Normalerweise ist das eine Methode der Hacker des russischen, auf Cyberkrieg spezialisierten Militärgeheimdienstes GRU.
Bei russischen Geheimdiensten heißt solches Material “Kompromat” — Erpressungs-Material.
Dritte Spur: der russische Militärgeheimdienst GRU. Putins Cyberkrieger hackten sich bereits ins Bundestagsnetz. Reste dieser Angriffe könnten jetzt für den erneuten Daten-Angriff genutzt worden sein
Als Urheber oder Unterstützer kämen Staaten wie Russland und China infrage, hieß es zunächst. Besonders Russland steht im Verdacht, seit Jahren massiv Hackerangriffe auf Deutschland zu befehlen. Auch ein Zusammenwirken Russlands mit rechtsextremen deutschen Gruppen sei nicht auszuschließen.
Und der “Bild”-Chef selbst sprach von “einer größeren Struktur”, die dahinterstecken müsse. Das seien “nicht ein oder zwei Jungs” gewesen, “die bei Pizza und Cola light im Keller gesessen haben, bisschen Computerspiele, bisschen Youtube und dann bisschen was gehackt haben”. Das müsse “eine größere Zahl von Personen” gewesen sein “und vor allem eine professionell vorgehende große Anzahl von Personen, die dieses Material aufbereitet hat.” Wie viele? Reichelt tippte auf “eine gut zweistellige Zahl von Personen”, “die sich damit beschäftigt haben muss”, und zumindest mit “staatlicher Unterstützung, von welcher Seite auch immer”.
Die Sonderkommission “Liste” des Bundeskriminalamts hat viele Monate ermittelt, zweitweise mit 50 Beamten, mit Experten des Staatsschutzes. Es sei eine “ungewöhnlich gründliche Ermittlung” gewesen, schreiben Georg Mascolo und Ronen Steinke bei Süddeutsche.de. Im Herbst soll es am Amtsgericht im hessischen Alsfeld einen Prozess gegen Johannes S. geben, wegen des Ausspähens von Daten, Datenhehlerei und Verstößen gegen das Datenschutzgesetz. Mehr nicht. Und nichts deutet auf “den russischen Militärgeheimdienst GRU”, “Putins Cyberkrieger” oder eine “staatliche Unterstützung, von welcher Seite auch immer” hin. Johannes S. gilt nach wie vor als Einzeltäter.
Auch Reichelts Geraune vom professionellen Vorgehen ist offenbar Quatsch. Mascolo und Steinke schreiben:
Denn Johannes S., so steht inzwischen fest, war kein sonderlich talentierter und schon gar kein genialer Hacker: Er hatte einfach viel Zeit und Geduld, er rüttelte an jeder elektronischen Tür. Blieb eine verschlossen, versuchte er es bei der nächsten.
Die Methoden, die Johannes S. verwendet haben soll, klingen tatsächlich ziemlich simpel:
Die eine war das Fischen in uralten Datenbanken. Gehackte Email-Passwörter liegen millionenfach in Datenbanken von Kriminellen im Netz, viele wollen damit Geld verdienen. Sind die Passwörter schon älter, bekommt man sie aber auch umsonst. Johannes S. soll gezielt solche Uralt-Passwörter gesucht haben, die einst seinen potenziellen Opfern gehörten. Anschließend soll er deren aktuelle Accounts gesucht und das alte Passwort dort ausprobiert haben. Und siehe da, manche Menschen verwenden jahrelang dasselbe Passwort. So einfach war es.
Bei Methode Nummer zwei habe er sich Fotomontagen von Personalausweisen seiner Opfer besorgt. Mit den vermeintlichen Ausweisscans “soll er dann Provider wie Facebook angemailt haben, mit der höflichen Bitte: Ich habe meine Zugangsdaten vergessen, aber ich kann mich ausweisen. Könnten Sie mir bitte ein neues Passwort geben?”
Ziemlich einfach, aber immer noch aufwändiger als die Recherchen der “Bild”-Redaktion bei diesem Thema.
Eine große Leidenschaft der “Bild”-Redaktion: das Aufzählen von Managergehältern. Jedes Jahr, wenn Analysten und Beratungsunternehmen die Geschäftsberichte der größten Konzerne ausgewertet und daraus Gehaltsranglisten erstellt haben, verwursten die “Bild”-Medien diese zu Artikeln. Vor einer Woche schrieb Bild.de beispielsweise über “die Gehälter von Europas Top-Managern 2018”. Vor drei Tagen dann noch einmal. Bereits vor zwei Monaten ging es um “die Bezüge deutscher Topmanager”.
In den Beiträgen nennt Bild.de die Jahresgehälter von Steve Angel (Linde), Severin Schwan (Roche), Carlos Brito (Anheuser-Busch InBev), Sergio Ermotti (UBS), Bill McDermott (SAP), François-Henri Pinault (Kering), Carlo Messina (Intesa Sanpaolo), Stefan Heidenreich (Beiersdorf), Oliver Bäte (Allianz), Dieter Zetsche (Daimler), Harald Krüger (BMW) und Herbert Diess (VW). Sie reichen von 5,8 Millionen bis 55,8 Millionen Euro für das Jahr 2018 (wobei die Grundlagen für die Berechnungen teils unterschiedlich sind — bei manchen sind “Boni und Pensionsansprüche” oder Aktienoptionen dabei, bei manchen nicht).
Jetzt könnte man natürlich fragen, ob Julian Reichelt die FamiliendieserManagerinGefahrbringt und würde damit nur strikt der Logik des “Bild”-Chefs folgen.
