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St. Dominik von Solln

Erster Tag im Prozess des Jahres: Kachelmann trifft Ex-Geliebte vor Gericht! S-Bahn-Held Dominik Brummer: Harte Strafen für die Schläger

Es ist ein Glücksfall für die Boulevardmedien dieser Republik: Die Richter des “Brunner-Prozesses” (benannt nach dem Opfer Dominik Brunner) haben das Staffelholz an die Richter des “Kachelmann-Prozesses” (benannt nach dem Angeklagten Jörg Kachelmann) übergeben, die Gerichtsreporter müssen ihre Koffer gar nicht erst auspacken und beleben nach der Münchener jetzt die Mannheimer Hotelwirtschaft. Vorher gab es in München aber noch die Urteile: Neun Jahre und zehn Monate Jugendhaft wegen Mordes in Tateinheit mit versuchter räuberischer Erpressung für den 19-jährigen Haupttäter, sieben Jahre Jugendhaft wegen Körperverletzung mit Todesfolge sowie versuchter räuberischer Erpressung für seinen 18-jährigen Mittäter.

Das mit der Körperverletzung mit Todesfolge hatte Bild.de Anfangs allerdings nicht ganz verstanden und zum “Totschlag” umdeklariert:

Totschlag! 7 Jahre Gefängnis

Überhaupt: Während andere Medien Dominik Brunner mit seiner Berufsbezeichnung (“Geschäftsmann” oder “Manager”) versehen, war er für “Bild” und Bild.de von Anfang an der “S-Bahn-Held”, der “vier Kinder vor zwei Schlägern beschützte”. Schon wenige Tage nach dem tödlichen Vorfall am S-Bahnhof Solln forderte die Zeitung das Bundesverdienstkreuz für Brunner und rief ihre Leser auf, den Appell an den Bundeskanzler Bundespräsidenten zu unterschreiben. Horst Köhler machte eine seltene Ausnahme und verlieh Brunner posthum das Verdienstkreuz 1. Klasse, worüber “Bild” wiederum groß berichtete.

Im Februar berichtete der “Spiegel” erstmalig, dass Brunner “den ersten Fausthieb setzte” — eine Meldung, die auch auch von anderen Medien interessiert aufgenommen wurde. “Bild” versteckte eine kleine Meldung auf Seite 3 und bemühte sich sofort um eine Einordnung in den Helden-Kontext:

Jetzt geht die Staatsanwaltschaft München davon aus, dass Brunner zwar zuerst zuschlug – aber nur aus Notwehr, um dem Angriff der Jungs zuvorzukommen (“SZ”).

“Bild” und Bild.de konzentrierten sich (außer einem Hinweis darauf, dass dem “Münchner S-Bahn-Held Dominik Brunner” ein Denkmal gesetzt werden soll) lieber auf den Prozess, der im Juli begann, und liefen gleich zu Beginn zu Höchtsleistungen auf: Die Schwestermedien eröffneten ihre Prozessberichterstattung, indem sie auf die “besondere Zurückhaltung”, die der Pressekodex bei der Berichterstattung über Ermittlungs- und Strafverfahren gegen Jugendliche fordert, verzichteten (BILDblog berichtete).

Dann ging es los: Rührselig zitierte Bild.de eine SMS, die auf Brunners Handy eingegangen sei, als dieser schon tot war (“Der tote S-Bahn-Held erhielt einen Herzensgruß für seinen letzten Weg”). Aus der “Ex-Freundin”, die ihm diese Nachricht geschickt hatte, wurde dann kurze Zeit später seine “Lebensgefährtin”.

Ein 18-Jähriger, der vorab in einem eigenständigen Prozess wegen gefährlicher Körperverletzung und versuchter räuberischer Erpressung zu einem Jahr und sieben Monaten Jugendstrafe auf Bewährung verurteilt worden war (“Bild”: “Gericht lässt 1. Täter laufen”), wurde bei Bild.de zum “Anstifter der Schläger”, der sich aus diesem Grund kein Urteil über die Situation erlauben dürfe:

Christoph T.: “Für mich ist dieser ausschlaggebende Punkt der Schlag von Herrn Brunner” – das sagt ausgerechnet der Anstifter der Schläger!

Dass der junge Mann beim tödlichen Angriff auf Brunner gar nicht dabei war und schon deshalb nur bedingt als Zeuge taugt, ist Bild.de immerhin aber auch noch aufgefallen:

Der Anstifter hat Dominik Brunner zwar nie gesehen – doch ohne ihn wäre der Mord am S-Bahnhof Solln am 12. September 2009 wohl nie geschehen!

