiche instrumentalisiert werden.”

Ein Foto, das die Welt erschüttert
(ksta.de)
Der “Kölner Stadtanzeiger” hat eine kurze Presseschau zum Abdruck des Fotos veröffentlicht und diesen Hinweis angehängt: “Unsere Redaktion hat sich in diesem Fall dazu entschlossen, das Foto nur im Anschnitt zu zeigen, damit Sie als Leser selbst entscheiden können, ob Sie sich die Aufnahme ansehen wollen.”

*Das traurigste Foto der Welt: #Kiyiya wird zum Symbolbild der Flüchtlingskrise
(meedia.de, Alexander Becker)
“Meedia” findet, das Foto könne “tatsächlich etwas bewegen. Es erinnert in seiner brutal emotionalen Symbol-Kraft an das berühmte Foto des jungen Mädchens, dass während des Vietnamkrieges vor einer Napalm-Wolke floh. Die Kraft eines solchen ikonischen Bildes kann man nicht hoch genug einschätzen.”

Am Strand
(friedemannkarig.de, Friedemann Karig)
Der Journalist Friedemann Karig wägt ab zwischen “Pictorial Turn” und “verwerflichem Ausschlachten der letzten Würde”. Letztlich sei er unentschlossen: “Wenn wir das Bild eines ertrunkenen Kindes brauchen, um Menschen nicht ertrinken zu lassen, dann kommt jede Ethik zu spät. Wenn die selbsterfüllende Prophezeiung vieler Medien eintrifft, dass dieses eine Bild ein Umdenken auslöst, dann hat sich die Medienethik selbst abgeschafft. Wenn es wirklich Leben rettet, dann bitte, druckt es, teilt es, plakatiert es, schickt es ins Weltall. Aber dann haben wir wohl ein ganz anderes Problem als dieses Bild.”

Bilder des Grauens
(djv.de, Hendrik Zörner)
Für Hendrik Zörner vom Deutschen Journalisten-Verband steht das Foto in der Reihe jener Bilder, “die ein Ereignis von historischer Tragweite zeigen, die es emotional begreiflich machen, die mehr als tausend Worte sagen. Das waren die Leichenberge in den befreiten Konzentrationslagern 1945, die nackten, weinenden Kinder mit herunter hängenden Hautfetzen nach einem Napalm-Angriff in Vietnam, das brennende World Trade-Center am 11. September 2001 in New York. Und das ist seit gestern der ertrunkene dreijährige Junge, angespült an einen türkischen Strand, der zum Symbol für die Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer geworden ist.”

Totes Kind am Strand: Warum wir das Foto nicht zeigen
(merkur.de)
Die Onlineredaktion des “Merkur” zeigt das Foto nicht und schreibt: “Wir sagen nicht, dass es falsch ist, dass andere Medien das Foto zeigen. Aber wir haben uns nach kontroversen Diskussionen in unserer Redaktion dagegen entschieden. Der Hauptgrund ist, dass wir uns nicht wohl dabei fühlen, ein totes Kind in aller Deutlichkeit zu zeigen. Zudem sollte jeder selbst entscheiden, ob er dieses traurige Bild sehen möchte oder nicht. Wie schlimm das Flüchtlingsdrama ist, weiß jeder aus den vielen, vielen Berichten auch auf unserem Portal. Und wir werden weiterhin ungeschönt darüber berichten. Aber ohne einen toten Buben zu zeigen.”

Das Bild des toten Ailan – ein medienethischer Kommentar
(netzwerk-medienethik.de, Alexander Filipovic)
Alexander Filipovic erkennt vier Werte bzw. Argumente, die (zum Teil) in Konkurrenz miteinander stehen: Die “Würde des Jungen”, der “Schutz der LeserInnen”, die “journalistische Pflicht zur Berichterstattung” und “Menschen aufrütteln wollen”. Seine Abwägung: “Ich würde das Foto nicht bringen und halte das Vorgehen von, zum Beispiel, Kölner Stadtanzeiger und sueddeutsche.de für beispielhaft. Hier wird deutlich, dass reflektiert und abgewogen wurde und diese Überlegungen wurden publiziert. Und es werden Möglichkeiten angedeutet oder gezeigt, wie das Foto angeschaut werden kann, so dass jeder in Kenntnis von dem, was abgebildet wird, selber entscheiden kann, ob er oder sie es sich anschaut.”

