Suchergebnisse für ‘LINK’

Türkei-Festnahme, Shitstorm-Anatomie, Knausgårds Augen

1. Wenn Facebook-Beiträge zur Festnahme führen
(tagesspiegel.de, Claudia von Salzen)
Erneut ist ein Deutscher in der Türkei wegen des Verdachts der “Terrorpropaganda” festgenommen worden. Ihm wurden offenbar ältere Facebook-Beiträge vorgeworfen. Das Auswärtige Amt warne in seinen Reisehinweisen deshalb vor dem Verhaftungsrisiko bei Besuchen in der Türkei: “Ausreichend ist im Einzelfall das Teilen oder ‘Liken’ eines fremden Beitrags entsprechenden Inhalts.”
Weiterer Lesetipp: Anscheinend will die Türkei zahlreiche Webadressen sperren, darunter Social-Media-Konten von oppositionellen Politikern, Künstlern und linken Medien: Türkei will 136 Webseiten sperren (sueddeutsche.de, Christiane Schlötzer)
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2. Anatomie eines deutschen Shitstorms
(spiegel.de, Sascha Lobo)
Sascha Lobo hat sich Gedanken über Entstehung und Ablauf eines typischen Shitstorms gemacht. Dazu hat er die Auseinandersetzung um die Aussagen eine Politikers in kleine Teile zerlegt: Von “Schritt 0: Die Ausgangslage” bis hin zu “Schritt 15: Das Finale”. Nicht wissenschaftlich belegt und überpointiert, dafür umso treffender.

3. Freies Wissen: EU-Kommission stellt ihre Publikationen unter offene Lizenzen
(netzpolitik.org, Maria von Behring)
Eine erfreuliche Nachricht für das freie Wissen: Die EU-Kommission gibt die meisten Veröffentlichungen unter einer sogenannten CC-BY-4.0-Lizenz frei. Damit darf jeder “das Material in jedwedem Format oder Medium vervielfältigen und weiterverbreiten und das Material remixen, verändern und darauf aufbauen und zwar für beliebige Zwecke, sogar kommerziell.” Die Bundesregierung hinke diesem fortschrittlichen Gedanken weiterhin hinterher: “Für die Publikationen und Dokumente von Ministerien, Behörden und Ressorts gibt es auf der Seite der Bundesregierung keinen Hinweis auf allgemein gültige, einheitliche Lizenzen. Die Rechte für Nutzung und Verbreitung der Inhalte hängen damit von den jeweiligen Herausgebenden ab.”

4. Frank Bsirske: An Demenz leiden
(klima-luegendetektor.de)
Lange Zeit machte sich Gewerkschaftsführer Frank Bsirske medial für Braunkohle stark und betrieb indirekt klimaschädliche Politik, nun unterstützt er Fridays for Future beim Kampf um einen besseren Klimaschutz. Ein Widerspruch, den die Betreiber vom “Klima-Lügendetektor” wie folgt kommentieren: “Natürlich billigen auch wir vom Klima-Lügendetektor Menschen die Einsicht auf dem Irrweg zu und begrüßen ihre Läuterung. Das allerdings setzt das Eingeständnis der Schuld voraus. Von Frank Bsirske ist davon nichts zu hören. Wenn er jetzt zu mehr Klimaschutz aufruft, will er offenbar die Fehler seiner Vergangenheit reinwaschen.”

5. Und niemand sagt “Heuschrecke”?
(freitag.de, Klaus Raab)
Der Finanzinvestor KKR will sich beim Axel-Springer-Verlag einklinken. Klaus Raab fragt sich, warum von Medien in diesem Zusammenhang nicht das beliebte Bild von der “Heuschrecke” verwendet wird, und mutmaßt: “Vielleicht passt aber ein anderes Bild heute besser als “Heuschrecke”: Finanzinvestoren sind wie ein Hybrid aus den grauen Herren aus Momo und Aufräum-Coach Marie Kondo. Sie konsumieren und misten aus. Und so werden sie dann Zahlen hochhalten und Friede Springer immer wieder fragen: ‘Willst du diese Puppe?’ Und zum klassischen Journalismusgeschäft: ‘Does it spark joy?'”

6. Knausgårds eisblaue Augen
(taz.de, Helena Werhahn)
Auf Twitter machen User und Userinnen einen Sport daraus, über Autoren zu schreiben, wie sonst Männer über Autorinnen schreiben. Das ist gleichzeitig lustig und entlarvend. Ein Beispiel gefällig? Güzin Kar fragt in einem fiktiven Intervieweinstieg den Thrillerautor Frank Schätzing: “Sie sehen blendend aus für Ihr Alter, Chapeau! Verraten Sie uns Ihre drei Must-Have-Körperpflege-Produkte, Frank Schätzing?”

Anwalts Alpha-Liebling, Unhaltbare “Spiegel”-Story, Linnemanns Law

1. Kollegah und die Baulig Consulting GmbH haben …
(twitter.com/danieldrepper)
Der Rapper Kollegah und eine mit ihm zusammenarbeitende Consulting-Firma haben anscheinend “BuzzfeedNews” und “Vice” mit etwa einem Dutzend Abmahnungen überzogen. Anlass der teuren Anwaltsschreiben: Die Investigativrecherche über Kollegahs “Alpha Mentoring”-Programm. Daniel Drepper schreibt in einem Twitter-Thread: “Kollegah und Baulig greifen auch Medien an, die über unsere Recherche berichtet haben. Auch kleine Medien, die es nicht gewohnt sind, angegriffen zu werden. Die Schreiben sind unserer Ansicht nach haltlos, aber sie sollen offenbar der Einschüchterung dienen. Das reicht von “presserechtlichen Informationsschreiben” bis zu konkreten Abmahnungen. Wir wollen darüber berichten und betroffenen Medien helfen: Wer solche Schreiben bekommen hat, der melde sich bitte bei mir.”

2. Was hat der “Spiegel” zu verbergen?
(uebermedien.de, Stefan Niggemeier)
Ausgerechnet den Reporter, gegen den ernstzunehmende Fälschungs-Vorwürfe im Raum stehen, will der “Spiegel” zum Leiter seines Investigativ-Teams machen. Anstatt die Sache transparent aufzuklären, mauert das Blatt und setzt auf Aussitzen. Stefan Niggemeier fragt: “Was hat der “Spiegel” zu verbergen? Die ganzen Vorgänge wären zu jedem Zeitpunkt zweifelhaft gewesen, aber wie kann der “Spiegel” auch nach dem Relotius-Skandal noch glauben, mit einer Vernebelungstaktik durchzukommen?”

3. Linnemanns Regel: Keine Interviews für Paid Content-Angebote
(indiskretionehrensache.de, Thomas Knüwer)
In den vergangenen Tagen stand der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Carsten Linnemann im Mittelpunkt der Kritik. Medien hatten über seine angebliche Forderung nach einem Grundschulverbot für Kinder mit schlechten deutschen Sprachkenntnissen berichtet. Eine Darstellung, die nicht sofort überprüfbar war, denn das Interview mit Linnemann stand hinter einer Anmelde- und Werbeschranke. Thomas Knüwer hat für derartige Fälle einen generellen Tipp: “Gib niemals ein Interview, das hinter einer Paid Content-Wand oder Anmeldeschranke verschwindet.” Und er erweitert die “Linnemansche Regel” um eine zusätzliche Option: “Wenn Du einem Medium mit Bezahlschranke ein Interview gibst, dann veröffentliche es zeitgleich selber auf Deinen Präsenzen.”