Dann wiederholte der S-Bahn-Führer im Zeugenstand seine Aussage, dass Brunner den ersten Schlag gesetzt habe und die Situation erst daraufhin eskaliert sei (ein Umstand, von dem “Spiegel Online”-Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen irritierenderweise annahm, er sei “erst jetzt, zu Prozessbeginn, der Öffentlichkeit mitgeteilt” worden). Zusammen mit dem Obduktions-Ergebnis, nach dem Dominik Brunner einen vergrößerten Herzmuskel hatte und letztlich an Herzversagen gestorben sei, ergab sich plötzlich ein etwas anderes Bild und viele Medien fragten sich selbstkritisch, ob sie nicht voreilig über die Situation am S-Bahnhof Solln geurteilt hätten. Viele, aber natürlich nicht alle.

“Bild” fand diese neuen Töne “unglaublich!”, und reagierte erschüttert auf die Medienberichte:

ZUM HELDEN HOCHSTILISIERT? ANGEBLICH TOTGETRETEN? PRÜGELNDER KAMPFSPORTFREUND?

Die Wahrheit ist: Nichts ist anders seit dem Wochenende! Nur, dass dem Opfer nun sogar im Grab die Ehre genommen werden soll.

Wohl weil die Verklärung Brunners andernorts ins Stocken geraten war, packte Tanit Koch noch eine Schüppe Poesie drauf:

Er hat diesen Bürgersinn nicht etwa mit seinem Leben bezahlt – es wurde ihm geraubt. (…)

Dominik Brunner starb nicht, weil er ein vergrößertes Herz hatte.

Der S-Bahn-Held starb, so erkennt die “Süddeutsche Zeitung” zu Recht an, weil er ein “großes Herz” hatte.

Franz Josef Wagner schließlich wusste es sowieso wieder besser als alle anderen und schrieb dem “lieben Held Dominik Brunner” ins Jenseits, “gegen Ihr Herzflimmern mussten Sie Mittel nehmen”. Gegen einen Herzfehler, von dem Brunner selbst Zeit seines Lebens nichts geahnt hatte.

Die Linie blieb also klar und das, was in anderen Medien “Präventivschlag” hieß, wurde bei Bild.de zum “Abwehrschlag” umdeklariert und taucht in der “Chronologie der tödlichen S-Bahn-Attacke”, wie sie heute noch online steht, gar nicht auf:

Der Mann steigt mit den Jugendlichen aus, die beiden Angreifer folgen ihnen. Plötzlich greifen sie den Mann an, er fällt zu Boden, sie treten weiter auf ihn ein.

Die Aussage des S-Bahn-Führers über Brunners Erstschlag ließ “Bild” erst mal unter den Tisch fallen und schrieb erst darüber, als ein “Lügenforscher” die Aussage “relativiert” hatte — gegenüber der Münchener Boulevardzeitung “tz”, wohlgemerkt, nicht gegenüber dem Gericht.

Der Beschreibung Brunners als “sozial besonders engagiert” setzte “Bild” die “kaputte Kindheit” und das “verpfuschte Leben des zweiten Brunner-Totschlägers” entgegen, dem die Zeitung nicht mal seine vor Gericht gezeigte Reue abnahm:

Sebastian L. behauptete: “Es tut mir auf jeden Fall wahnsinnig leid, es hätte nicht passieren müssen. Wenn ich könnte, würde ich es rückgängig machen.”

Selbst Details der Gewalt, die eigentlich für sich sprechen, hat “Bild” noch zugespitzt: Wenn der Angeklagte Markus S. “einen Schlüsselbund aus der Tasche und als Waffe zwischen die Finger” nimmt, ist das nicht nur “schlimm” oder “brutal” oder wie immer man das nennen würde, für die Schlagzeilenmacher bei “Bild” ist es “Der Schlüssel-Trick des S-Bahn-Schlägers”.

Über die erste Aussage dieses Angeklagten wusste Bild.de zu berichten:

Kein Mitleid, keine Reue, keine Tränen. Nein! Seine ersten Worte in dieser Verhandlung sind der blanke Hohn: “Ich habe einen Hass auf die Polizei.” Ungläubiges Kopfschütteln im Gerichtssaal.

(In der Bildunterschrift und der URL übrigens: “Ich hasse die Bullen.”)

Harte Worte, die aber trotzdem niemanden außer den “Bild-Reporter erschüttert zu haben scheinen: Für das Zitat findet sich keine einzige andere Quelle.