Interessanter aber finden wir, wen die “Bild”-Redaktion in ihren Aufzählungen nie erwähnt, obwohl er mit der Höhe seines Gehalts locker reinpassen würde: ihren eigenen obersten Chef Mathias Döpfner. Das Gehalt des Vorstandsvorsitzenden der Axel Springer SE soll im vergangenen Jahr laut “kress” 7,63 Millionen Euro betragen haben. 2017 sollen es laut der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz und der Technischen Universität München 7,41 Millionen Euro gewesen sein (PDF — wobei noch Döpfners Anteil an einer Sonderzahlung von General Atlantic hinzukommt; diese betrug für alle fünf Springer-Vorstandsmitglieder zusammen 12 Millionen Euro). Und 2016 sogar über 19 Millionen Euro und damit mehr als bei allen Vorständen der 30 Dax-Unternehmen. Dabei ist die Axel Springer SE, die im MDax gelistet ist, mit rund 16.350 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie 3,18 Milliarden Euro jährlichem Umsatz deutlich kleiner als die meisten Dax-Konzerne.
Zu Döpfners möglichem Rekord-Gehalt von 2016 sagte eine Springer-Sprecherin, dass diese Berechnung auf “extrem wackeligen Füßen” stehe. Und tatsächlich sind das alles nur Schätzungen. Denn während fast jedes andere Unternehmen im Dax und im MDax die Gehälter seiner einzelnen Vorstandsmitglieder veröffentlicht, nennt Springer in seinen Geschäftsberichten (PDF, Seite 86) lediglich eine Summe für den gesamten Vorstand. Aktionärsschützer kritisieren dieses Vorgehen schon länger.
Mit dieser intransparenten Praxis des Springer-Konzerns dürfte allerdings bald Schluss sein: Eine neue EU-Aktionärsrechterichtlinie, die den Einzelausweis bei Spitzengehältern zur Pflicht werden lässt, muss bis zum 10. Juni dieses Jahres in deutsches Recht umgesetzt werden. Wir sind uns allerdings ziemlich sicher, dass die “Bild”-Redaktion trotz ihrer großen Leidenschaft für Managergehälter auch dann nicht über Mathias Döpfner berichten wird.
1. Es geht alle an (sueddeutsche.de, Kurt Kister)
Durften “SZ” und “Spiegel” das Strache-Video veröffentlichen, das vor zwei Jahren heimlich in einer Villa auf Ibiza aufgezeichnet wurde? Und spielt es eine Rolle, dass sie offenbar nichts über das Woher und Warum wussten? Kurt Kister wägt die Argumente gegeneinander ab und befindet: “Entscheidend ist, ob der Inhalt relevant ist. Dann gehört es in die Öffentlichkeit.”
Weitere Tipps zum Thema: Wie die SZ an das Videomaterial gelangt ist (sueddeutsche.de, Leila Al-Serori & Bastian Obermayer) und Wie der SPIEGEL das Strache-Video überprüft hat (spiegel.de). Und wer angesichts der ganzen Geschichte das Lachen verloren hat, kann es eventuell hier wiederfinden: So finden Sie versteckte Kameras in Ihrem Airbnb-Appartement (standard.at, Andreas Proschofsky).
2. Österreichs Medien und die Politik: Nicht für blöd verkaufen lassen (derstandard.at, Hans Rauscher)
Der Sturz von Strache und Gudenus sei “nur eine Etappe im Kampf um Medien, die ihre Rolle in der Demokratie wahrnehmen”, findet Hans Rauscher im österreichischen “Standard”. Außerdem erklärt Rauscher die politisch-mediale Gemengelage: “Die “Krone” (und Fellners “Österreich”) haben die türkis-blaue Regierung hinaufgeschrieben und sind dafür mit Millionen in Form von Inseratengeld gefüttert worden. Die “Krone” wurde durch die unfassbare Dummheit von Strache und Co (“Die übernehmen wir mit russischem Geld”) vom Unterstützer zum Gegner der FPÖ. Seit sich René Benko, der Immobilientycoon und gute Bekannte von Sebastian Kurz, bei der “Krone” (und beim “Kurier”) eingekauft hat, betrachtet die “Krone” auch Kurz etwas skeptischer.”
3. Analyse der Rede von Sebastian Kurz (threadreaderapp.com, Natascha Strobl)
Am Samstagvormittag trat Österreichs Vizekanzler und FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache nach der Veröffentlichung des sogenannten “Ibiza-Videos” zurück. Abends trat Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) vor die Kameras, verkündete das Ende der Zusammenarbeit mit der FPÖ und kündigte Neuwahlen an. Natascha Strobl hat genau hingehört und die Kurz-Rede einer lesenswerten und lehrreichen Textanalyse unterzogen.
4. Ventil oder Brandbeschleuniger? (facebook.com/moritz.gathmann)
“Bild”-Chef Julian Reichelt hat jüngst bei einer gemeinsamen Veranstaltung von Schwarzkopf- und Hertie-Stiftung über die “Verantwortung im Journalismus” gesprochen (ja, wir mussten auch lachen). Moritz Gathmann hatte die Ehre, die Veranstaltung zu moderieren, und hat seine Eindrücke von dem Abend auf Facebook niedergeschrieben. Gathmanns Resümee: “Am Ende wirkt Reichelt auf mich wie ein Metzger, der sich an solchen Abenden nachdenklich gibt über die Frage, ob man Tiere essen solle. Und dann geht er am nächsten Tag wieder lustvoll an die Arbeit.”