4. Rechter Terrorismus in El Paso: Warum medial immer so zimperlich?
(fr.de, Katja Thorwarth)
Viele Medien bezeichnen die Terrortat eines Rechtsextremisten in El Paso mit Worten wie “Massenmord”, “Bluttat”, “Blutbad” oder “Schusswaffenattacke” und vermeiden damit die sich aufdrängende politische Einordnung. In einem Kommentar für die “FR” fragt Katja Thorwarth: “Woher kommt der zaghafte Umgang mit der terroristischen Rechten? Wird hier, vielleicht auch unbewusst, so zurückhaltend agiert, weil viele Thesen in der Gesellschaft längst verankert sind? Weil die sogenannte Mitte inklusive der sogenannten Konservativen immer nach rechts tendierte und somit inhaltlich-politisch dem rechten Terror — bezüglich seiner theoretischen Legitimation — näher steht, als die viel lieber in den Fokus gestellte Linke?”
Lesenswert auch: Margarete Stokowskis Artikel Kein Ruhm für Mörder, in dem sie an einen 50 Jahre alten Adorno-Vortrag erinnert, der nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat (spiegel.de).

5. Frau kontert bei Facebook – ist die Familientragödie erfunden?
(t-online.de, Lars Wienand)
In einem zehntausendfach geteilten Facebook-Beitrag berichtete eine Frau auf sehr emotionale Weise von einer biografischen Anekdote, wahrscheinlich um der Hetze im Zusammenhang mit dem vor den Zug gestoßenen Jungen in Frankfurt etwas entgegenzusetzen. Leider bestehen erhebliche Zweifel an der Richtigkeit der Geschichte: Die Frau habe den Beitrag mittlerweile gelöscht und verweigere jede Auskünfte dazu.

6. Song: Bild
(facebook.com/extra3)
“Extra3” hat “Bild” einen eigenen Song gewidmet. Aus Gründen: “Die Bild-Zeitung fragt seit Tagen, was man gegen Hetze tun kann. Wir hätten da eine Idee.”

“Bild” zieht wieder in den Schnitzelkrieg

In Leipzig mussten heute zwei Kitas unter Polizeischutz gestellt werden.*

Um mögliche Gefahren abzuwehren, stehe ein Polizeiauto vor den beiden benachbarten Einrichtungen, sagte ein Sprecher am Dienstag.

Hintergrund ist, dass in den Kitas kein Schweinefleisch mehr angeboten werden soll.

So schrieb es Bild.de heute am Nachmittag, aber das ist nicht richtig. Denn Schweinefleisch wird in den Kitas schon seit über einer Woche nicht mehr angeboten, Bescheid wissen die Eltern darüber noch länger. Drohungen gab es in dieser Zeit keine, Polizeischutz erst recht nicht.

Erst heute musste die Polizei eingeschaltet werden. Und wem sei Dank? Genau:

BILD-Titelschlagzeile: Aus Rücksicht auf das "Seelenheil" - Kita streicht Schweinefleisch für alle Kinder

Bratwurst, Bulette oder Schnitzel — viele Kinder wollen nichts anderes. Doch die Jungen und Mädchen zweier Kitas in Leipzig müssen ab sofort auf ihre Lieblingsspeisen verzichten. Schweinefleisch verboten!

Das ist schon insofern interessant, als eine von “Bild” selbst in Auftrag gegebene Umfrage zu den Lieblingsspeisen von Kindern mal ergab:

Von wegen Kinder mögen nur Pommes und Hamburger. Am liebsten essen sie Spaghetti und Nudeln. (…) Am zweitliebsten essen sie Hähnchen (11 %) und Pizza (ebenfalls 11 %).

Aber gut, das hätte ja nicht so schön zum Skandal gepasst. Der laut “Bild” übrigens wieder mit wem zu tun hat? Natürlich: den bösen Moslems!

Weil unter den 300 Kindern auch zwei muslimische Mädchen sind, gelten ab sofort andere Regeln — auch Gummibärchen sind jetzt tabu.

Tatsächlich taucht in der E-Mail, mit der die Eltern über die Essensplanänderung informiert wurden, nicht ein einziges Mal das Wort “Muslime” auf. Bei Facebook schreibt ein Vater, dessen Sohn in eine der betroffenen Kitas geht:

Unser Kindergarten tut dies aus Respekt gegenüber anderen Religionen. Damit sind nicht nur Muslime gemeint, sondern auch Juden oder Buddhisten.

Und:

Wir als Eltern haben überhaupt kein Problem damit. Uns ist nur wichtig, das unser Sohn immer genug Essen bekommt und es natürlich frisch sein soll. Es geht hierbei um eine von drei Mahlzeiten täglich. Mehr nicht. (…) Wir finden es gut. Punkt.

Auf die Frage eines anderen Facebooknutzers, ob es denn stimme, “dass wegen zwei muslimischen Kindern die restlichen 298 Kinder auf Schnitzel und Gummibärchen verzichten dürfen”, antwortet er:

Nein das stimmt nicht! Auch weiterhin dürfen die Kinder privat Schnitzel und Gummibärchen essen und das so viel und so oft sie wollen! Die Kinder essen generell nicht jeden Tag Fleisch dort.

Wir haben bei dem Vater noch einmal nachgefragt, und er bestätigte uns: Sollten Eltern es wollen, könnten sie dem Sohn oder der Tochter auch ein Schnitzelbrötchen oder eine Salamistulle mitgeben — alles kein Problem.

Doch solche Fakten interessieren “Bild” freilich nicht, und so zog die skandalisierte Geschichte sofort ihre Kreise durch die gewohnten Ecken:

Screenshot der Facebookseite der AfD-Politikerin Beatrix von Storch: "Schweinefleischverbot in Kitas ist die Kapitulation vor dem Islam."
Screenshot eines Tweets von Andreas Bleck, MdB: "Schwienefleisch ist ein saftiges Stück deutscher Esskultur. Es ist falsch, dass wegen zwei Kindern alle anderen ihre Essensgewohnheiten anpassen müssen. Der verzehr von #Schweinefleisch gehört zu Deutschland, der #Islam hingegen nicht! - Keine Extrawurst für den Islam!"
Screenshot eines Tweets der CSU im Bundestag: "Zwei Leipziger Kitas haben aus Rücksicht auf moslemische Kinder #Schweinefleisch und Gummibärchen vom Speiseplan gestrichen. Einmal mehr überdrehen die Vertreter linker Political Correctness! #Klartext - dazu ein Zitat von Alexander Dobrindt: Wer Gummibärchen als Integrationshindernis sieht, dem ist der kulturelle Kompass verrutscht!"
Tweet der AfD-Politikerin Birgit Malsack-Winkemann: "Zwei Leipziger Kitas streichen Schweinefleisch für alle Kinder! Wo soll das enden?"
Tweet der CDU Sachsen: "Jeder soll nach seiner Facon satt werden können!"
Tweet: "Scheiss #Islam (Daumen-runter-Emoji) #schweinefleisch gehört zu Deutschland (Deutschlandflaggen-Emoji, drei Daumen-hoch-Emojis) #islam niemals (zwei Daumen-runter-Emojis)
Tweet: "...heute kein #Schweinefleisch mehr.. ...morgen Kopftuchzwang... ...und übermorgen? Müssen dann Alle zum Islam konvertieren?Muss die Scharia eingeführt werden? Muss die Tochter mit einem 40Jährigen zwangverheiratet werden? Frage für einen Außerirdischen vom Planet der Affen..."