Auch mit einem anderen Detail stand “Bild” etwas alleine da:

Der damals 18-jährige Markus S. habe zweimal gerufen: “Ich bring’ dich um! Ich bring dich um!”, während er auf Brunner eingetreten und geschlagen habe, sagte die 16-jährige Schülerin, die das Ganze vom Bahnsteig gegenüber verfolgt hatte, vor dem Landgericht München aus.

… oder auch nicht, wie sueddeutsche.de berichtete:

Bei der Polizei hatte Vera B. drei Tage nach der Tat ausgesagt, dass einer der Täter zu Dominik Brunner gerufen hätte: “Ich bringe dich um!” Nun kann sie dies aber nicht mehr ganz sicher bestätigen.

Es sind letztlich eher Kleinigkeiten, die “Bild” anders wiedergibt als die meisten anderen Medien. Die Brutalität, mit der die Schläger vorgingen, zeigt sich auch daran, dass das Gericht mit seinen Urteilen nur knapp unter den Forderungen der Staatsanwaltschaft blieb. Aber es sind viele Kleinigkeiten, mit denen “Bild” das Gesamtbild verzerrt — immer darauf bedacht, das früh gezeichnete Bild vom “S-Bahn-Helden” nicht zu beschädigen.

Über den “Kachelmann-Prozess” wird in “Bild” übrigens die Journalistin Alice Schwarzer berichten — weil sie eine “voreingenommene Berichterstattung” der “anderen Leitmedien” befürchtet.

Mit Dank an die vielen, vielen Hinweisgeber in den letzten Monaten.

Kachelmann, Faymann, Apple

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Der Kachelmann-Komplex”
(ndr.de, Video, 45 Minuten, Pop-up)
Die Sendung “45 Minuten” beleuchtet die Medienschlacht zum Kachelmann-Prozess. Die Hintergrundseite dazu liefert Zusatzinformationen wie ein Interview mit den drei Autoren der Sendung: “Fassungslos über die Penetranz der Medien”.

2. “Das Spiel mit den Medien”
(dradio.de, Audio, 8,3 MB)
Die Sendung “Hintergrund” des Deutschlandfunks geht näher auf die Instrumentalisierung von Journalisten durch Staatsanwaltschaften und Anwälte ein und bringt auch das Thema Litigation-PR zur Sprache (Abschrift der Sendung).

3. “Post aus dem Kanzleramt”
(tt.com)
“Liebe Kollegen! Hat jemand ein Thema für die Krone heute?”, schreibt die Sprecherin von Österreichs Bundeskanzler Werner Faymann “an die Sprecher von SP-geführten Ministerien und die Parteizentrale”.

4. “Lärmige Inszenierungen”
(nzz.ch, Heribert Seifert)
Die Sarrazin-Debatte: Heribert Seifert sieht Medien, die “beruhigende Botschaften von der allein heilsstiftenden Wirkung wohlfahrtsstaatlicher Integrationspolitik” verkünden. “Mit dieser Mischung aus realistischen Berichten aus den Problemzonen der Einwanderung und der steten Wiederholung der immergleichen Lösungsversprechen, in denen Einwanderer nur als Objekte der Förderung und Einheimische vor allem als Ausländer- bzw. Muslimfeinde vorkommen, erzeugt man nur Misstrauen und den Verdacht, getäuscht zu werden.”

5. “Zwerge im Apfelkosmos”
(blog-cj.de, Christian Jakubetz)
Christian Jakubetz kommentiert die Enttäuschung der Printverleger über Apple. “Dass das iPad nicht per se die Rettung der darbenden Branche sein würde, war von vornherein absehbar.”

6. “Apple im Visier einer Satire-Website”
(taz.de, Julian Jochmaring)
Julian Jochmaring stellt drei Fragen zu Scoopertino, eine Website, die “Unreal Apple News” produziert.

AFP, Bild.de, dpa  etc.

Hauptsache nicht katholisch!

Es ist schon ein Kreuz mit den Religionen! Nur die wenigsten Anhänger des Islam sind islamistisch und die evangelikalen Christen haben nur sehr wenig mit der Evangelischen Kirche zu tun. Wer soll sich da noch auskennen?

Bild.de schon Mal nicht: Das Fachmagazin für christliche Werte schreibt über die Ankündigung eines radikalen evangelikalen Pfarrers aus Florida, am 11. September eine Koran verbrennen zu wollen, Folgendes:

Die evangelische Gemeinde in Gainesville (US-Bundesstaat Florida) will am 11. September Exemplare des Koran verbrennen.