5. Schädliche Neigungen (message-online.com, Volker Lilienthal & Journalistik-Studierende der UHH)
Claas Relotius hat mit seinen gefälschten Artikeln vor allem dem “Spiegel” schweren Schaden zugefügt. Doch Relotius hat auch bei anderen Medien veröffentlicht, unter anderem bei der mittlerweile eingestellten “Financial Times” (Gruner + Jahr). Nun haben sich Volker Lilienthal, Professor für die “Praxis des Qualitätsjournalismus” an der Uni Hamburg, und ein Team aus Studenten und Studentinnen daran gemacht, die Relotius-Texte bei der “FTD” zu überprüfen. Eine der Einsichten: “Schon der frühe Relotius entwickelte schädliche Neigungen, er recherchierte seine Fakten nicht immer sorgfältig, er kupferte manchmal bei anderen ab, und er hübschte seine Storys gelegentlich auf, indem er Vor-Ort-Sein suggerierte und mutmaßlich auch Zudichtungen vornahm. Dies alles zu einer Zeit, als der damalige Mitzwanziger noch an der Hamburg Media School studierte bzw. kurz nachdem er dort Ende 2011 seinen Masterabschluss gemacht hatte.”
6. Liebe “heute-show”, wo ist deine Ambition geblieben? (dwdl.de, Hans Hoff)
Anlässlich des bevorstehenden zehnten Geburtstags, hat Hans Hoff der “heute-show” einen Brief geschrieben. Dabei geht es um eine enttäuschte Liebe: “Mensch, “heute-show”. Du wirst zehn Jahre alt. Reiß dich mal am Riemen, mach mal das Kreuz gerade und schiel nicht immer nur nach Masse. Du warst doch mal eine ganz intelligente Form der Unterhaltung. Warst du nicht? Okay, dann war ich früher vielleicht anspruchsloser.”
1. BAMF-“Skandal” wird immer kleiner (daserste.ndr.de, Christine Adelhardt & Stella Peters, Video: 10:12 Minuten)
Vor einem Jahr erschütterte die sogenannte “BAMF-Affäre” die Republik. Unter einer angeblich korrupten Chefin habe das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in Bremen angeblich Tausende Asylsuchende ohne Rechtsgrundlage durchgewunken. Auch der Innenminister sprach damals öffentlich von einem “Skandal”. Ein Skandal, von dem am Ende nicht viel übrig bleibt, wie Recherchen von “Panorama” und “SZ” ergeben. Dies musste auch das Innenministerium zugeben, nachdem es 18.000 positiv beschiedene Asylbescheide aus Bremen überprüft hatte.
2. Die Meinungsfreiheit der anderen (evangelisch.de, Christian Bartels)
Die deutsche Sektion der “Reporter ohne Grenzen” feiert dieses Jahr ihr 25-jähriges Bestehen. Für den Medienjournalisten und Kollegen des stets lesenswerten Medien-Watchblogs “Altpapier” Christian Bartels ein guter Anlass, die verdienstvolle Arbeit der rund 30 “ROG”-Mitarbeiter zu würdigen.
3. Warum das ZDF die News-Dosis erhöht – und die ARD nicht (dwdl.de, Timo Niemeier)
Während das ZDF dem “heute journal” mehr Sendezeit am Sonntag spendiert, wurde bei der ARD am Freitag sogar noch gekürzt. Timo Niemeier fragt sich, wie das unterschiedliche Vorgehen zu erklären ist.
4. Relaunch der FAZ-App als papierner Irrweg: Nicht das Layout, sondern die Arbeitskultur muss sich ändern (meedia.de, Franz Sommerfeld)
Die “FAZ” hat ihre Zeitungs-App relauncht. Man habe sich dabei noch stärker an die gedruckte Zeitung angelehnt, was von Publizist Franz Sommerfeld kritisiert wird: “(D)ie Rückbesinnung auf die papierne Vergangenheit ist ein Irrweg. Eine solche App kann sich nur auf die mobilen Leser fokussieren, denn die journalistische Zukunft findet auf mobilen Geräten statt. Statt dessen wird hier dieselbe Papierzeitung neben dem E-Papier nun ein weiteres Mal, allerdings in einer digitalen App präsentiert”.
5. Wie die AfD mit einer falschen Zahl durchkommt (deutschlandfunk.de, Panajotis Gavrilis)
Mehrere Medien und Agenturen übernahmen die AfD-Mitteilung, nach der in Integrationskursen angeblich 45 Prozent aller Einwanderer durchfielen. Eine irrtümliche oder absichtliche Fehlinterpretation der offiziellen Zahlen. Oder wie es der Direktor des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung ausdrückt: “Die AfD kann offensichtlich nicht richtig rechnen. Sie hat verglichen zwei Zahlen, die miteinander überhaupt nichts zu tun haben. Diejenigen, die solche Kurse angefangen haben in einem bestimmten Zeitraum und die Zahl derjenigen, die sie abgeschlossen haben — die in einem anderen Zeitraum. Beide Gruppen haben überhaupt nichts miteinander zu tun, sodass man keine Quoten berechnen kann, sodass diese Zahlen völlig aus der Luft gegriffen sind und keinerlei Substanz haben.”
Weiterer Lesetipp: Unser Beitrag vom 8. Januar 2018: “Bild”-Medien lassen Flüchtlinge durch Deutsch-Tests fallen (bildblog.de, Moritz Tschermak).
6. ORF.at verabschiedet sich von Facebook (orf.at)
Der österreichische Fernsehsender ORF zieht sich (zumindest mit seiner Hauptseite) von Facebook zurück. Das hat vielerlei Gründe, von grundlegenden Bedenken gegenüber dem Netzwerk als solchem bis hin zu pragmatischen Erwägungen.
Nachtrag: Am 6. März 2019 empfahlen wir den Beitrag “Bild”-Chef im Delirium zur Lektüre, in dem ein Autor der “Kontext Wochenzeitung” auch den Zentralrat Deutscher Sinti und Roma für seine Veranstaltung mit “Bild”-Chef Julian Reichelt kritisierte. Am gestrigen 28. März hat der Zentralrat eine Replik des Moderators der Veranstaltung und wissenschaftlichen Leiters veröffentlicht.