Unter diesen Facebook-Posts: Tausende Kommentare, voller Wut und Hass. Und auch unter dem Facebook-Post der “Bild”-Redaktion gab es Tausende Kommentare, genauso voller Wut und Hass. “Bild”-Leser packten etwa den alten NPD-Slogan aus: “Heute tolerant, morgen fremd im eignen Land”.

Und der Hass der selbsternannten Abendlandverteidiger ging noch weiter:

“Wir bekommen Drohungen”, erklärte ein Mitarbeiter des Rolando-Toro-Kindergartens am Dienstagvormittag gegenüber der LVZ. Weiter wolle er sich nicht äußern. In der Einrichtung stünden die Telefone nicht mehr still.

Dass das alles so eskalierte, ist zum Teil auch das Verdienst von Ralf Schuler, der bei “Bild” das Parlamentsbüro leitet. Er kommentierte heute:

Wenn wegen zwei muslimischen Kindern alle anderen ihre Ernährung umstellen sollen, wird Minderheitenschutz zur Mehrheitsverachtung.

Um es klar zu sagen: Von Kasseler & Co. hängt bei uns nicht das Seelenheil ab.

Und weil das ja eigentlich alles nicht so wirklich bedeutend ist, packt Schulers Redaktion in der Sache den größten Hammer aus, der in ihrem Werkzeugkeller liegt, und jazzt auf der Titelseite eine für das Land völlig unbedeutende Entscheidung von zwei (!) Kitas zu einem nationalen Skandal hoch, auf den zahlreiche weitere Medien blindlings aufspringen und der am Ende dazu führt, dass vor den Kitas Polizeiwagen* stehen müssen.

Als wäre es mit “elementaren demokratischen Prinzipien” nicht vereinbar, dass ein privater Kita-Träger aus Rücksichtnahme freiwillig entscheidet, den Kindern kein Schweinefleisch aufzutischen — was viele Kitas deutschlandweit sowieso schon lange so handhaben, ohne dass es die “Bild”-Zeitung je gestört hätte –, schreibt Schuler von einem “Minderheiten-Diktat”:

Nicht nur elementare demokratische Prinzipien werden durch dieses Minderheiten-Diktat außer Kraft gesetzt, sondern auch die Trennung von Religion und Staat. Das Schnitzel mag verzichtbar sein, die Grundregeln unseres Zusammenlebens sind es nicht!

Dieser Ralf Schuler, der hier so sehr um die “Trennung von Religion und Staat” besorgt ist, ist der gleiche Ralf Schuler, der in seinem aktuellen Buch ein Kapitel geschrieben hat, das heißt: “Zurück zu den Wurzeln: Das christliche Kreuz gehört in der Politik dazu”.

Die Kita-Leitung hat die Entscheidung, auf Schweinefleisch zu verzichten, übrigens inzwischen ausgesetzt. Man wolle das Thema beim “ersten Elternabend im neuen Kitajahr” besprechen.

*Nachtrag/Korrektur: Zum Polizeischutz gibt es widersprüchliche Angaben. Die “LVZ” berief sich heute Nachmittag auf einen Behördensprecher, der gesagt habe, vor den Kitas stehe ein Polizeiwagen. Die Polizei Sachsen twitterte jedoch:

Tweet der Polizei Sachsen: "Es ist nicht richtig, dass es dort Polizeischutz gibt oder gab. Es wurde heute lediglich Kontakt mit der Leitung aufgenommen. Bei Bedarf kann sich diese direkt an das Revier oder die Polizeidirektion wenden."

Siehe auch:

Die Radwegkosten neu erfinden

Da kann die Haselmaus noch so süß gucken — in “Bild” gab’s am vergangenen Freitag mal wieder was zum Blutdruckerhöhen:

Ausriss Bild-Zeitung - Radweg kostet zehn Millionen Euro pro Kilometer

Seit 13 Jahren wird er gebaut, fertig ist er noch lange nicht. Aber vor allem ist der neue Radweg am Rhein, der Lorchhausen und Rüdesheim (Hessen) verbinden soll, der wohl teuerste Radweg aller Zeiten: 10 Mio. Euro pro Kilometer!

11,3 Kilometer soll dieser Radweg an der Bundesstraße 42 lang sein, wenn er einmal fertig ist, und laut “Bild” 115 Millionen Euro kosten. Daraus errechnet die Redaktion die durchschnittlichen Kosten pro Kilometer, die sie auch schon auf der Titelseite nennt:

Ausriss Bild-Titelseite - Zehn Millionen Euro pro Kilometer - Regierung baut teuersten Radweg aller Zeiten

Aber ob nun auf Seite 1, in der Überschrift im Blatt oder im Artikel: Die Aussage stimmt so nicht. Denn die Gesamtkosten von 115 Millionen Euro beziehen sich auch auf den Bau des Rad- und Fußwegs, aber nicht nur. Das steht auch gewissermaßen im “Bild”-Text:

Laut Hessischem Verkehrsministerium entstehen die Kosten “nicht allein durch den Radweg, sondern durch die Gesamtmaßnahme.”

Allerdings endete die zitierte Aussage eines Sprechers des hessischen Verkehrsministeriums, die dieser den “Bild”-Autoren per E-Mail geschickt hatte, gar nicht mit einem Punkt hinter “Gesamtmaßnahme” — sie geht noch weiter, wie uns dieser Sprecher auf Nachfrage mitteilte. Er habe der “Bild”-Redaktion geschrieben:

Die Kosten entstehen nicht allein durch den Radweg, sondern durch die Gesamtmaßnahme: Sie umfasst die Verbreiterung der Bundesstraße, die bessere Kurvenführung und den Radweg.

In den 115 Millionen Euro stecken also auch Kosten für den Ausbau und die Erneuerung der Bundesstraße, die gar nicht von den Radfahrern und Fußgängern genutzt wird, sondern von Autofahrern. So steht es auch in einer Pressemitteilung des Ministeriums zur Fertigstellung des zweiten von insgesamt drei Bauabschnitten auf der Strecke.