Auch andere Redaktionen haben nicht so genau hingesehen, so zum Beispiel bei der Online-Ausgabe der “Frankfurter Allgemeinen Zeitung”, beim Schweizer “Tagesanzeiger” und bei “Die Presse”. Spiegel Online und evangelisch.de haben nach Leserhinweisen nachgebessert.

Ursprung des Religion-Mischmaschs waren wohl gleich zwei Agentur-Meldungen, die den christlichen Fundamentalisten zum evangelischen Priester Pastor machten: Um 10.05 Uhr hatte die Nachrichtenagentur AFP den Fehler verbreitet und schickte 34 Minuten später eine Korrekturmeldung. Um 11.17 Uhr folgte der Basisdienst der dpa in Hamburg mit dem gleichen Fehler. Dass die Agentur seit dem Nachmittag mehrere Meldungen ohne die Verwechslung publiziert hat, wurde bei vielen Abnehmern offenbar nicht zur Kenntnis genommen.

Aber die Worte des Herrn haben schon immer ihre Zeit gebraucht, um zu allen durchzudringen.

Mit Dank an Florian V., Ivo B. und Arne A.

Nachtrag, 9. September: “Tagesanzeiger” und “Die Presse” haben ihre Artikel inzwischen korrigiert.

Amokberichterstattung, Kachelmann, Irak

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Empfehlungen zur Amok-Berichterstattung”
(presserat.info)
Der deutsche Presserat stellt einen Leitfaden zur Amokberichterstattung (PDF-Datei, 54 Seiten) online, der mit einigen praktischen Negativbeispielen von “Bild” und Bild.de operiert. “Der Leitfaden soll Journalisten bei wichtigen Fragen im Redaktionsalltag eine Orientierung geben. Welche Fotos dürfen wir veröffentlichen? Welche Namen dürfen wir nennen? Welche Informationen über den Täter und die Tat können wir bringen?”

2. “Wer ist der echte und wer der falsche Kachelmann?”
(tagesschau.de, Video, 3:33 Minuten)
Die “Tagesthemen” über den ersten Tag im Prozess gegen Jörg Kachelmann. “Fast schon hysterisch die Stimmung vor dem Prozess des Jahres, an dem es die eine Wahrheit nicht gibt.”

3. “Erbarmen! Nun retten Schauspieler die Welt”
(faz.net, Jan Hauser)
Jan Hauser bemerkt vermehrt Schauspieler in den Talkshows: “Die Fernsehmacher suchen ein bekanntes Gesicht abseits der üblichen politischen Verdächtigen. Das soll den Zuschauer veranlassen, während des Schaltens durch die Fernsehprogramme inne zu halten. Die Schauspieler sollen Authentizität vermitteln und einfache Wahrheiten verbreiten.”

4. “Sarrazins 18 Prozent: Und, was können Sie sich so vorstellen?”
(beim-wort-genommen.de, Jonas Schaible)
Jonas Schaible schreibt zur Emnid-Umfrage für “Bild am Sonntag” (BILDblog berichtete) und was daraus in anderen Medien wird: “(…) weder auf der Emnid-Seite noch auf Bild.de finde ich detaillierte Angaben zur Ausarbeitung der Studie. Es fehlen sämtliche Hintergrundinformationen, es fehlt alles, dass Ergebnisse einer Studie eigentlich überprüfbar macht, das erlaubt, eine Studie einzuschätzen.”

5. “Punk’d, Iraqi-Style, at a Checkpoint”
(atwar.blogs.nytimes.com, Yasir Ghazi, englisch)
Versteckte Kamera im irakischen Fernsehen: Prominenten werden Bombenattrappen ins Auto gelegt, worauf sie von gespielten Grenzwächtern zur Rede gestellt werden: “‘Why do you want to blow us up?’ ‘You are a terrorist.’ ‘How much did they pay you to do it? You will be executed.'” Unklar ist, ob das Material mit oder ohne vorherige Aufklärung der Prominenten gedreht wurde.

6. “When it comes to phone hacking, the press is the elephant in the room”
(guardian.co.uk, Charlie Brooker, englisch)
Charlie Brooker erzählt die Geschichte einer Prominenten, die einen “ultimate celebrity faux pas” begangen habe, nämlich an zwei Tagen das genau gleiche Kleid zu tragen. Und erklärt, warum die britischen Medien so wenig zur “News of the World phone hacking affair” zu sagen haben.