Vergangene Woche jährte sich der Amoklauf in Winnenden zum zehnten Mal. Ein Jugendlicher tötete am 11. März 2009 an seiner Schule 15 Menschen und sich selbst.
Das NDR-Medienmagazin “Zapp” zeigte Ende Februar noch einmal, wie Medien und Journalisten damals vor Ort vielfach Grenzen überschritten. Dafür führten die “Zapp”-Reporter Daniel Bouhs und Sabine Schaper auch ein Interview mit SWR-Reporter Knut Bauer, der vor zehn Jahren für den ARD-Hörfunk in Winnenden war. Bauer erzählt unter anderem diese Geschichte:
Noch schlimmer habe ich es erlebt in einem Fotogeschäft. Auch da habe ich nicht drüber nachgedacht. Und da war es auch eine ganz bizarre Situation, dass die Frau in diesem Fotoladen mich eigentlich fast wieder rausschmeißen wollte. “Gehen Sie, gehen Sie, gehen Sie.” Und ich habe dann gesagt: “Jetzt lassen Sie uns erstmal in Ruhe drüber reden. Ich weiß, dass es ganz schwierig ist. Ich mache ja auch nur meinen Job und mir ist es auch nicht wohl dabei.” Und dann kam ein anderer Mitarbeiter oder ihr Sohn — ich weiß gar nicht, wer es war — und hat das Gespräch dann übernommen und hat mir erzählt, dass am Tag vorher auch Boulevardjournalisten da waren, die Geld auf den Tisch gelegt haben, um Fotos, Konfirmationsfotos von den toten Schülerinnen und Schülern zu bekommen. Also das ist dann schon bizarr und abstoßend. Und ich muss ganz ehrlich sagen: Da gab es viele Situationen, wo ich mich dann auch geschämt habe.
Wer macht sowas? Wer bedrängt Leute, die trauern, die mitgenommen sind, die sich in einer emotionalen Ausnahmesituation befinden — nur um an Fotos von getöteten Menschen zu kommen? Zum Beispiel “Bild”-Chef Julian Reichelt.
Reichelt war damals, als die Medienmeute in Winnenden einfiel, natürlich noch nicht Chefredakteur. Aber er war für Bild.de als Reporter dabei. Es gibt ein Video von ihm:
Reichelt sagt darin:
Hier in Süddeutschland, in dieser scheinbaren Idylle, begann einer der blutigsten Amokläufe der deutschen Kriminalgeschichte.
Leutenbach, in der Nähe von Stuttgart in Baden-Württemberg, eine Stadt unter Schock. Hier in dem Haus hinter mir hat Amokläufer Tim K. gewohnt. Von hier brach er auf auf seinen blutigen Feldzug.
Patrick S. hatte gerade Deutschunterricht an der Albertville-Realschule in Winnenden, als der kaltblütige Amokschütze Tim K. sein Blutbad begann. Mehrere Kugeln trafen den Schüler.
“Bild” sitzt im Wohnzimmer der Familie von Patrick S. und lässt den Schüler seine mit Pflastern überklebten Verletzungen zeigen. Es folgt ein Interview, das offenbar nicht Reichelt führt, jedenfalls klingt die Stimme des Interviewers anders. Patrick S. kann zu den Fragen (“Was hatte er für eine Waffe?”, “Eine Waffe? Oder hatte er mehrere?”, “Was hatte er an?”, “Wie oft hat er geschossen?”, “Hat denn jemand geschrien?”) nicht wirklich etwas sagen. Es schüttelt wiederholt den Kopf, atmet tief durch.
Dann setzt Reichelt erneut ein, als Off-Sprecher:
Patricks Mitschülerin Chantal ist eine der ermordeten Schülerinnen. Er zeigt uns ein altes Klassenfoto. Ein weiteres Opfer des Killers von Winnenden ist Jana. Sie galt unter Mitschülern als beliebt, kontaktfreudig, lebensfroh. Wie Patrick ging auch sie in die neunte Klasse der Realschule und stand kurz vor ihrem Schulabschluss. Jana und Chantal — junge Mädchen aus der Nachbarschaft des Täters.
Im Video sind die Bilder der beiden Mädchen unverpixelt und in Großaufnahme zu sehen (daher verzichten wir auf einen Link). Der Vater von Chantal äußerte sich kurze Zeit später dazu, dass “Bild” und einige Fernsehsender Fotos seiner Tochter zeigten: “Dreimal hintereinander sind Bilder von Chantal erschienen, ohne dass wir das gewollt hätten. Wir hätten das nie erlaubt.” Die “Bild”-Medien veröffentlichten nach dem Amoklauf wiederundwiederFotos, auf denen die Opfer zu sehen waren. Und Julian Reichelt hat mitgemacht.
Heute leitet Reichelt also die “Bild”-Medien. Und es sieht nicht danach aus, als würde seine Redaktion in absehbarer Zeit darauf verzichten, Fotos von Verstorbenen zu zeigen. Solche Aufnahmen begegnen uns immer wieder, mitunter groß auf der “Bild”-Titelseite. Erst vor ein paar Tagen, nach dem Absturz eines Flugzeugs in Äthiopien, bei dem 157 Menschen ums Leben kamen:
(Alle Unkenntlichmachungen in diesem Beitrag stammen von uns.)
Wobei “Die deutschen Opfer” vor allem bedeutet: Die drei deutschen Opfer, bei denen die “Bild”-Redaktion an Fotos gelangen konnte (und von denen “Bild” auch noch die Berufe und die kompletten, teilweise falschen Namen nennt). Die zwei weiteren Deutschen, die bei dem Absturz gestorben sind, spielen in der “Bild”-Ausgabe keine Rolle.