*Zweifelhafter Betroffenheitskult
(nzz.ch, Rainer Stadler)
Bei Rainer Stadler hinterlässt der massenweise Abdruck des Fotos einen “bitteren Geschmack”: “Die Massenmedien kaschieren ihren Voyeurismus mit einem Betroffenheitskult, dessen Legitimation sie neuerdings daraus ableiten, dass die ohnehin an chronischer Hysterie leidenden sozialen Netzwerke wieder einmal in besonders starke Erregung geraten sind. Man reagiert auf ein angebliches Marktbedürfnis. Doch die Mediengesellschaft schaut nur in den Spiegel und sieht sich selber. Die kurzlebigen Bekundungen von Betroffenheit sind letztlich ebenso sehr ein soziales Zeichen für Abgestumpftheit und ein allgemeines Desinteresse am Geschehen auf diesem Globus. Das moralische Bewusstsein scheint erst jetzt zu erwachen, da das Flüchtlings- und Migrationsdrama näher rückt und bereits in unseren Hinterhöfen und Strassen sichtbar wird.”

*Diskussion um Foto eines toten syrischen Jungen in der “Bild”
(tagesspiegel.de, Markus Ehrenberg)
Der “Tagesspiegel” (der ein Foto zeigt, auf dem das tote Kind weggetragen wird) hat die Nachrichtenagentur dpa zum Thema befragt: “dpa gab das Foto verpixelt heraus. ‘Zuerst einmal: Dieses Foto hat uns in der dpa-Redaktion auch schockiert. Gerade auch Tote haben aber eine Würde’, sagt dpa-Chefredakteur Sven Gösmann. ‘Daher haben wir uns dafür entschieden, es vorerst nur gepixelt aufzulegen. Unsere Kunden können es aber auch unverpixelt bestellen beziehungsweise eine Perspektive, in der das Kind nicht so im Zentrum des Bildes steht.’ Bisher habe es jedoch keine Anfragen in dieser Richtung gegeben. ‘Wir sind der Überzeugung, dass auch die Visualisierung menschlichen Leids zur journalistischen Grundversorgung durch die dpa gehört’, so Gösmann weiter. ‘Wir bemühen uns aber in steter Einzelfallabwägung darum, dabei die Würde von Opfern und auch die Gefühle von Nutzern unserer Produkte zu berücksichtigen.'”

Foto mit Kinderleiche zeigen? “Abwägung von Menschenwürde”
(derstandard.at, Oliver Mark)
Politikwissenschaftlerin Petra Berhardt sagte dem “Standard” (der das Foto nicht zeigt), die Abwägung sei auch eine Frage der “ethischen Selbstpositionierung”. Es mache einen Unterschied, “ob ein Bild aufs Cover kommt und somit kein Wegsehen möglich macht oder ob es zum Beispiel online hinter einer ‘graphic content warning’-Schranke abrufbar ist, wo das Publikum selbst entscheiden kann, ob es das Bild sehen will oder nicht.”

Wegsehen wäre die schlimmste Entwürdigung
(kress.de, Heike Rost)
Die Journalistin Heike Rost hat sich gestern dezidiert dafür ausgesprochen, das Foto zu zeigen. Es gehöre “zur Aufgabe von Journalismus, die Seelenruhe von Lesern zu stören”, auch wenn es “unbequem” und “schwer erträglich” sei. “Die Geschichte des Journalismus belegt immer wieder, vom Vietnam-Krieg über 9/11 und den Boston-Marathon bis zu den Erdbeben von Haiti und Japan: Es waren Bilder, die Menschen zutiefst berührten. Und zu Veränderung und Handeln bewogen. (…) Wegsehen bewegt nichts. Und für die Opfer dieser Kriege und Katastrophen wäre genau das die wohl schlimmste Entwürdigung.”

Journalismus und die Schock-Bilder
(presseverein.ch, Janosch Tröhler)
Janosch Tröhler vom Zürcher Presseverein weist auf die “Click-To-View”-Möglichkeit hin: “Die Diskussion ‘Zeigen vs. nicht zeigen’ beschränkt sich tatsächlich auf den Printjournalismus. Doch die digitalen Kanäle bieten die Möglichkeit, die Entscheidung, ob man das Foto sehen möchte oder nicht, den Lesern zu überlassen. Das ist auch die technische Lösung, verantwortungsvollen Journalismus zu machen, der nichts auslässt, aber auch auf billigen Voyeurismus und beim sensiblen Rezipienten keinen Schock auslöst.”

“Die fortgespülte Menschlichkeit”
(detektor.fm, Audio)
detektor.fm hat sich mit dem Fotografen Martin Gommel unterhalten, der selbst schon aus Krisengebieten berichtet hat. Der meint, ethisch bedenklich sei nicht das Zeigen des Fotos, „sondern ethisch bedenklich ist, dass Kinder auf dem Mittelmeer sterben“. Gommel hält es für wichtig, ein solches Bild zu zeigen, weil es uns vor Augen führe, „dass das ganze Thema eine sehr, sehr konkrete Seite hat, die eben Menschenleben kostet“.