Dennoch haben es die vermeintlichen Kosten von 10 Millionen Euro pro Kilometer Radweg auch in den Kommentar des stellvertretenden “Bild”-Chefredakteurs Mario Barth Timo Lokoschat geschafft. Zwischen ein paar schlechten Wortspielen (“Rad ab!”, “Dieser Fall macht RADLOS.”) und viel Polemik (“Ist er [der Radweg] mit Blattgold beschichtet? Gibt es kostenlosen Pannenservice für die nächsten 100 Jahre? Stehen links und rechts Kellner und reichen mit Champagner gefüllte Trinkflaschen und Kaviarhäppchen?”) schreibt Lokoschat:

Viele Deutsche träumen von der MILLION. Was könnte man mit so viel Geld alles machen?

Die Bundesregierung hat eine Idee: 100 Meter Radweg bauen! […]

Pro Kilometer kostet das Projekt unfassbare zehn Millionen Euro. Der wohl teuerste Radweg aller Zeiten.

Dabei handele es sich doch um “einen normalen Radweg”, so Lokoschat, was ebenfalls maximal irreführend ist. Normal sei, dass der Fuß- und Radweg die Standardbreite von 2,5 Metern habe, sagt uns der Sprecher des hessischen Verkehrsministeriums: “Alles andere ist nicht normal.” Das beschrieb er auch in der bereits erwähnten Mail an die “Bild”-Autoren:

Die ausgesprochen schwierigen Verhältnisse — die Enge des Tals, das Nebeneinander von Straße und Bahnlinie, die Notwendigkeit des Hochwasserschutzes, der Schutz des UNESCO-Welterbes — machen den Straßenbau in diesem Abschnitt ungemein aufwendig und lassen keine billigere Lösung zu. Man hätte dann schon auf das Vorhaben verzichten müssen, aber um den Preis der Verkehrssicherheit, denn die Trennung von Auto- und Fahrradverkehr auf der zweispurigen B42 und die Verbreiterung der Fahrbahn bedeuten einen enormen Gewinn.

Hinzu komme, dass aufgrund der besonderen örtlichen Situation auf mehreren Kilometern eine sogenannte Kragarmkonstruktion, also eine Art Galerie, für den Fuß- und Radweg errichtet werden musste, was bei “einem normalen Radweg” natürlich auch nicht der Fall ist.

“Bild” hat dann auch noch beim Bund der Steuerzahler nachgefragt, was der denn von dem Bau und den Kosten halte, schließlich sei das ja alles “bitter für den Steuerzahler”.

Der Bund der Steuerzahler hält den Bau des Radwegs “an der touristisch attraktiven Straße” für “sinnvoll”.

Ein Sprecher zu BILD: “Natürlich entstehen dort enorme Kosten, doch wir kennen derzeit keine Alternative, wie Steuergelder gespart werden können.”

Das zeigt vermutlich am besten, wie absurd die “Bild”-Berichterstattung und der Kommentar von Timo Lokoschat sind: Selbst der Bund der Steuerzahler, der immer alles skandalös findet, kann keinen Skandal erkennen.

Mit Dank an Andreas G., Sebastian L., happy und @OlafStorbeck für die Hinweise!

Wahlkampf für von der Leyen: Vom “Desaster” zu “JA, JA, JA, URSULA!”

Die Empörung war dermaßen groß bei “Bild”, dass sie sich direkt an die Kanzlerin wandten:

BILD-Titelseite: Kanzlerin, so können Sie mit Wählerstimmen NICHT umgehen!

Die Nominierung Ursula von der Leyens zur “Königin Europas” (F. J. Wagner) sei ein “Desaster”, schrieb “Bild”. Und Ralf Schuler, Leiter der Parlamentsredaktion von “Bild”, schnaubte: “GetEUscht” schreibt man jetzt mit EU!

Ausriss BILD: GetEUscht! - Wie die EU den Wählerwillen missachtet

“Ihr Sieg für Deutschland ist eine Niederlage für Europa!”, schrieb Schuler:

Wenn das EU-Parlament dieses Klüngel-Karussell akzeptiert, kann es als Volksvertretung dichtmachen.

“Das geht so nicht”, kommentierte auch der stellvertretende “Bild”-Chefredakteur Nikolaus Blome: “Wenn das Europa-Parlament einen Funken Stolz hat, sagt es Nein. Aus Prinzip. Aus Selbstachtung.”

Die Nominierung von der Leyens werde sich “so oder so rächen”, legte er im Wochenblatt “Bild Politik” nach:

Screenshot BILD.de: Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen soll EU-Chefin werden - Warum sich dieser Deal am Ende rächen wird - Eine Analyse aus dem neuen Politik-Magazin BILD Politik

Wer zu Ende denke, was da in Brüssel passiert sei — “der muss es sogar mit der nackten Wut kriegen. Ursula von der Leyens Nominierung durch die 28 Staats- und Regierungschefs annulliert de facto die Europa-Wahl. Die Folgen sind noch gar nicht absehbar.”

Fazit: Die Nominierung von der Leyens bringt in Brüssel wie in Berlin mehr Schaden als Nutzen. Sie verschiebt die Gewichte in der Europäischen Union zurück in die Vergangenheit und ist ein Schlag ins Gesicht von Millionen Europa-Wähler.

Daneben lud “Bild” verschiedene Politiker ein, die nochmal ihrerseits gegen die Entscheidung wetterten: Edmund Stoiber schrieb einen Gastbeitrag

Screenshot BILD.de: Edmund Stoiber zu dem Macht-Poker in Brüssel - Unfreundlicher Akt von Macron

… Sigmar Gabriel (“sauer”) machte Vorwürfe

Screenshot BILD.de: Ex-Parteichef sauer über den von der Leyen-Deal - Gabriel wirft Merkel "schweren Vertrauensbruch" vor

… und Martin Schulz (“fassungslos”) rechnete ab:

Screenshot BILD.de: Martin Schulz (SPD) nach EU-Gipfel-Deal fassungslos - Abrechnung mit Merkel, Macron und von der Leyen - Im BILD-Interview erklärt der Ex-SPD-Chef, warum Europas Demokratie beschädigt ist

In diesem Ton ging es auch weiter. “Bild” fragte:

Ausriss BILD: Wie gefährlich wird Merkels Posten-Trickserei für Deutschland?

Und:

Screenshot BILD.de: Deutschland winkt erstmals der EU-Chef-Posten - Was haben WIR eigentlich davon?

Antwort eines Experten: Für Deutschland sei das “ein schlechtes Geschäft”.

“Es wäre besser gewesen, den Posten des EZB-Präsidenten als den des EU-Kommissionschefs zu bekommen.”

Und weiter ging die Kritik:

Screenshot BILD.de: Kritik an von der Leyens Blitzkür am 16. Juli - "Diese Wahl muss verschoben werden" - EBD-Chefin Linn Selle: Von der Leyen muss sich zuerst positionieren und Debatten stellen, sonst fühlen sich die Wähler betrogen

Screenshot BILD.de: BILD-Interview - Weber rechnet mit Macron und Orban ab - "Ich bin sehr enttäuscht" - "Jetzt stehen wir vor einem Scherbenhaufen"

Screenshot BILD.de: He was supposed to follow Juncker - Were you cheated of your victory, Mr. Weber?