Es müssen auch gar nicht große Ereignisse wie ein Amoklauf oder ein Flugzeugabsturz sein, nach denen die “Bild”-Mitarbeiter losziehen, Fotos von Verstorbenen zusammenklauben und diese groß und ohne Unkenntlichmachung abdrucken:
In diesem und in manchen anderen Fällen bringen die Familien der Verstorbenen die bewundernswerte Kraft auf, sich in einer Zeit tiefster Trauer gegen die Schweinereien der “Bild”-Redaktion zu wehren.
1. Medien machen sich zu Mittätern (deutschlandfunk.de, Stefan Fries)
“Die Medien, die sich auf die Logik des Attentäters von Christchurch eingelassen haben, waren Komplizen bei seiner Tat. Denn sie haben das vollendet, was er begonnen hat”, findet Stefan Fries zur Berichterstattung über das Attentat.
Weitere Informationen und Lesehinweise: Der DJV kritisiert die Veröffentlichung des Täter-Videos (deutschlandfunk.de).
Bei der “Hannoverschen Allgemeinen” geht es um die Frage “Ist es strafbar, die Aufnahmen des Christchurch-Attentäters zu teilen?”
Und Carolina Schwarz freut sich in der “taz”, dass keiner ihrer Twitter- und Facebook-Kontakte das Täter-Video oder das sogenannte “Manifest” teilte: “Zum Glück gibt es eine Vielzahl von Nutzer*innen die klüger sind als Algorithmen und Julian Reichelt.”
2. Facebook, was machst du mit uns? (zeit.de, Caroline Lindekamp)
Wie wirkt sich Facebook auf die Stimmung seiner Nutzerinnen und Nutzer aus? Wie machen sich die damit einhergehenden Filterblasen und Echokammern bemerkbar? Wird dort Meinung manipuliert? Gibt es eine “Facebook-Depression”? Caroline Lindekamp berichtet in ihrer Analyse von den verschiedenen Untersuchungen zum Thema und den Unterschieden zwischen Deutschland und den USA.
3. Journalismus bei TikTok: 1Live wagt die ersten Experimente (socialmediawatchblog.de, Martin Fehrensen)
Viele Menschen haben noch nie von der Video-App TikTok gehört, dabei soll sie hierzulande von etwas mehr als vier Millionen Menschen genutzt werden. Im “Social Media Watchblog” wurde bereits ausführlich über die gehypte Software berichtet (in einem Grundlagenartikel in der Ausgabe 524 und in den Tech Trends der Ausgabe 531). Nun konnte das “Social Media Watchblog” den 1Live-Verantwortlichen Robert Rack für ein Werkstattgespräch über die dort stattfindende TikTok-Pilotphase gewinnen.
4. Das Problem Verfassungsschutz hat eine lange Geschichte (netzpolitik.org, Sebastian Wehrhahn & Martina Renner)
Sebastian Wehrhahn und Martina Renner erkennen beim Verfassungsschutz eine “lange Traditionslinie des Vertuschens und Verharmlosens rechter Gewalt”. In ihrem Gastbeitrag berichten sie von den Anfangszeiten des Bundesamts in den 50er-Jahren bis zur Jetzt-Zeit mit der Causa Maaßen. Das Problem beim Verfassungsschutz seien nicht die vielen Skandale, sondern der Verfassungsschutz selbst: “Er dient nicht dem Schutz der Demokratie, sondern der Überwachung politischer Gegner, der Steuerung von antidemokratischen Szenen und dem Erhalt und Ausbau des eigenen Einflusses.” Der Verfassungsschutz arbeite aktiv gegen die Demokratisierung der Gesellschaft und müsse deshalb aufgelöst werden.
5. Warum guter Journalismus Empathie braucht (de.ejo-online.eu, Antje Glück)
“Gute Berichterstattung hängt nicht allein von der reinen Informationsbeschaffung ab, sondern grundsätzlich auch davon, wie Journalisten eine Situation emotional wahrnehmen, verstehen und behandeln”, findet Antje Glück. Im Journalismus gehe es zuallererst um Menschen, so die Journalistin, die an der Universität Teesside im Nordosten Englands lehrt. Der Umgang mit Menschen erfordere vor allem eines: emotionale Intelligenz. Glücks Credo: “Empathie als journalistische Arbeitsressource prägt die professionelle und ethische Entscheidungsfindung in viel stärkerem Maße als bisher angenommen.”
6. Viel reden, wenig sagen (faz.net, Oliver Georgi)
Die “FAZ” veröffentlicht einen Auszug aus Oliver Georgis Buch “Und täglich grüßt das Phrasenschwein: Warum Politiker keinen Klartext reden — und wieso das auch an uns liegt”. Es geht unter anderem um die “kleinen Leute”, um Menschen, deren “Sorgen man ernst nehmen müsse”, um das “vollste Vertrauen”, “politische Verantwortung” und alles, was in irgendeiner Form “nachhaltig” ist.
Alle Täter haben sich an anderen orientiert, besonders an den Amokläufern der Columbine Highschool. Die Tat war medial besonders inszeniert — einer der Täter hatte eine Homepage, über die er seinen Hass verbreitet hat. Außerdem ist ein Video eines Teils dieser Tat ins Internet gelangt. Das ist Nachahmungsmaterial für Pubertierende, die Vorbilder suchen: Sie sehen die Klamotten der Täter, sehen, wie sie herumstolzieren.
Schulamokläufer und Terroristen sichern sich durch das kalkulierte Ausüben von Gewalt einen Platz in den Schlagzeilen der Weltpresse. Sie folgen damit einer bewährten Kommunikationsstrategie, die ebenso menschenverachtend wie durchschaubar ist. Dieses Kalkül der Täter geht insbesondere dann auf, wenn Medien die destruktiven Botschaften der Täter ungefiltert weitertragen. Sie verbreiten auf diese Weise Angst in der Gesellschaft, belasten die Opfer und liefern im schlimmsten Fall eine Inspiration für Nachahmer.