Und Katzen würden Whiskas kaufen

Jede Menge verteidigende Kommentare, eine Debatte über Meinungsfreiheit und erste Anflüge von Personenkult. Man kann es nicht anders sagen: “Bild”, “Bild am Sonntag” und Bild.de haben in der Sarrazin-Debatte endgültig auf Kampagnenmodus umgeschaltet.

Den jüngsten Höhepunkt stellt eine Emnid-Umfrage für “Bild am Sonntag” dar. Völlig ungeachtet der Tatsache, dass Sarrazin selbst bei jeder Gelegenheit Ambitionen auf die Gründung einer eigenen Partei abstreitet, stellte sich “Bild am Sonntag” die eigentlich völlig überflüssige Frage:

Aber hätte eine solche politische Kraft bei Wahlen überhaupt eine Chance? BILD am SONNTAG wollte es wissen und gab bei Emnid eine Umfrage dazu in Auftrag. Das Ergebnis ist für die etablierten Parteien ein Schock: 18 Prozent der Deutschen könnten sich vorstellen, eine Partei zu wählen, deren Vorsitzender Thilo Sarrazin heißt.

Und so sieht das dann auf Bild.de aus:

Umfrage-Schock für Merkel und Gabriel: 18 Prozent würden eine Sarrazin-Partei wählen

18 Prozent klingen zunächst sehr eindrucksvoll, selbst wenn das schon eine ganz andere Hausnummer ist als die rund 90 Prozent pro Sarrazin, die Bild.de regelmäßig in Umfragen unter den eigenen Lesern feststellt. Auch alle, die glaubten, hinter Sarrazin stünde wenigstens eine (schweigende) Mehrheit, müssten von den 18 Prozent eher enttäuscht sein.

Können 18 Prozent dennoch zu Recht als “Umfrage-Schock” bezeichnet werden? Immerhin klingt das so, als könnte eine Sarrazin-Partei als dritt- oder viertstärkste Kraft in den Bundestag einziehen.

Der Trick bei dieser Art von Umfrage ist allerdings, dass diese 18 Prozent so gut wie nichts mit tatsächlich zu erwartenden Stimmen bei einer Wahl zu tun haben. Wichtig ist hier die Fragestellung und die lautet: “Könnten Sie sich vorstellen, eine neue Partei zu wählen, wenn Thilo Sarrazin Vorsitzender dieser Partei wäre?” Jeder Befragte verfügt dabei praktisch über beliebig viele Stimmen. Denn es geht nur darum, ob man sich vorstellen (!) kann, (irgendwann einmal) eine solche Partei zu wählen. Die meisten der 18 Prozent können sich wahrscheinlich auch vorstellen, noch ganz andere Parteien zu wählen.

Zum Vergleich: Im März 2008 konnten sich 27 Prozent der im ARD-Deutschlandtrend vorstellen, die Linke zu wählen. Bei der Bundestagswahl 2009 kam sie trotzdem nur auf 11,9 Prozent.

Wenn sich also durch die Emnid-Umfrage, die übrigens für eine Friedrich-Merz-Partei 20 Prozent und für eine Joachim-Gauck-Partei 25 Prozent festgestellt hat, ein Trend abzeichnet, dann ist es der, dass diese Umfragen ein Garant dafür sind, Schlagzeilen zu machen und deshalb in letzter Zeit zunehmen.

Erst vor zwei Wochen ließ der “Focus” ebenfalls Emnid ermitteln, wie viele Deutsche sich vorstellen könnten, “eine bürgerlich-konservative Partei rechts der CDU” zu wählen (20 Prozent) und erzeugte damit ein großes Medienecho.

Wie wenig diese Art von Umfrage tatsächlich aussagt, erkennt man spätestens, wenn man sich ansieht, wer als letztes bei einer solchen “Können Sie sich vorstellen”-Umfrage auf 18 Prozent gekommen ist. Nein, es waren nicht die Schuhsohlen von Guido Westerwelle. Es war Horst Schlämmer:

Stünde die "Horst-Schlämmer-Partei" aus Hape Kerkelings Kinofilm "Isch kandidiere" am 27. September tatsächlich zur Wahl, schnitte sie vermutlich besser ab als jede andere Splitterpartei. In einer Umfrage für den Stern bejahten 18 Prozent der Bundesbürger die Frage, ob sie sich vorstellen können, die "Horst-Schlämmer-Partei" zu wählen.