***

Zur Geschichte der Familie:
*Family of children found on Turkish beach were trying to come to Canada
(ottawacitizen.com, Terry Glavin)
Die Familie des ertrunkenen Jungen hatte offenbar seit längerer Zeit versucht, nach Kanada zu kommen. Terry Glavin hat all ihre Anstrengungen nachrecherchiert: “Teema, a Vancouver hairdresser who emigrated to Canada more than 20 years ago, said Abdullah and Rehan Kurdi and their two boys were the subject of a ‘G5’ privately sponsored refugee application that was rejected by Citizenship and Immigration in June, owing to the complexities involved in refugee applications from Turkey. The family had two strikes against them — like thousands of other Syrian Kurdish refugees in Turkey, the UN would not register them as refugees, and the Turkish government would not grant them exit visas.”

Ein Hinweis für Twitter:
„Sensible Medien“ bei Twitter
(sebastian-pertsch.de, Sebastian Pertsch)
Sebastian Pertsch hat einen guten Hinweis für Twitter-Nutzer: Wenn man Fotos als “sensibel” markiert, werden sie in der Timeline nicht sofort angezeigt, sondern erst nach einem Klick auf “Foto anzeigen”. Das sei “einfach und schnell erledigt” — und gestatte es “jedem Twitter-Nutzer selber zu entscheiden, die Bilder oder Fotos zu sehen”.

Foto eines Flüchtlingskindes, Knut, Journalistinnen in Blockbustern

1. Endet die professionelle Distanz an einer Wasserleiche?
(udostiehl.wordpress.com, Udo Stiehl)
Seit gestern Abend diskutieren Redaktionen in aller Welt, wie sie mit den erschütternden Fotos eines ertrunkenen syrischen Jungen umgehen sollen, der an einem türkischen Strand angespült wurde. Unter dem Hashtag #KiyiyaVuranInsanlik (“fortgespülte Menschlichkeit”) verbreitete sich das Bild auf Twitter, etliche Medien veröffentlichten es auf ihren Online-Auftritten. Udo Stiehl kritisiert das scharf: “Haben tote Flüchtlingskinder, die am Strand angespült werden, jetzt etwa keine Ehre und Würde mehr?” Eine gute Zusammenfassung der internationalen Debatte gibt es bei der “New York Times”, der Kölner Stadtanzeiger hat einige europäische Pressestimmen gesammelt.

2. Angefeindet, verleumdet, bedroht
(zeit.de, Constantin Schreiber)
Der deutsche TV-Journalist Constantin Schreiber arbeitet seit vier Jahren mit einem deutsch-ägyptischen Fernsehteam regelmäßig in Kairo und produziert Sendungen für “Al Jazeera”: “Monat für Monat habe ich seither miterlebt, wie […] die mühsam während der Revolution erkämpften Freiheiten verschwinden — besonders für Journalisten.” Daran trage auch Deutschland eine Mitschuld: “Deutschlands Rolle bei all dem ist beschämend. Die Bundesregierung scheint tief verunsichert, wie sie mit dem Wandel im Nahen Osten umgehen soll.”

3. Reporterin unter Verdacht: Wie die Berliner Polizei meine Arbeit behinderte
(blogs.taz.de, Malene Gürgen)
Am Montagabend besuchte die “taz”-Redakteurin Malene Gürgen die rechtsextreme “Bärgida”-Kundgebung, um darüber zu berichten. Als sie ihren “taz”-Presseausweise zeigt, schalten die Beamten auf stur: “Es besteht der Verdacht, dass dieser Ausweis gefälscht ist, wir zeigen Sie jetzt wegen Urkundenfälschung an.” Das Fazit von Gürgen: “Eine Stunde lang jeden Vorschlag zur schnellen Klärung der Situation einfach abzublocken, mich dabei mehrmals völlig unbegründet anzuschnauzen und mir zwischenzeitlich sogar mit einer völlig absurden Anzeige zu drohen, ist aber einfach unterirdisch.”