Ausriss BILD: Der ehemalige EVP-Spitzenkandidat Manfred Weber über den EU-Postenpoker - "Mächtige Kräfte wollten das Wahlergebnis nicht akzeptieren"

Screenshot BILD.de: Umfrage zu Ursula von der Leyen - Mehrheit traut ihr das neue EU-Amt nicht zu

Screenshot BILD.de: Wähler in BILD nach dem Brüssel-Poker - "Wir fühlen uns ausgetrickst!" - Viele Wähler sind stinksauer über das Polit-Geschacher an der EU-Spitze. In BILD machen sie ihrem Ärger Luft

Doch plötzlich — am Wochenende nach der Nominierung, gut zehn Tage vor der Wahl — schwang die Stimmung mit einem Mal um. In der Samstagsausgabe brachte “Bild” weder empörte Politikerinterviews noch wütende Wählerstimmen. Auch sonst gab es keinerlei Kritik mehr am “Postenpoker”-“Desaster”. Stattdessen:

Ausriss BILD: Von der Leyen hat schon ein Büro in Brüssel

Von der Leyen sei “gestern den ganzen Tag im Verteidigungsministerium in Berlin” unterwegs gewesen, schrieb “Bild”, schließlich sei es “wichtig” für sie, “bei den Abgeordneten selbst, aber auch bei nationalen Parteichefs zu werben”. Dazu ein Foto wie aus von der Leyens PR-Abteilung (sie, lächelnd, mit Österreichs Ex-Kanzler Sebastian Kurz, im Vordergrund die Europa-Flagge) und ein Tweet von von der Leyen, in dem sie gut gelaunt ihren neuen Schreibtisch zeigt.

Der endgültige Umschwung kam dann am nächsten Tag in “Bild am Sonntag”. Schon der Aufmacher auf der Titelseite: ein niedliches Kinderfoto.

Titelseite BILD am Sonntag: KANN SIE EU? - Das Foto links zeigt Ursula von der Leyen mit 8 in Brüssel. Dort wurde sie geboren, dort kann sie zur Chefin Europas werden. Warum, was Freunde und Feinde sagen - Seiten 4 bis 7

Auch im Innenteil klang plötzlich alles viel versöhnlicher, positiver — statt Enttäuschung nun: freudige Erwartung.

Interessant zum Beispiel die Überschriftenwahl auf der linken Seite: Dass sich die Mehrheit der Befragten “durch Postengeschacher getäuscht” fühlt, was “Bild” in den Tagen zuvor immer groß verkündet hatte, landete jetzt nur klein in der Unterzeile. Stattdessen die große Schlagzeile, dass sich 71 Prozent eine EU-Chefin aus Deutschland wünschen würden. Auch auf der rechten Seite: Statt konkreter, plakativer Kritikpunkte in der Überschrift die fast schon vorwurfsvolle Frage, was die SPD denn auszusetzen habe.

Auf der nächsten Doppelseite dann sogar eine Art Homestory:

Von der Leyen mit ihren Kindern im Schwimmbad, mit ihren Eltern beim Musizieren, als Studentin im feschen Röckchen, mit ihrem Pferd, bei ihrer Hochzeit.

“Sie spricht fließend Französisch und Englisch”, schwärmt die “BamS”-Autorin, “überhaupt neigt sie zum Perfektionismus (außer beim Kochen, da beschränkt sie sich auf einfache wie schnelle Nudeln).” Hach. Eben auch nur ein Mensch, die Ursula. Aber was für einer!

Sie hat ihre große Familie und die steile Karriere mit eiserner Disziplin vereinbart. Von der Leyen isst kaum Fleisch, trägt Kleidergröße 34, trinkt nie Alkohol. (…) Wenn der Schlager “Komm, hol das Lasso raus. Wir spielen Cowboy und Indianer” gespielt wird, singt sie textsicher mit.

“Auch wenn sie in der Öffentlichkeit nicht so rüberkommt, ist Ursula eine sensible, einfühlsame Frau”, zitiert das Blatt eine Freundin. “Ursula hat den Mut und die Stärke, mächtigen Egos klare Ansagen zu machen. Sie ist eine sehr gradlinige Frau”. Und so dürfte nach der Lektüre ziemlich klar feststehen: JA, SIE KANN EU!

Und in diesem Ton ging es dann auch weiter:

Screenshot BILD.de: Kommentar - Die Stunde der Frauen

Screenshot BILD.de: Ursula von der Leyen im Porträt - Warum sie keinen Tropfen Alkohol trinkt - Wird die in Brüssel geborene Ministerin am 16. Juli zur EU-Chefin gewählt?

Screenshot BILD.de: Ursula von der Leyen 2008 bei "Wetten, dass..?" - Warum sie für Gottschalk in eine Mülltonne kletterte - Legendärer TV-Auftritt der Frau, die bald EU-Chefin werden könnte

Screenshot BILD.de: Obwohl die SPD dagegen ist - Ex-Kanzler Schröder ist für von der Leyen als EU-Chefin

Und gestern, am Tag der Wahl, schließlich:

Ausriss BILD: "Darum sollte Europa heute Ursula wählen" - In BILD schreibt Ursula von der Leyens Freundin, Schauspielerin Maria Furtwängler

Nachdem sie dann tatsächlich gewählt worden war, gab es für die “Bild”-Medien kein Halten mehr:

Screenshot BILD.de: JA, JA, JA, URSULA! - Am 1. November tritt die Ex-Verteidigungsministerin ihren neuen Posten an

Ausriss BILD: Ursula von der Leyen - Europa steht ihr gut

Titelseite BILD: Wunderbar, Ursula! Von der Leyen mit 9 Stimmen Mehrheit zur EU-Chefin gewählt

“Sie passt zu Europa und Europa passt zu ihr”, jubelt “Bild”-Chef Julian Reichelt:

Niemand ist geeigneter für das Amt der EU-Kommissionspräsidentin als von der Leyen.

Selbst Ralf Schuler, der sich ein paar Tage zuvor noch so “getEUscht” gefühlt hatte, ist plötzlich total aus dem HEUschen:

Tweet von Ralf Schuler: Ja! Ja! Ja! Ursula!