Die Identifikation mit früheren Tätern, die durch die extensive Berichterstattung berühmt geworden sind, einschließlich der Veröffentlichung ihrer Namen, Gesichter, Lebensgeschichten und Hintergründe, löst einen mächtigeren Schub in Richtung Gewalt aus als psychische Erkrankungen oder der Zugang zu Waffen.
Wie viel und vor allem welche Berichterstattung ist angemessen? Wo verläuft die Grenze zwischen richtiger und notwendiger Information der Öffentlichkeit und einer Berichterstattung, die den Terroristen in die Hände spielt?
Beim Terrorismus geht es nicht in erster Linie ums Töten. Es geht vielmehr um das “Terrorisieren”, es ist eine spezielle Form der Provokation. Eine Tat, die keine Verbreitung findet, ist daher nutzlos.
Wir zeigen diese Bilder ganz bewusst. Wir glauben, dass wir diese Bilder zeigen müssen.
… schreibt “Bild”-Chef Julian Reichelt. Er meint damit die “Bilder und Sequenzen aus dem Video, das der rechtsextreme Terrorist von Christchurch während seiner abstoßenden Tat anfertigte.” Am vergangenen Freitag erschoss ein Mann in der neuseeländischen Stadt offenbar gezielt Muslime in zwei Moscheen. 50 Menschen starben.
Schon kurz nach den ersten Meldungen über Schüsse in Christchurch veröffentlichte Bild.de einen Zusammenschnitt der Aufnahmen des Attentäters, die dieser auf seiner Facebook-Seite live streamte. Die Redaktion warb auf ihrer Startseite mit dem Hinweis “MIT VIDEO” um Klicks:
(Alle Unkenntlichmachungen in diesem Beitrag durch uns.)
Zu dieser Zeit bat die neuseeländische Polizei bei Twitter darum, das Video nicht zu verbreiten. Bild.de zeigt es trotzdem. Die Redaktion hat jene Videosequenzen rausgeschnitten, in denen Menschen erschossen werden; sie zeigt stattdessen Standbilder daraus. Darauf sind Leichen und Blut zu sehen, auch ein Opfer, das direkt vor dem Täter steht, kurz bevor es erschossen wird. Schüsse sind zu hören.
Als gäbe es keine Abstufungen zwischen dem Zeigen dieses ganzen Materials auf der einen Seite des Spektrums und Trauer auf der anderen, schreibt “Bild”-Chef Reichelt:
Aber Trauer allein reicht im Journalismus nicht. Trauer ist keine journalistische Disziplin. Journalismus muss zeigen, was geschehen ist. Journalismus ist dazu da, Bilder der Propaganda und Selbstdarstellung zu entreißen und sie einzuordnen.
Nur findet man diese Einordnung im Zusammenschnitt von Bild.de nicht. Die Redaktion blendet ein paar Sätze ein, in denen steht, was man gerade sieht. Das war’s. Ansonsten ist es das bloße Abspulen der vom Täter erstellten und von Bild.de gekürzten Aufnahme. Reichelt und sein Team reichen die “Propaganda und Selbstdarstellung” lediglich weiter. Worin soll hier ein Informationswert stecken? Welche Erkenntnis liefern die Bilder, die man nicht durch das einfache Beschreiben erreichen könnte? Worin steckt der aufklärerische Wert? Bild.de verbreitet die Aufnahmen, die der Attentäter verbreiten wollte. Die Redaktion hilft ihm beim Versuch, Aufmerksamkeit zu generieren, Angst zu machen und sich zu inszenieren, wie sie es schon bei früherenAttentatenund Amokläufen getan hat. Reichelt schreibt in seinem Kommentar, durch Journalismus werde “aus einem Ego-Shooter-Video ein Dokument, das Hass demaskiert und aufzeigt, was der Terrorist von Christchurch ist: kein Kämpfer, kein Soldat.” Nein, bei Bild.de bleibt das Ego-Shooter-Video ein Ego-Shooter-Video. Auch wenn Reichelt die Entscheidung weiter rechtfertigt:
Das Video des Massakers ist online überall genauso verfügbar, wie der Täter es wollte. Journalismus darf solche Bilder aber nicht Social Media überlassen.
Es drängt sich der Eindruck auf, dass es hauptsächlich darum geht, Social Media nicht die Klicks zu überlassen.
Schaut man sich die Berichterstattung der “Bild”-Zeitung vom Samstag an, wird noch einmal klar, wie fadenscheinig Reichelts Argumentation mit dem Einordnen ist. “Bild” bietet dem Täter, seinem Anschlag und seinem Manifest die Öffentlichkeit, die er sich gewünscht haben dürfte: die Titel- und fast eine komplette Doppelseite (die Opfer bekommen nur die untere rechte Ecke ab):
Die journalistische Einordnung, von der Julian Reichelt spricht, sieht dann etwa so aus: Ein eigener Artikel dazu, welche Waffen der Täter dabeihatte. Es ist ein bloßes Runterrattern: Der hatte das dabei und das und das und davon zwei. Am Ende noch ein Hinweis, dass das eine Gewehr auch schon mal von einem anderen Attentäter eingesetzt wurde. Das soll die Einordnung sein, die alles ändert? Und welche einordnende Wirkung soll ein “Protokoll”, versehen mit reichlich Standbildern aus dem Video des Terroristen, haben?