4. “Berliner Zeitung” & “Berliner Kurier” am Pranger: So wütend ist der Forschungsverband Berlin auf den Berliner Verlag
(kress.de, Bülend Ürük)
Der Forschungsverbund Berlin ist sauer. Als er neulich mitteilte, woran Eisbär Knut (Sie erinnern sich) gestorben ist, ignorierten einige Medien die Sperrfrist für die Veröffentlichung, darunter die DuMont-Blätter „Berliner Zeitung“ und „Berliner Kurier“. Der Forschungsverbund (der die Sache hier dokumentiert hat) wendet sich nun an den Presserat. DuMont sieht die Schuld dagegen beim Verbund, schließlich habe er „nicht wie üblich alleine die Wissenschaftsredaktionen eingeladen, sondern auch die Lokalredaktionen, die nicht mit den gängigen Regeln des Wissenschaftsjournalismus vertraut seien.“

5. Wir haben die Politiker-Kommentare zur Asyldebatte nach Dummheit sortiert
(vice.com, Daniel Mützel)
“Während sich jetzt hinter die frisch gebackene ‘Flüchtlingskanzlerin’ (SPON) eine Schar neu Erleuchteter versammelt, sollte dabei nicht vergessen werden, dass Politiker und Journalisten viele Jahre dazu beigetragen haben, die Schwelle des zivilisatorisch Hinnehmbaren zu senken und damit, gewollt oder ungewollt, dem gewaltbereiten Mob ideologische Schützenhilfe leisten”, schreibt Daniel Mützel und hat “die Top10 der dümmsten und gefährlichsten Kommentare aus der besorgten Mitte der Gesellschaft” zusammengestellt.

6. Das Höschen ist verrutscht
(freitag.de, Hadley Freeman)
Ob in “Top Five”, “Crazy Heart”, “Three Kings” oder “Dating Queen”: In Hollywood-Filmen haben Journalistinnen andauernd Sex mit den Männern, über die sie schreiben. Das ärgert Hadley Freeman: “Während männliche Journalisten im Film entweder mit ihrem bösartigen Verstand arbeiten […] oder mit unerschütterlichem Ethos zu Werk gehen […], kommen bei ihren Kolleginnen eher gehirnferne Teile der Anatomie zum Einsatz.” Denn so sei “halt das Journalistinnenleben: Du gehst ins Büro und, schwups, schlackert dein Höschen an den Knöcheln.”

Rekord-Beschwerden, Radiogeheimnisse, Hart aber fair

1. VICE News-Journalisten in der Türkei inhaftiert
(vice.com)
Seit dem 28. August werden die beiden britischen “Vice”-Journalisten Jake Hanrahan und Philip Pendlebury in der Türkei ohne offizielle Anklage festgehalten. Jetzt müssen sie vor Gericht erscheinen; ihnen wird vorgeworfen, in “terroristische Aktivitäten” des sogenannten Islamischer Staats verwickelt zu sein. NGOs wie Amnesty International und PEN International nennen die Vorwürfe “bizarr”.

2. Rekord-Beschwerden zu “Krone”-Foto mit toten Flüchtlingen
(derstandard.at)
Beim österreichischen Presserat sind bis gestern Mittag 170 Beschwerden zum Foto der “Kronen Zeitung” eingegangen, das die erstickten Flüchtlinge in einem LKW-Laderaum zeigt — so viele wie noch nie zu einer einzelnen Veröffentlichung. Auch dem deutschen Presserat liegen inzwischen Beschwerden vor, da “Bild” und andere Medien das Foto ebenfalls verwendeten.

3. Die Medien und ein närrischer alter Mann
(evangelisch.de, Frank Lübberding)
Frank Lübberding ärgert sich über die Medien, die vor Kurzem noch über Günter Grass den Kopf schüttelten, als der eine “zwangsweise Einquartierung von Flüchtlingen in Privatwohnungen ins Spiel” brachte, und heute große Flüchtlingskampagnen auf ihren Titelseiten bringen: “Aber die gleichen Medien, die noch vor wenigen Monaten die Anmerkungen von Grass als die eines senilen alten Mannes deklarierten, tröten jetzt in dessen Horn, ohne es allerdings zu bemerken.”

4. 5 echte Radiogeheimnisse, mit denen Radiomacher Euch Hörer verarschen
(fair-radio.net)
Nachdem Buzzfeed eine etwas scherzhafte Liste mit 22 Geheimnissen von Radio-Moderatoren veröffentlicht hat, legt Fair-Radio fünf wirklich fiese Tricks nach: wie Fake-Skandale, vorgetäuschte Live-Schalten oder Schleichwerbung.

5. Schönenborn lässt Plasberg-Sendung wieder in Mediathek
(kress.de, Bülend Ürük)
WDR-Fernsehchef Jörg Schönenborn hat entschieden, die umstrittene — und zwischenzeitlich gelöschte — “Hart aber fair”-Sendung wieder in die Mediathek zu stellen. Schönenborn reagierte damit auf die Kritik von außen: “Die Unabhängigkeit unserer Arbeit ist für uns das höchste Gut. Auch wenn der Vorwurf der Zensur oder Selbstzensur absolut unangemessen ist: Schon wenn der Anschein entsteht, diese Unabhängigkeit sei beeinträchtigt, belastet das unsere Arbeit.” Bülend Ürük kommentiert zum Hin und Her beim WDR: “Der Fall zeigt zumindest, dass öffentlich-rechtliche Führungskräfte bereit sind, ihre Entscheidung auch mal zu überdenken — wenn der Druck und Hohn nur groß genug ist.”