Und warum der plötzliche Sinneswandel? Warum nach der anfänglichen Empörung auf einmal Wahlkampf und schließlich großer Ursula-Jubel? Darüber können wir nur spekulieren. Vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass zum PR-Team von Ursula von der Leyen seit Kurzem auch niemand Geringeres gehören soll als Ex-“Bild”-Chef Kai Diekmann? Wer weiß. Vielleicht war es auch einfach ein kleines, verspätetes Dankeschön von Julian Reichelt. Der alten Zeiten wegen:

Tweet von Julian Reichelt. Darauf ein Screenshot von BILD.de: "Top Gun-Ministerin URSULA - Einsatz-Befehl im Morgengrauen" - In Jeansjacke schickte von der Leyen die Bundeswehr um 6.55 Uhr Richtung Irak". Reichelts Tweet dazu: "Mein Lieblings-Aufmacher des Tages heute auf @BILD Ursula von der Leyen schickt #bundeswehr in den #Irak

Polizei als Quelle, AfD vs. Restle, Netflix entfernt Suizid-Szene

1. “Keine per se seriöse Quelle”
(taz.de, Michael Kees)
Die Polizei sei keine per se seriöse Quelle, Pressestellen der Polizei hätten gar kein Interesse daran, neutral zu berichten … Was sich wie Aussagen von Aktivisten und Antifa anhört, stammt vom Sprecher der Bundesarbeitsgemeinschaft kritischer Polizistinnen und Polizisten. Journalistinnen und Journalisten sollten bei Schilderungen der Polizei besonders misstrauisch sein: “Sie können eigentlich nie etwas für bare Münze nehmen.”
Nachtrag: Der von der “taz” interviewte Sprecher der Bundesarbeitsgemeinschaft kritischer Polizistinnen und Polizisten scheint ein fragwürdiger Interviewpartner sein. Thomas Wüppesahl wurde wegen eines Versuchs der Beteiligung an einem Raubmord und wegen des Verstoßes gegen das Waffengesetz rechtskräftig verurteilt. Daraufhin wurde er aus dem Polizeidienst entlassen. Die Bundesarbeitsgemeinschaft kritischer Polizistinnen und Polizisten soll laut Wikipedia nur aus zwei Personen bestehen.

2. Anmerkungen zu unserer Recherche für den Artikel “Gezielte Kampagne”
(spiegel.de)
Der “Spiegel” hat einen Beitrag über die die Lobbyarbeit eines deutsch-jüdischen und eines proisraelischen Vereins veröffentlicht (“Gezielte Kampagne”) und wird dafür stark kritisiert. Der Vorwurf: Die Redaktion bediene antisemitische Klischees. In einem Betrag in eigener Sache reagiert das Magazin auf die Vorwürfe.

3. Die Biedermänner zündeln
(djv.de, Hendrik Zörner)
Nachdem “Monitor”-Leiter Georg Restle sich kritisch zur AfD geäußert hat, dreht die Partei nun auf und antwortet mit einer Schmutzkampagne, in der sie den Journalisten als “totalitären Schurken”, “erbärmlichen Linksextremisten” und “abstoßenden Feind der Demokratie” bezeichnet. Und befeuert damit die Wut ihrer Anhänger, die Restle auf Twitter mit Beschimpfungen überziehen. Die Journalistin Anna-Mareike Krause kommentiert auf Twitter: “Was die AfD mit @georgrestle macht, ist kein Ausrutscher. Dahinter steckt die Strategie, Gegner solange mit Schmutz zu bewerfen, bis etwas hängenbleibt. Hier soll ein wichtiger Kritiker mundtot gemacht werden.”

4. Sprache im Dienst der Propaganda
(deutschlandfunk.de, Stefan Koldehoff, Audio: 10:18 Minuten)
Der Journalist Matthias Heine hat ein Buch über die sprachlichen Hinterlassenschaften der Nationalsozialisten geschrieben. Bei manchen Worten erschließt sich der historische Zusammenhang sofort, andere überraschen — wie der Begriff vom “Eintopf”. Das Wort sei auf die sogenannten Eintopf-Sonntage der 30er-Jahre zurückzuführen: “Da sollte man einmal im Monat immer nur sonntags statt des Sonntagsbratens einen Eintopf kochen und das gesparte Geld dem Winterhilfswerk, dieser Hilfsorganisation, spenden.”

5. Netflix schneidet Szene aus “Tote Mädchen lügen nicht”
(sueddeutsche.de, Jacqueline Dinser)
In der erfolgreichen Netflix-Serie “Tote Mädchen lügen nicht” geht es um die Vorgeschichte der Selbsttötung einer amerikanischen High-School-Schülerin. Auf sieben Audiokassetten erzählt die Protagonistin von den Gründen ihres Selbstmords, darunter Mobbing und sexuelle Gewalt. Diese Art der Darstellung wurde vielfach kritisiert, unter anderem von der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention, der Bundespsychotherapeutenkammer und dem Bundesverband der Kinder- und Jugendärzte. Jahre später hat Netflix reagiert und schneidet die dreiminütige Szene heraus, in der man dem Mädchen bei ihrem Suizid zuschaut.

6. CumEx-Affäre: Journalist betrieb keine Wirtschaftsspionage
(infosperber.ch)
“Correctiv” berichtete über den milliardenschweren Betrug mit Cum-Ex-Geschäften. Dies führte unter anderem dazu, dass eine Bank zu ersten Schadensersatzzahlungen in Höhe von 45 Millionen Euro verurteilt wurde. Anstatt sich bei den Aufklärern dafür zu bedanken, zeigte die Schweizer Justiz “Correctiv”-Chef Oliver Schröm bei der Staatsanwaltschaft Hamburg an. Der Vorwurf: “Verdacht der Anstiftung zum Verrat von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen”. Nun haben die Hamburger Staatsanwälte die Akte geschlossen. Auf der “Correctiv”-Website heißt es dazu: “Nach 423 Tagen hat die Staatsanwaltschaft Hamburg aufgehört gegen den CORRECTIV-Chefredakteur Oliver Schröm zu ermitteln: Das “Ermittlungsverfahren wurde gemäß § 170 Abs. 2 der Strafprozessordnung eingestellt”, teilte die Behörde in einem Einzeiler mit. Es bestehe kein hinreichender Tatverdacht, der eine weitere Ermittlung oder gar Anklage rechtfertige.”

“Deutschlandstrategie” der NZZ, Die Gemälde des Bob Ross, Un-“Bunte”

1. Die neuen Freunde der NZZ
(republik.ch, Daniel Binswanger)
Daniel Binswanger kommentiert die “Deutschland­strategie” des Schweizer Traditionsblattes “NZZ”, die besonders von AfD-Anhängern gefeiert wird: “Es ist verblüffend, wie shitstorm­getrieben die Positionierung der NZZ geworden ist. Man könnte den Eindruck bekommen, sie sei nicht mehr eine Publikation mit klaren publizistischen Linien, sondern ein Unternehmen zum Austesten der Grenzen des politischen Anstands. Wenns brenzlig wird, macht man einen taktischen Rückzieher.”

2. Leider wurde mein lieber Freund…
(facebook.com, Friederike Werner)
Friederike Werner war mit dem unlängst verstorbenen Filmproduzent David Groenewold befreundet, der 2013 in Zusammenhang mit der sogenannten “Wulff-Affäre” angeklagt und freigesprochen wurde. Sie ist schwer getroffen von der Berichterstattung durch die “Bunte” und deren Redakteurin Tanja May: “Die Tatsache, dass Frau May das Haus inklusive Polizeisiegel an der Wohnungstür von David Groenewold hat fotografieren lassen, sowie das illegale Beschaffen von Polizeiakten werden ein juristisches Nachspiel haben. Ich werde außerdem niemals müde werden, die Menschen darauf hinzuweisen, wie unanständig Frau May und die BUNTE in einer solch schweren Situation für alle Angehörigen agiert haben.”