Ähnlich schlimm wie “Bild” macht es die “B.Z.”:
Diese Titelseite, vermutlich das Ergebnis eines hirnrissigen Zwangs, alles möglichst aufs Lokale runterzubrechen, ist das Gegenteil von Einordnung. Sie verklärt. Sie übernimmt die Erzählung des Attentäters, dass es sich um Rache handelt — als könnte das Morden an Muslimen in Neuseeland tatsächlich irgendwie das Morden eines Islamisten in Deutschland rächen. “B.Z.”-Chrefredakteurin Miriam Krekel stellt es so dar, als wäre der rechtsextreme Terror in Christchurch eine zu erwartene Reaktion auf den Anschlag am Breitscheidplatz, wenn sie schreibt:
“Auge um Auge, Zahn um Zahn.” Unschuldige Gläubige sollen sterben, weil ein krankhaft “Gläubiger” am Breitscheidplatz unschuldige Menschen tötete. Die Tat zeigt einmal mehr, dass Rache und Hass mehr Rache und Hass hervorrufen.
Die Kritik an der Berichterstattung von Bild.de, “Bild” und “B.Z.” bedeutet natürlich nicht, dass Redaktionen das Attentat in Christchurch verschweigen sollten, so, wie sie kein Attentat verschweigen sollten. Sie sollten aber auch nicht zum medialen Handlangern eines rechtsextremen Terroristen werden. Eigentlich hat “Bild”-Briefonkel Franz Josef Wagner, den man nun wahrlich nicht oft als Positivbeispiel anführen kann, bereits 2011 alles gesagt, als er zum rechtsextremen Terror in Norwegen schrieb:
Wie geht man mit so einem Massenmörder um?
Zigarette? Kaffee, Wasser?
Galgen, Todesspritze?
Ich glaube, die höchste Strafe für den Attentäter wäre die Bedeutungslosigkeit. Nicht mehr über ihn zu berichten, seine Fotos nicht mehr zu zeigen, seine wirren Ideen nicht mehr im Internet zu lesen.
Dieser Typ will ja, dass alle Welt über seine Morde berichtet. Die Höchststrafe für diesen Psycho ist, dass er ein kleines Arschloch ist.
Nachtrag, 17. Juni: Bild.de hat für die Veröffentlichung der Videosequenzen vom Deutschen Presserat eine Rüge bekommen. Die Redaktion habe “sich zum Werkzeug des Täters gemacht”:
Mit der Veröffentlichung seiner Video-Ausschnitte bot die Redaktion dem Täter genau die öffentliche Bühne, die er haben wollte. BILD.DE verstieß damit gegen Richtlinie 11.2 des Pressekodex, wonach die Presse sich nicht zum Werkzeug von Verbrechern machen darf. Zwar veröffentlichte die Redaktion unter der Schlagzeile „17 Minuten Mordfeldzug“ nicht die Taten selbst, sondern zeigte den mutmaßlichen Mörder auf dem Weg zu den Moscheen und beim Laden seiner Waffen. Diese Bilder reichten jedoch, um Assoziationen zu erzeugen, die weit über das berechtigte öffentliche Interesse an dem Geschehen hinausgingen. Auch die detaillierte, dramatisierende Schilderung und drastische Bebilderung im Begleittext zum Video bedienten nach Ansicht des Beschwerdeausschusses überwiegend Sensationsinteressen.
Wenn es um das Eingestehen von Fehlern geht und das Korrigieren dieser, ist “Bild”-Chef Julian Reichelt 1A-Superspitzenklasse — laut Julian Reichelt:
Es fällt mir grundsätzlich leicht, mich zu entschuldigen, wenn wir Fehler gemacht haben. Es ist aber nicht so, dass ich mich über Entschuldigungen freue, gar nicht. Ich glaube aber, dass sie ein wichtiger Teil der journalistischen Aufrichtigkeit und Ausdruck unserer proaktiven Kommunikation sind.
In “Bild” und bei Bild.de, wo es dem Chef “grundsätzlich leicht” falle, “mich zu entschuldigen, wenn wir Fehler gemacht haben”, ist der eigene Fehler kein Thema. Im Gegenteil:
Kamen in der Flüchtlingskrise massenhaft Kriegsverbrecher nach Deutschland, ohne dass die Sicherheitsbehörden Hinweisen nachgingen?
Nachdem BILD gestern darüber berichtete hatte, verspricht Bundesinnenminister Horst Seehofer (69, CSU, Foto) Antworten: “Wenn es etwas aufzuarbeiten gibt, wird dies geschehen”, sagte er am Rande eines EU-Innenministertreffens in Brüssel.
Seehofer, selbst massiver Kritiker der damaligen Flüchtlingspolitik, der Bundesregierung, weiter: “Ich lege Wert darauf, dass ich schriftlich einen Bericht bekomme, damit die Öffentlichkeit informiert werden kann, was mit diesen Meldungen geschehen ist.”
Die “Bild”-Redaktion und “Bild”-Chefreporter Peter Tiede tun heute so, als hätten sie die Aufklärung zur Verwirrung um die Hinweise auf Kriegsverbrecher angeschoben, dabei waren sie es, die gestern mit ihrer falschen Seite-1-Überschrift überhaupt erst für die Verwirrung gesorgt haben. Das ist die Transparenz unter Julian Reichelt, über die Mathias Döpfner so jubelt: Das Weglassen eines weiteren Seehofer-Zitats, in dem der Innenminister “Bild” und Tiede widerspricht, wenn er sagt, die Hinweise seien “nicht einfach von den Sicherheitsbehörden abgelegt worden, sondern natürlich geprüft worden”.
Peter Tiede wiederholt heute noch einmal seine falsche Behauptung, es handele sich um “5000 Hinweise auf Kriegsverbrecher unter Flüchtlingen”:
BILD hatte unter Berufung auf eine Anfrage der FDP-Innenexpertin Linda Teuteberg (37) berichtet, dass beim Bundeskriminalamt seit 2014 zwar mehr als 5000 Hinweise auf Kriegsverbrecher unter Flüchtlingen eingegangen sind — daraus aber nur 129 konkrete Ermittlungen erfolgten.