6. Der Mann, der das Fest in Heidenau möglich machte
(jetzt.sueddeutsche.de, charlotte-haunhorst)
Mit dem Fax-Gerät gegen den Freistaat Sachsen: Wie ein Jurastudent das Willkommensfest in Heidenau möglich machte.

Leichen-Foto, Auskunftsverweigerer, Bahlsen und die “Bild”

1. Presserat befasst sich mit Schock-Fotos in “Kronen Zeitung”
(tagesspiegel.de, Markus Ehrenberg)
Nachdem die “Kronen Zeitung” ein Foto der Leichen aus dem Kühllastwagen veröffentlicht hat, sind beim österreichischen Presserat Dutzende Beschwerden eingegangen. Die Zeitung wurde dafür von allen Seiten scharf kritisiert. Medien wie “Bild” und “Le Monde” hatten zu dem Zeitpunkt bereits in der Redaktion angefragt, “Bild” und “BZ” haben das Foto dann auch nachgedruckt. Michael Fleischhacker fragt sich in der “NZZ”, was wäre, wenn nicht die Boulevard-Zeitung, sondern andere Medien das Foto gedruckt hätten — und ob es nicht doch eine Berechtigung dafür gibt.

2. Ohne Gnade
(sueddeutsche.de, Paul-Anton Krüger)
Die drei Journalisten Peter Greste, Mohammed Fahmy und Baher Mohammed wurden in Ägypten zu je drei Jahren Haft im Hochsicherheitsgefändnis verurteilt. Ihnen wird vorgeworfen, in Zusammenarbeit mit der verbotenen Muslimbruderschaft über den Fernsehsender “Al Jazeera” gefälschte Nachrichten verbreitet zu haben. Greste, der inzwischen wieder zurück in seiner australischen Heimat ist und in Abwesenheit verurteilt wurde, spricht von einem “abscheulichen” Urteil.

3. Durchsuchung bei der Berliner Morgenpost verfassungswidrig
(morgenpost.de)
Im November 2012 durchsuchten Beamte des Berliner Landeskriminalamts die Privatwohnung und den Arbeitsplatz eines Chefreporters der “Berliner Morgenpost”. Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft, die die Durchsuchung veranlasst hatte: Der Journalist habe einen Polizisten bestochen. Jetzt hat das Bundesverfassungsgericht entschieden: Die LKA-Aktion in den Redaktionsräumen der “Morgenpost” und der Wohnung war verfassungswidrig.

4. Kommentieren nur nach Handy-Registrierung
(ndr.de, Fiete Stegers)
Überall sind Redaktionen momentan auf der Suche nach einer Möglichkeit, ihrer Leserschaft Kommentare zu Beiträgen zu ermöglichen, gleichzeitig aber wenig Raum für Hass und Hetze zu bieten. Beim Schweizer SRF muss man nun nicht nur eine E-Mail-Adresse, sondern auch eine Handynummer angeben, wenn man seinen Senf dazugeben will. Im Interview mit dem NDR-Medienmagazin “Zapp” erklärt der verantwortliche Redakteur Konrad Weber, warum. Siehe dazu auch die “letzte Warnung” von “Cicero”-Chefredakteur Christoph Schwennicke.

5. Geheimniskrämer: Warum wir uns sorgen
(correctiv.org, David Schraven)
In Deutschland tobt ein Streit zwischen Medien und Behörden, die Frage lautet: Wie viel Transparenz ist erlaubt? Für David Schraven geht es dabei um die Grundfesten der Demokratie. An ausgewählten Beispielen zeigt er die Absurdität der Argumentation von Ministerien und anderen Auskunftsverweigerern. Doch die “Seite der Informationsblockierer ist mächtig und sie scheint zu allem bereit. Aus Reportern werden Landesverräter. Aus Informationsverbreitern Urheberrechtsverletzer. Aus Fragern Betriebsgeheimnisbrecher.”

6. #gebtihnenKekse
(twitter.com, Peng Collective)

Bild  

Wenn “Bild” Unschuldige zu Mördern macht

Die „Bild“-Zeitung will um jeden Preis Gesichter zeigen. Sie will, dass ihre Leser den Tätern und Opfern in die unverpixelten Augen sehen können, warum auch immer. Da können die Polizei, die Justiz oder die Angehörigen noch so oft darum bitten, es nicht zu tun.