Was für eine Lawine des Unfugs die angeblich 18 Prozent für Horst Schlämmer damals losgetreten haben, kann man hier nachlesen:

Schwarzer, Unterschichten, Elektroschrott

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Bild setzt Alice Schwarzer auf Kachelmann an”
(heise.de/tp, Peter Mühlbauer)
Alice Schwarzer erhält von “Bild” eine wöchentliche Kolumne, in der sie den Prozess gegen Jörg Kachelmann begleitet. “Dass Kachelmann seine frühere Geliebte vergewaltigt hat, scheint für Schwarzer bereits festzustehen.”

2. “Offenheit: Mit Vorsicht zu genießen”
(fr-online.de, Daniel Bouhs)
Daniel Bouhs kommentiert die Meldung “Verbraucherzentrale kritisiert Bild-Shop” auf der Titelseite von “Bild” am Freitag.

3. “Lässt ‘Heute’ die Grünen für Dichand-Blasphemie büßen?”
(kobuk.at, Helge Fahrnberger)
Helge Fahrnberger sammelt kritische Schlagzeilen der Wiener Gratiszeitung “Heute” zur Partei “Die Grünen”: “Seit Ende Mai erschien alleine in der Printausgabe im Schnitt alle 3,7 Tage ein kritischer Artikel über die Grünen, darunter 21 große (mehrspaltige) Artikel. Angesichts des nur wenige Seiten umfassenden Politikteils eine enorme Menge.

4. “Die Aufregungsspirale”
(dradio.de, Brigitte Baetz)
Die Sarrazin-Debatte: Brigitte Baetz haben die vergangenen Tage gezeigt, dass Journalisten “nicht die Vermittler von Fakten und begründeten Meinungen, sondern die Veranstalter eines großen Kasperletheaters” sind.

5. Interview mit Gottfried Schatz
(nzz.ch, Francesco Benini)
Biochemiker Gottfried Schatz glaubt, man wisse noch zu wenig, um konkrete Aussagen zu vererbter Intelligenz zu machen. “Meine Vorfahren im südlichen Burgenland waren arme Bauern, deren Kinder meist als ungebildete Unterschicht in die USA zogen und sich dort emporarbeiteten. Hätte Sarrazin recht, stünde es um mein vererbtes intellektuelles Potenzial nicht zum Besten. Unterschichten haben uns grosse Genies geschenkt und werden dies wohl auch in Zukunft tun.”

6. “Ghana: Das Geschäft mit dem Elektroschrott”
(ardmediathek.de, Video, 7:10 Minuten)
Wie Elektroschrott aus Deutschland in Ghana verarbeitet wird.

Von Fehlern und Fehlerinnen

Zugegeben: Das mit Europa, das ist unübersichtlich. Es gibt die Europäische Union (EU), die auf die Europäischen Gemeinschaften (nicht zu verwechseln mit der Europäischen Gemeinschaft) zurückgeht, den Europarat (nicht zu verwechseln mit dem Europäischen Rat oder dem Rat der Europäischen Union), den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (nicht zu verwechseln mit dem Europäischen Gerichtshof der Europäischen Union, obwohl genau das immer wieder geschieht), das Europäische Parlament und die Europäische Kommission, die wiederum Teil der EU sind, außerdem die Europäische Rundfunkunion, die UEFA und die Band Europe. Da kann man schon mal durcheinander kommen.

Trotz dieser offensichtlichen Verwechslungsgefahren nähern sich Journalisten Themen, in denen es irgendwie um Europa geht, häufig mit großer Ahnungslosigkeit Sorglosigkeit. Statt noch mal eben schnell nachzugucken, wird da gerne mal einfach vor sich hinbehauptet. Denn letztlich wissen vor allem die Leser: Europa, das ist immer auch Bürokratie-Irrsinn und irgendwie schlecht für Deutschland.

Im Mai rief die Schweizer Politikerin Doris Stump bei einer Gleichstellungskonferenz des Europarats zum Kampf gegen sexistische Stereotype in den Medien auf, im Juni schließlich schloss sich der Europarat ihren Forderungen an und empfahl dem Ministerkomitee (und damit seinen Mitgliedsstaaten), in den eigenen Verwaltungen auf eine Verwendung “nicht-sexistischer Sprache” zu achten. Beobachter(innen), die zur Resignation neigen, werden festgestellt haben, dass die Fortschritte auf dem Gebiet in den letzten 20 Jahren anscheinend nicht sehr groß waren.

Gestern veröffentlichte dann “Bild” auf Seite 1 eine kleine Meldung, deren Langfassung auf Bild.de erschien. Autor Stefan Ernst ging dabei nicht nur auf die Empfehlung des Europarats ein, sondern füllte seinen Text auch mit zahlreichen Beispielen geschlechtsneutraler Sprache aus Frau Stumps Schweizer Heimat an, die allerdings in keinem direkten Zusammenhang zur Empfehlung des Europarats standen. Das alles war also nicht gerade neu und einigermaßen irreführend, aber auch nicht falsch.