3. Hört endlich auf, euch an der Dummheit von Influencern aufzugeilen
(vice.com, Sebastian Meineck)
Immer wieder machen sich Medien über Influencer lustig, die es mit der Selbstdarstellung übertreiben. Das Bashing gehe jedoch am Thema vorbei, wenn gewöhnliche Instagrammer mit ein paar hundert Abonnenten zu Influencern aufgeblasen werden und wenn der vermeintliche Skandal bei näherer Betrachtung in sich zusammenfällt. Sebastian Meineck erzählt die Geschichte von den “dummen Influencern” und dem giftigen See.

4. DJV-Austritt aus Protest
(welchering.de)
Peter Welchering hat in einem offenen Brief seinen Austritt aus dem Deutschen Journalisten-Verband (DJV) verkündet. Er wirft dem Verband beziehungsweise dessen Vertretern unter anderem eine zu große CDU-Nähe vor. Außerdem habe der DJV von Facebook und Google Geld kassiert und betrachte PR als eine Unterart des Journalismus. (Sobald eine Antwort des Verbands vorliegt, werden wir sie an dieser Stelle verlinken.)

5. Die Journalistin, die Jeffrey Epstein überführte
(sueddeutsche.de, Alan Cassidy)
Der US-Milliardär Jeffrey Epstein hat wahrscheinlich mehr als 80 Mädchen missbraucht und wäre damit wahrscheinlich davongekommen, denn er hatte mächtige Freunde in Justiz und Regierung. Dass der Fall nun neu aufgerollt wird, ist der amerikanischen Lokaljournalistin Julie K. Brown zu verdanken, die das übernommen hat, was Sache der Justiz gewesen wäre: “Eineinhalb Jahre verbrachte Brown damit, Epsteins Opfern nachzuspüren, ihr Vertrauen zu gewinnen und sie zu überreden, ihr von den Übergriffen zu erzählen, die sie erlitten hatten. Sie sprach mit Polizisten, die gegen den Financier ermittelt hatten, aber von ihren Vorgesetzten ausgebremst wurden. Sie wühlte sich durch Berge von Akten, flog von Florida nach New York, um vor Gericht Einsicht in Dokumente zu erkämpfen, und bezahlte manche Reise aus eigener Tasche.”

6. Where Are All the Bob Ross Paintings? We Found Them.
(nytimes.com, Larry Buchanan & Aaron Byrd & Alicia DeSantis & Emily Rhyne, Video: 10:49 Minuten)
“The Joy of Painting” hieß der legendäre TV-Malkurs, in dem der US-amerikanische Maler Bob Ross mit sanfter Stimme erklärte, wie man ein Landschaftsbild malt. Wo sind all die Bilder geblieben, die im Rahmen der vielen hundert Fernsehsendungen entstanden? Die “New York Times” hat sich auf Spurensuche begeben und einen sehenswerten zehnminütigen Videobeitrag produziert.

7. Liebe “BILD”-Leute, hier liegen gleich mehrere Missverständnisse vor. Ich erkläre Euch das gerne.
(facebook.com, Lorenz Meyer)
Extralink außerhalb der Reihe, da vom Kurator selbst: Auf Facebook erkläre ich “Bild”, warum von einer “Zitter-Zensur” der CDU keine Rede sein kann und räume mit einigen Missverständnissen auf: “Das letzte Missverständnis betrifft Euch, Eure Arbeit und Euer Arbeitsethos. Was Ihr macht, hat nämlich weder was mit Journalismus, noch mit Anstand zu tun.”

Falsche Richtung

Erst klaut der Mann reichlich Tulpen aus einem öffentlichen Beet, dann prügelt er auf einen Passanten ein, der ihn dabei filmt, und dann, bei der Gerichtsverhandlung, laut “Bild” und Bild.de auch noch das:

Ausriss Bild-Zeitung - Prügelnder Tulpendieb verhöhnt das Gericht
(Unkenntlichmachungen durch uns.)

Gestern zeigte der polnische Räuber, was er von dem Prozess gegen ihn hält — zeigte im Gerichtssaal den Stinkefinger.

Wir haben allerdings starke Zweifel, dass der “Tulpendieb” mit dem Mittelfinger tatsächlich das Gericht verhöhnen wollte: Erstens muss das Foto vor der Gerichtsverhandlung entstanden sein, denn während eines Prozesses darf nicht fotografiert werden. Und zweitens saß in der Richtung, in die der Mann seinen Mittelfinger streckte, nicht der Richter. Der befand sich aus Sicht des Angeklagten auf der linken Seite, wie man in einem Bericht des MDR sehen kann. Den Mittelfinger hielt er aber nacht rechts. Und da stand wer? Genau: der “Bild”-Fotograf.

Mit Dank an Frank für den Hinweis!

Polizei als Nacktbild-Verbreiter, MDR-Reichsbürger Steimle, Twitter-Urteil

1. Für Likes tun wir alles, ihr Freund und Helfer
(dasnuf.de, Patricia Cammarata)
Vor einigen Tagen stoppte die brandenburgische Polizei einen Zweiradfahrer, der nur mit Helm und Sandalen bekleidet war. Die Beamten machten Fotos von dem Nackten, die sie auf Twitter für eine Mitmach-Aktion verwendeten: “Wie würden Sie dieses Bild betiteln?” Überhaupt nicht witzig, findet Patricia Cammarata: “Ich finde den Tweet in diesem Kontext, veröffentlicht von einer staatlichen Institution für moralisch höchst zweifelhaft und genauso zweifelhaft finde ich jede weitere Verbreitung, v.a. durch Stellen, die in irgendeiner Form neutrale Öffentlichkeit repräsentieren. Und die Verbreitung ist enorm. Ich habe den Tweet heute z.B. im Guardian verlinkt entdeckt. Glaubt ihr wirklich, dass dieser Herr, der sich morgens in Brandenburg entschieden hat, nackt auf seinen Roller zu steigen, mit dieser Öffentlichkeit gerechnet hat? Rechnen musste? Ihr zuckt mit den Schultern? Wie würdet ihr den Fall sehen, wenn es um euch selbst, euren Vater, euren Onkel oder sonst eine Person geht, der ihr nahe steht?”

2. Grenzen der Satire? Der MDR und Uwe Steimle
(ndr.de, Nadja Mitzkat)
Gegen Geflüchtete hetzen, das Reichsbürgermärchen von Deutschland als besetztem Land und Merkel als “Marionette” verbreiten und mit “Kraft durch Freunde”-T-Shirt provozieren. Für all dieses hat der MDR einen Mann: den Schauspieler und Kabarettisten Uwe Steimle. Seit Jahren gibt es begründete Kritik an den Äußerungen Steimles, doch der MDR hat eine geschickte Politik entwickelt, um an dem Mann festzuhalten: Man verteidigt ihn und distanziert sich gleichzeitig.

3. Fake News auf Staatskosten
(taz.de, Reinhard Wolff)
Die staatliche PR-Agentur in Norwegen hat sich eine zweifelhafte Idee einfallen lassen, um das Land ins Gespräch zu bringen. Angeblich würden die Bewohner einer Insel eine “zeitlose Zone” errichten. Mehr als 1000 Medien weltweit übernahmen die Meldung, schließlich handelt es sich bei der staatlichen Informationsagentur “Innovasjon Norge” eigentlich um eine seriöse Quelle.