In den meisten Fällen beschafft sich die Redaktion die Fotos kurzerhand im Internet und schert sich dabei weder um die Persönlichkeitsrechte der Abgebildeten noch um die Rechte der Urheber, und um den Pressekodex erst recht nicht.

Auch gestern zeigte „Bild“ wieder das Foto eines Mannes, der wegen Mordes angeklagt ist (natürlich ohne jede Unkenntlichmachung):

Nun stellt sich heraus: Der Abgebildete ist gar nicht der Angeklagte. Er hat mit der Sache überhaupt nichts zu tun.


(Online hat “Bild” das Foto inzwischen gelöscht, im ePaper die ganze Seite.)

Es war nicht der erste Fehler dieser Art. Bei weitem nicht.

Im August vergangenen Jahres erklärte die „Bild am Sonntag“ einen jungen Mann zum „Killer“, obwohl er nichts mit der Tat zu tun hatte. Die Fotobeschaffer hatten sich im falschen Facebookprofil bedient.

Ähnlich wie 2012, als Bild.de und die Berliner „Bild“-Ausgabe das Foto einer Frau zeigten, die angeblich von ihrem Mitbewohner getötet worden war. In Wirklichkeit lebte die Abgebildete aber noch und hatte nichts mit der Sache zu tun.

Anfang 2014 druckte die Kölner „Bild“-Ausgabe das Foto eines Mannes und behauptete, er habe seine Oma erschlagen. Später stellte er sich als unschuldig heraus.

Einige Monate später zeigte “Bild” einen Mann, der, so die Bildunterschrift, bei einem Unfall ums Leben gekommen war. Tatsächlich lebte der Abgebildete noch, “Bild” hatte ihn verwechselt.

2004 bebilderte die Berliner Ausgabe einen Artikel über einen Autounfall mit dem Foto eines Mädchens und schrieb, es sei bei dem Unfall gestorben. In Wahrheit lebte das gezeigte Kind aber noch und hatte nicht mal in dem Auto gesessen.

2012 druckte „Bild“ das Foto eines Schülers und nannte ihn „KILLER“ und „miesen Kindermörder“; auch er stellte sich später als unschuldig heraus (nachdem ein Lynchmob versucht hatte, das Polizeikommissariat zu stürmen, wo der vermeintliche „KILLER“ festgehalten wurde).

2009 veröffentlichte „Bild“ ein riesiges Foto, das den Amokläufer Tim K. zeigen sollte. Tatsächlich war darauf ein ganz anderer – unschuldiger – Junge zu sehen.

Wenige Wochen später präsentierte die „Bild am Sonntag“ auf einem Foto den Tatverdächtigen eines Vierfach-Mordes. Auch in diesem Fall hatte der Abgebildete überhaupt nichts mit der Sache zu tun.

Die Richtigstellung zur aktuellsten Verwechslung hat „Bild“ heute übrigens auf Seite 6 abgedruckt. Direkt unter einem unverpixelten Porträtfoto, auf dem ein „Killer“ zu sehen ist. Behauptet zumindest „Bild“.

Nachtrag, 19. Februar 2016: Vor drei Tagen druckte “Bild” ein Foto, das das Opfer eines Säureangriffs zeigen sollte. Einen Tag später folgte die (winzige) Korrektur: Die Fotobeschaffer hatten sich wieder geirrt; die abgebildete Frau hatte nichts damit zu tun.

Michael Jeannée, Drohnen, Kaffee gegen Krebs

1. Die Stille vor dem Schuss
(nzz.at, Barbara Kaufmann)
Florian Klenk, Chefredakteur der Wiener Zeitung “Falter”, hat gemeinsam mit der “Vice” über ein Video berichtet, das Polizeigewalt zeigt. Nun wird er als “Polizistenhasser” verunglimpft: “Kronen Zeitung-Kolumnist Michael Jeannée schießt scharf gegen Klenk, und seine Zeilen lassen andere schießen.” Denn das greift der FPÖ-Politiker Strache auf, unter dessen Facebook-Post Morddrohungen gegen den Journalisten auftauchen. Und der Politiker gibt dem bedrohten Journalisten selbst die Schuld an der Bedrohung. Barbara Kaufmann beklagt nun die ohrenbetäubende Stille: “Die Stille vor dem Schuss ist eine trügerische. Wenn sie vorüber ist, wird man nicht sagen können, man hätte nichts gehört.”