“Welt Online” verkürzte schon etwas und hob den “Leitfaden zum geschlechtergerechten Formulieren” der Schweizer Bundeskanzlei (PDF) in neue Höhen:

Der Rat in Straßburg will Sexismus bekämpfen und rät zu geschlechtsneutraler Sprache. Es gibt bizarre Ersatzvorschläge.

Europamäßig war da aber noch alles im grünen Bereich.

Schlimmer erwischt hat es da schon den “Berliner Kurier”, der dem Thema heute gleich zwei Kommentare, geschlechtergerecht geschrieben von Mann und Frau, widmet: Martin Geiger echauffiert sich über den “EU-Irrsinns-Stadl” und fragt angesichts der Straßburger Empfehlungen und des Schweizer Leitfadens:

Wie viel Fantasie muss in Brüsseler Amtsstuben herrschen, um im Wort “Fußgängerzone” den puren Sexismus der übelsten, chauvinistischen Art auszumachen.

Geigers Kollegin Stefanie Monien geht gleich noch einen Schritt weiter und listet unter der Überschrift “EU will Mama und Papa abschaffen” noch ein paar “Gaga-Empfehlungen für die EU” (“zum Schmunzeln”) auf und erklärt, dass die Schweiz “im Übrigen” gar nicht zum Europarat gehöre — was dann richtig wäre, wenn es tatsächlich um die EU ginge und nicht um den Europarat. Konsequenterweise hat die “Hamburger Morgenpost” Moniens Kommentar gleich die Dachzeile “EU total verrückt” verpasst.

Mit Dank an Florian S. und Henning.

Sarrazin, Sonntagsbären, Lucia R.

6 vor 9

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1. “Das verstehe ich nicht”
(sz-magazin.sueddeutsche.de, Andreas Bernard)
Andreas Bernard kann nicht verstehen, warum Thilo Sarrazins Buch “Deutschland schafft sich ab” von “Spiegel” und “Bild” vorabgedruckt wurde und es nun seit zehn Tagen “mit solcher Vehemenz als Debattenstifter in Erscheinung tritt”.

2. “Wo Rauch ist, da ist auch Feuer”
(zeit.de, Bernd Ulrich)
Bernd Ulrich stellt zur Sarrazin-Debatte fest, dass in den Medien “zumeist migrantenfreundliche Menschen tätig sind”. Jedoch wirke das, was sie sagen, oft steril, “die Absichten scheinen durch, Correctness ersetzt Kenntnis”. “Mittelschicht allüberall, mit sehr ähnlichen Biografien. Dass sich daraus keine lebendige Wahrnehmung der wirklichen Welt der Migranten ergibt, liegt auf der Hand.” Abgeholfen werden könnte dem durch die Verpflichtung von bisher in den Redaktionen unterrepräsentierten Gruppen (genannt werden Migranten, Arbeiterkinder oder Ostdeutsche).

3. Interview mit Lucia R.
(derstandard.at, Harald Fidler)
Die unbeteiligte Lucia R. wird von österreichischen Medien als Mordopfer und Prostituierte präsentiert. “Es verletzt wirklich sehr, wenn das eigene Bild in einem solchen Zusammenhang missbraucht wird. Sowas können nur wirklich unverantwortliche Menschen tun.”

4. “Branchenkritik – Sonntags gibt’s Enten”
(persoenlich.com, Peer Teuwsen und Ralph Pöhner)
Peer Teuwsen und Ralph Pöhner thematisieren die Schweizer Sonntagszeitungen: “Die wirtschaftlich lukrativen Wochenend-Titel züchten zwei Tiere, die bislang in der Zoologie unbekannt waren: erstens den Sonntagsbären, mit dem der Leserschaft eine übertrieben zugespitzte Wahrheit aufgebunden wird. Zweitens die Sonntagsente: Hier wird eine Nachricht (gestützt auf ‘Insider’ oder ‘gutinformierte Personen’) selbst bei wackliger Quellenlage veröffentlicht, wobei man notfalls eine Falschmeldung riskiert.”