4. Gerichtsurteil: Twitter muss Account von Dietrich Herrmann freischalten
(flurfunk-dresden.de, Peter Stawowy)
Twitter hat unlängst strittige Regeln eingeführt, um Wahlmanipulationen zu unterbinden, darunter fallen auch satirische Bemerkungen. Eines der Opfer des neuen Twitter-Hausrechts war der Grünen-Politiker Dietrich Herrmann, der für einen Tweet gesperrt wurde (Herrmann hatte einen oft gemachten Witz gepostet, in dem AfD-Wähler dazu aufgefordert werden, bei der Wahl die Unterschrift auf dem Wahlzettel nicht zu vergessen). Das Landgericht Dresden hat Twitter nun dazu verurteilt, den Account wieder freizugeben.

5. Finde es so witzig…
(twitter.com/ohhellokathrina, Kathrin Weßling)
Kathrin Weßling verschafft sich auf Twitter mit einem Stoßseufzer etwas Luft: “Finde es so witzig, wie einige Seiten in diesem Internet einfach fast ausschließlich von eingebetteten Tweets leben oder FB Screenshots, nix davon vergüten und sich schön die Taschen vollmachen. Und mit “witzig” meine ich asozial. Aber was rede ich von “Vergütung” — wenn es nicht mal Standard ist zu fragen, ob es okay ist, aus fremden Inhalten mit ein paar banalen Zwischenheadlines vermeintlich eigenen Content zu kreieren.” Der “6 vor 9”-Kurator schließt sich dem Seufzer aus aktuellem Erleben an. #PerlendesLokaljournalismus

6. “Katastrophe biblischen Ausmaßes für die deutsche Branche”
(golem.de, Peter Steinlechner)
Für Computerspieleentwickler waren 2019 noch staatliche Unterstützungen von 50 Millionen Euro vorgesehen. Viele Studios erwarteten für 2020 eine ähnliche Förderung, doch dies erscheint nach derzeitigem Stand sehr unwahrscheinlich.

Kopftuchklischees, Söders “Youtuber-Festival”, Rechte Debatten-Tricks

1. So verschieben Sie eine Debatte nach rechts
(spiegel.de, Sascha Lobo)
Sascha Lobo hat eine Polemik über rechte Kommunikation verfasst. In einer Anleitung in 20 Schritten geht er die entscheidenden Debatten-Tricks der extremen Rechten durch.

2. So organisieren sich Rechtsextreme seit Wochen in neuen Telegram-Gruppen
(buzzfeed.com, Pascale Mueller & Marcus Engert & Juliane Loeffler & Rolf Regner)
“BuzzFeed News Deutschland” liegen Unterlagen vor, wie sich rechtsextreme Personen in Chatgruppen austauschen, darunter “NPD-Politiker, bekannte Neonazi-Größen und organisierte Rechtsradikale mit Kontakten in die rechtsextreme Kampfsport- und Musikszene sowie zu einschlägigen, teils verbotenen Organisationen.” Dabei geht es um 250 Personen, die dort ihr radikales Gedankengut teilen.
Weitere Leseempfehlung: Wer zu Neonazis recherchiert, muss sehr mutig sein. “Vice” hat bei zwei dieser mutigen Personen nachgefragt, was sie antreibt und was sie bei der täglichen Arbeit erleben: Mordfall Lübcke: Diese Menschen machen die Arbeit, die der Verfassungsschutz nicht macht (vice.com, Matern Boeselager).

3. Wem gehört… The Missing Manual
(medium.com, Astrid Csuraji & Jakob Vicari)
Das Recherchekollektiv “Correctiv” hat mit seiner Aktion “Wem gehört Hamburg?” den Wohnungsmarkt ein Stückchen transparenter gemacht und ist dafür jüngst mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet worden. Daran anknüpfend haben Journalisten eine ähnliche Aktion für eine Stadt in Niedersachen ins Leben gerufen: “Wem gehört Lüneburg”. Im “Missing Manual” berichten sie über ihre Erfahrungen mit einem derartigen journalistischen Projekt.
Nachtrag: Mit “Wem gehört Lüneburg” knüpft die “Landeszeitung” nicht an die “Correctiv”-Aktion an — vielmehr führt sie das Projekt in Kooperation mit “Correctiv” durch.

4. Söder will “Youtuber-Festival” veranstalten
(sueddeutsche.de, David Steinitz)
Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder will ein “Youtuber-Festival” samt “Influencer-Preis” etablieren. Außerdem verlangt er eine Reform der deutschen Filmförderung, sprich mehr staatliche Unterstützung und Steuervorteile für Filmproduzenten.
Anmerkung des “6 vor 9”-Kurators: Siehe dazu auch Wikipedia: “Stupid German Money (engl.: dummes deutsches Geld) ist ein ursprünglich von der US-amerikanischen Filmwirtschaft geprägter Begriff für Gelder aus geschlossenen Medienfonds des deutschlandspezifischen grauen Kapitalmarkts. Diese Fonds wurden wegen hoher Abschreibungsmöglichkeiten als Steuersparmodell genutzt. Die Gelder flossen größtenteils in amerikanische Filmproduktionen.”

5. Maut-Verträge öffentlich machen
(djv.de, Hendrik Zörner)
Der Deutsche Journalisten-Verband fordert den Bundesverkehrsminister auf, die Maut-Verträge Journalistinnen und Journalisten zur Einsicht zur Verfügung zu stellen: “Dass der Verkehrsminister auf das gerichtliche Verbot der Pkw-Maut mit Geheimniskrämerei reagiert, ist völlig unangemessen. Wenn es stimmt, dass ein zweistelliger Millionenbetrag aus Steuergeldern verbraten wurde, müssen Journalistinnen und Journalisten die Möglichkeit bekommen, darüber zu berichten.”

6. Falsche Ehre für Kopftuchklischees
(taz.de, Hilal Szegin)
“Eine befremdliche Entscheidung” nennt Hilal Szegin den Entschluss des Journalistinnenbunds, die Cartoonistin Franziska Becker für ihr Lebenswerk auszeichnen. Szegin stört sich vor allem an Stereotypen und Chiffren wie dem Kopftuch, das in einigen Becker-Cartoons auftaucht: “Aufgrund von Äußerlichkeiten werden einer Menschengruppe innere Einstellungen und Befähigungen zu- oder eben abgesprochen. Das führt zu weniger, nicht zu mehr Handlungsfreiheit von verschleierten Musliminnen. Und das ist weder einer Auszeichnung wert noch feministisch.”
Interessant ist die Reaktion der “Emma”-Redaktion auf die Kritik an ihrer Cartoonistin. Bei Twitter fragt sie: “Findet ihr diese Karikatur von Franziska Becker “islamfeindlich-rassistisch”?” Und dies wird von den allermeisten Lesern und Leserinnen absolut eindeutig bejaht. Die Linken-Politikern Anke Domscheit-Berg kommentiert fassungslos: “Ich kann kaum glauben, dass das eine ernstgemeinte Frage sein soll.”

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