2. Amnesty will gegen Jeannée vorgehen
(derstandard.at, Oliver Mark)
Der bereits zuvor erwähnte Kronen-Kolumnist Michael Jeannée (eine Art Franz-Josef Wagner Österreichs) hat derzeit nicht nur mit dem “Falter” und dem Presserat, sondern auch mit Amnesty International Ärger. Denn die Menschenrechtsorganisation will den jüngsten Ausritt des Kolumnisten “nicht einfach hinnehmen”, wie Generalsekretär Heinz Patzelt dem “Standard” sagte. Jeannée machte sich über Amnesty-Mitarbeiter lustig, die zur Flüchtlingsunterkunft Traiskirchen gereist sind. Der Kolumnist leugnete die kritischen Zustände und verunglimpfte die Amnesty-Berichterstatter, schreibt Oliver Mark. Dagegen wehrt sich die Organisation nun.

3. Kaffee schützt vor erneutem Darmkrebs – oder auch nicht
(medien-doktor.de, Marcus Anhäuser)
Marcus Anhäuser hat in der “Rheinischen Post” gelesen, dass “vier Tassen Kaffee vor Darmkrebs-Rückfall schützen”. Allein: Das behaupten die Wissenschaftler gar nicht, die die Studie erstellt haben, auf die sich zuerst die AFP und dann die RP beziehen. Schließlich handelt es sich nur um eine Beobachtungsstudie über einen Zeitraum von sechs Monaten, die nach Aussage der Forscher keinen Kausalitätsschluss zulässt. Korrekterweise müsste es zum darmkrebsheilenden Kaffee also heißen: “Kann sein oder kann nicht sein.”

4. „Laßt uns doch mal eine Drohne einsetzen!“
(get.torial.com, Max Ruppert)
“Copter-Blogger” Max Ruppert erklärt, was Journalisten beachten sollten, wenn sie eine Drohne einsetzen wollen.

5. 10 neue Podcasts, die du dir anhören solltest
(t3n.de, Luca Caracciolo)
Luca Caracciolo stellt zehn Podcasts vor, “bei denen ein genauerer Blick lohnt”.

6. Feinderklärungen in den Medien
(taz.de, Rudolf Walther)
Wolfgang Storz hat für die Otto-Brenner-Stiftung eine “Recherche-Studie” über rechte Medien-Netzwerke erstellt. Das “Querfront-Netzwerk” rund um Jürgen Elsässer (“Compact”) und Ken Jebsen (“Ken.fm”) sowie dem Kopp-Verlag “versteht sich als jenseits von links und rechts, wirbt für die aktuelle Politik des Kremls und für die AfD, agitiert gegen die EU, Israel und die Westorientierung der BRD und warnt vor dem ‘moralisch-kulturellen Zerfall’ der Demokratie infolge der Zuwanderung von Muslimen.” Storz sieht darin eine große Gefahr und befürchtet “eine Demontage von qualifizierter Öffentlichkeit und Demokratie”.

Polizei? Da könnte ja jeder bitten!

Seit knapp eineinhalb Wochen sucht die Polizei Niedersachsen nach einer Familie aus Drage. Mutter, Vater und Tochter waren spurlos verschwunden, die Polizei startete eine öffentliche Fahndung. Dafür hat sie Scans der drei Passfotos auf die eigene Internet- und auf eine Facebook-Fahndungsseite gestellt. Zahlreiche Medien haben die Fotos in der aktuellen Berichterstattung verwendet — macht ja auch Sinn bei einer öffentlichen Fahndung.

Inzwischen haben die Beamten die Leiche des Familienvaters gefunden. Die dazugehörige Pressemitteilung endet mit diesem Absatz:

Medienhinweis: Die Öffentlichkeitsfahndung nach dem 41-jährigen Marco S. ist somit beendet. Es wird darum gebeten, die Fotos aus der Berichterstattung zu nehmen.

Den Hinweis hat die zuständige Polizeiinspektion Harburg spätabends am vergangenen Freitag veröffentlicht.

Und so sieht die Berichterstattung von “Bild”, Bild.de und “Bild am Sonntag” seitdem aus:

Bild.de, 1. August:

(Alle Unkenntlichmachungen von uns.)
“Bild am Sonntag”, 2. August:

Bild.de, 2. August:

“Bild”, 3. August:

“Bild”, 4. August:

Nun kann es eine etwas aufwendigere Sache sein, schon publizierte Online-Artikel zu durchkämmen und einzelne Fotos per Hand rauszulöschen. Aber all die aufgeführten Berichte sind eben erst nach der Bitte der Polizei erschienen.

Jan Krüger, Sprecher der Polizeiinspektion Harburg, sagte uns, dass eine Missachtung des Medienhinweises keine rechtlichen Schritte von Seiten der Polizei nach sich ziehe. Familienangehörige müssten sich dagegen wehren und das Persönlichkeitsrecht des verstorbenen Vaters durchsetzen.

Krüger und sein Team hätten das Foto direkt nach der Identifizierung der Leiche aus dem Internet genommen, online fänden sich nur noch die Bilder der Mutter und der Tochter, nach denen weiterhin gesucht wird. Bei den Medien könne man nur darauf hoffen, dass sie der Bitte nachkommen.