5. “Gekaufter TV-Auftritt”
(beobachter.ch, Otto Hostettler)
Der medizinische Leiter der im Schweizer Fernsehen ausgestrahlten Sendung “Gesundheit Sprechstunde” kontaktiert per E-Mail “gezielt PR-Agenturen, die zahlungskräftige Pharmaunternehmen zu ihren Kunden zählen. Diese sollen einen fünfstelligen Betrag bezahlen, damit sie einen pharmagenehmen Experten für die Sendung vermitteln dürfen.” Siehe dazu auch “Fragwürdige Methoden bei Suche nach Sponsoren für ‘Gesundheit Sprechstunde'” (tagesanzeiger.ch, Maurice Thiriet).

6. “Bitte aufblättern”
(magda.de, Sabine Böhne)
Sabine Böhne versucht, Studenten das Zeitungslesen beizubringen.

Duckmäuser, Farbbänder, Das Magazin

6 vor 9

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1. Interview mit Volker Lilienthal
(freitag.de, Matthias Dell)
Für Volker Lilienthal sind Journalisten heute zu häufig Duckmäuser. Er empfiehlt ihnen Haltung: “Es gibt ein Bedürfnis nach natürlicher Autorität, Kinder brauchen Vorbilder. Genauso braucht man in der öffentlichen Wahrnehmung Figuren, zu denen man ein wenig aufblicken kann, Journalisten, von denen man glaubt, dass die etwas zu sagen haben, dass die sich etwas trauen.”

2. “Generation Farbband”
(blog-cj.de, Christian Jakubetz)
Christian Jakubetz denkt über Journalisten seines Alters nach, die die Entscheidungen in den Printverlagen treffen. “So lange es aber meine Generation ist, die Entscheidungen fällt, sie aber gleichzeitig nicht ernsthaft versteht, was da überhaupt passiert, wird es schwierig werden, die richtigen Entscheidungen zu bekommen. Und solange werden sie weiter untergehen, die Vertreter und die Medien der ‘old school’.”

3. “Eingebetteter Journalismus”
(knappdaneben.net)
Max Küng, Mitarbeiter von “Das Magazin”, schreibt einen Artikel über ein von Jörg Boner (“Atelier Pfister”) designtes Bett. Gleichzeitig erscheint auf der Facebook-Seite der Firma ein von ihm geführtes Interview mit Boner. Küngs Chefredakteur, Finn Canonica, meldet sich in den Kommentaren: “Max Küng hätte nie für Möbel Pfister ein Interview machen dürfen und anschliessend bei uns im Blatt über den selben Designer schreiben. Das war ein fast unverzeihlicher Fehler, das wird nicht mehr vorkommen.”

4. “Tabloid Hack Attack on Royals, and Beyond”
(nytimes.com, Don van Natta Jr., Jo Becker and Graham Bowley, englisch)
Ein langer Artikel befasst sich mit den britischen Journalisten, die in den Besitz der PINs der Handy-Mailboxen von Mitgliedern des Königshauses kamen und diese abhörten.

5. “Washington Post Suspends Columnist for Twitter Hoax”
(nytimes.com, Joseph Plambeck, englisch)
Ein Sportkolumnist der “Washington Post” wird beurlaubt, weil er, angeblich absichtlich, eine Fehlinformation twitterte.

6. Interview mit Gina
(laurencethio.de)
Gina erzählt Laurence Thio von ihrem Praktikum in der Online-Redaktion von “Cicero”. “Zu der Zeit war gerade der neue Chefredakteur Michael Naumann beim Cicero und der wollte auch etwas an der Inneneinrichtung verändern. Und da haben wir ihm irgendwelche Spiegel hin und her getragen und Obstschalen von A nach B verrutscht.” Eine zweite Meinung ist in den Kommentaren zu lesen.

Markt der Merkwürdigkeiten

Im April eröffnete die Axel Springer AG den “Bild Shop”, in dem Kunden “jede Woche neue Themenwelten je nach Saison oder zu bestimmten Anlässen und Events sowie täglich ein besonders attraktives oder günstiges ‘Produkt des Tages'” finden können sollen.

Angebot im "Bild Shop"Die Verbraucherzentrale NRW hat die Angebote etwas genauer unter die Lupe genommen und bei ihren Stichproben “viele Merkwürdigkeiten” entdeckt: Die “Preishämmer” gab es in anderen Onlineshops im Schnitt fast zehn Prozent billiger, “Publikumslieblinge” kamen weitgehend ohne Kundenbewertungen daher und das Attribut “Testsieger” bezog sich teilweise auf Tests, die bis zu fünf Jahre zurück lagen.

Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem “Bild Shop” inklusive vieler Beispiele hat die Verbraucherzentrale heute als Pressemitteilung veröffentlicht:

Mit Dank an Martin B.

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