Allerdings haben wir das Gefühl, dass diese Hoffnung bei den Leuten von “Bild” vergebens ist.

Mit Dank an @macerarius.

“Bild” pfeift aufs Gericht – und zeigt das Gesicht

Heute hat vor dem Oberlandesgericht in Celle der Prozess gegen zwei mutmaßliche „IS“-Rückkehrer begonnen. „Mitgliedschaft in terroristischer Vereinigung und Vorbereitung einer staatsgefährdenden Gewalttat“ lautet der Vorwurf, entsprechend groß ist das Interesse der Medien.

In einer Anordnung hatte das Gericht zuvor festgelegt, dass die Angeklagten nur verpixelt gezeigt werden dürfen. Die dpa hat sich daran gehalten und die Fotos nur mit Unkenntlichmachung veröffentlicht.

„Bild“ — n a t ü r l i c h — nicht.

Inzwischen hat Bild.de das Foto ausgetauscht — und zeigt jetzt eins, auf dem der Mann noch besser zu erkennen ist.

(Der Vollständigkeit halber: Unkenntlichmachungen von uns.)

Nun könnte man argumentieren, dass sich der Angeklagte vor etwas mehr als zwei Wochen ja auch von der “Süddeutschen Zeitung” und dem NDR hat fotografieren und filmen lassen. Die Leute von “Bild” aber begründen die Missachtung der gerichtlichen Anordnung so:

Die blutigen Bilder seiner Kämpfer präsentiert ISIS regelmäßig im Internet, prahlt damit, rekrutiert neue Mitglieder. Doch stehen zwei dieser Kämpfer in Deutschland vor Gericht, sollen sie plötzlich unkenntlich gemacht werden? Da macht BILD nicht mit.

Mit Dank auch an Wolfram S., @RamisOrlu, Sebastian R., Bernhard W., Heinz B., Christian M. und Daniel!

Nachtrag, 16.55 Uhr: Inzwischen haben wir auch die sitzungspolizeiliche Anordnung des Gerichts gefunden (PDF). Darin steht:

Bei den Filmaufnahmen ist sicherzustellen, dass das Gesicht der Angeklagten vor der Veröffentlichung und vor einer Weitergabe der Aufzeichnungen an Fernsehveranstalter oder andere Medien durch ein technisches Verfahren anonymisiert wird und nur eine Verwendung in anonymisierter Form möglich ist.

Das habe der Senat aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes entschieden, erklärte uns die Gerichtssprecherin, und dabei sei ihm durchaus bewusst gewesen, dass einer der Angeklagten bereits im Fernsehen zu sehen gewesen sei.

Und was hält das Gericht von der Veröffentlichung? Die Gerichtssprecherin: “Die Anordnung ist seit Wochen für jeden zugänglich. Mit der Veröffentlichung wurden die Auflagen nicht eingehalten.”

Auf die Frage, ob “Bild” nun mit Konsequenzen rechnen muss, verwies die Sprecherin auf einen weiteren Punkt in der Anordnung, in der es heißt:

Kommen akkreditierte Pressemitarbeiter den Aufforderungen nicht nach, so können ihre Presse- und Medienunternehmen die Akkreditierung verlieren. Darüber entscheidet der Vorsitzende.

Nachtrag, 18:40 Uhr. “Bild” ist nun tatsächlich vom Prozess ausgeschlossen worden. Das hat der Vorsitzende Richter entschieden, wie uns die Gerichtssprecherin bestätigte.

Nachtrag, 4. August: In der heutigen Ausgabe nennt “Bild” die Sache einen “Eklat vor Gericht”, und Bild.de-Chef Julian Reichelt beklagt sich erwartungsgemäß über den …

Nun will das Gericht die Persönlichkeitsrechte der Angeklagten schützen. Die Medien sollen diese Männer, die sich der schlimmsten Terrororganisation der Welt angeschlossen haben, nur gepixelt zeigen.

BILD hat sich dieser Anordnung widersetzt – und wurde deswegen vom Prozess ausgeschlossen. Mit Verlaub, Herr Richter Meier, damit schützen Sie die Falschen.

Wenn ISIS seine blutrünstigen Taten verübt, posieren die Täter mit abgeschlagenen Köpfen, um Angst und Schrecken zu verbreiten. Wenn die Terroristen sich aber vor einem deutschen Gericht für ihre Taten verantworten sollen, dürfen sie plötzlich nicht mehr erkannt werden? Das ist absurd!

BILD wird sich gegen diese Entscheidung wehren. Sie ist ein Angriff auf die Pressefreiheit!

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