Wir wiederholen das auch gern noch einmal: Tatsächlich geht es um 5000 Hinweise auf Kriegsverbrecher von Flüchtlingen, die diese in ihren Asylverfahren gegeben haben. Es sind nicht “5000 Hinweise auf Kriegsverbrecher unter Flüchtlingen”. Es können sich mehrere Hinweise auf dieselbe Person beziehen, genauso kann sich ein Hinweis auf eine Personengruppe beziehen. Manche dieser Hinweise sind sehr konkret, mit Namen eines oder mehrerer Beschuldigten. Manche sind aber auch sehr vage, ohne mögliche Ermittlungsansätze für die zuständigen Behörden. Viele der Personen, die in diesen Hinweisen als Kriegsverbrecher beschuldigt werden, befinden sich im Ausland, etwa in Syrien oder dem Irak, und nicht in Deutschland. Das heißt allerdings nicht, dass keine möglichen Kriegsverbrecher als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind.
Es bleibt dabei, auch wenn “Bild” nichts in Richtung Korrektur unternimmt: Die Seite-1-Überschrift von gestern war Alarmismus und falsch. Lustigerweise fragt die Redaktion heute im Blatt, direkt neben ihrem Kriegsverbrecher-Weiterdreh:
Wo das Problem sitzt, das dazu führt, dass ständig Alarm herrscht, wo eigentlich keiner ist? Unter anderem im Axel-Springer-Hochhaus.
Klaut man einem Teamkollegen im Spiel Counter-Strike den Abschuss eines Gegners, nennt man das: “Killsteal”. Klaut man einer anderen Website das Counter-Strike-Glossar, nennt man das: das Vorgehen von Bild.de.
Die Counter-Strike-Szeneseite “99Damage” definiert “Killsteal” in einem Glossar, erschienen am 3. Februar 2017, so:
Klar, könnte ein Zufall sein — “Killsteal” ist ja schnell mit “Abschuss klauen” übersetzt. Dann wäre es aber einer von vielen Zufällen. Zum Begriff “Ninja (Defuse)” etwa schreibt Bild.de:
Die Entschärfung der Bombe, wenn noch nicht alle Terroristen ausgeschaltet sind.
Und “99Damage”:
Die Entschärfung der Bombe bei noch lebenden Terroristen
Bild.de zum “Wallbang”:
Den Gegner durch eine Wand oder andere Objekte anschießen oder ausschalten.
“99Damage”:
Den Gegner durch eine Wand oder andere Objekte verletzen oder töten
Einige der Definitionen hat Bild.de nicht mal plump umgeschrieben, sondern komplett abgeschrieben. Zu “Prefire” beispielsweise steht bei Bild.de:
Auf Verdacht auf eine bestimmte Position schießen.
… genauso wie bei “99Damage”.
Zu “Wallhack” schreibt Bild.de:
Ein Cheat, der es ermöglicht, den Gegner durch Wände zu erkennen.
Auch das findet man exakt so bei “99Damage”.
Insgesamt listet die Bild.de-Redaktion 71 Counter-Strike-Begriffe auf. 66 davon gibt es auch bei “99Damage”, zumeist ähnlich oder komplett gleich definiert. Neben Killsteal, Ninja (Defuse), Prefire, Wallbang und Wallhack sind das:
Ace
A-D-A-D-A-D’ing
ADR
Aimbot
Aimpunch
Anti-Eco
Assist
Backstabbing
Buffed
Callout
Camper
Carry
Choke
Clutch
Crossfire (Kreuzfeuer)
Crouch-Jump
Deagle
Dinked
Drop
Eco
Entryfrag
Exitfrag
Fake
Flawless
Force(-buy)
Frag
GG
Headglitch
HP
IGL
Jumpshot
Jumpthrow
Krieg
Legged
Long Jump
Lurker
Molly
Nade
Nerf
No Scope
Noob
Peek
Pick
Pistol-Round
Push/Rush
Recoil
Recoil Control
Refrag
Retake
Rotate
Run’n’Gun
Save
Scout
Split
Stack
Step
Tagging
Tappen
Team-Ace
TK
Toxic
Wir haben bei den Mitarbeitern von “99Damage” nachgefragt, ob sie Bild.de erlaubt haben, sich am Glossar zu bedienen. Haben sie nicht. “Bild”-Chef Julian Reichelt spricht in solchen Fällen gern von digitalenHühnerdieben.
Mit Dank an Reyk M. für den Hinweis!
Nachtrag, 16:25 Uhr: Was schon in der Schule verräterisch ist, ist auch für Redaktionen blöd: beim Abschreiben Fehler zu übernehmen. Zum Begriff “Killsteal” muss es korrekterweise natürlich heißen: “Jemandem den Abschuss klauen” und nicht, wie Bild.de schreibt, “Jemanden den Abschuss klauen”.
Mit Dank an Frank M., Ralf S. und @Gunneone für die Hinweise!
1. “Protagonistin erfunden”: SZ Magazin trennt sich von preisgekröntem Autor – Spiegel und Zeit überprüfen Artikel (meedia.de, Marvin Schade)
Laut “Meedia” hat das “SZ Magazin” einen freien Autor und Kolumnisten beim allzu freien Storytelling erwischt. Eine Verlagssprecherin dazu: “Das Süddeutsche Zeitung Magazin hat eine für den Druck vorgesehene Geschichte eines freien Journalisten nicht veröffentlicht, weil Redaktion und Dokumentation des Magazins feststellen mussten, dass eine die Geschichte tragende Person nicht existiert.” Man werte dies als “groben Verstoß gegen die journalistischen Standards” und habe die Zusammenarbeit mit dem Journalisten beendet. Der namentlich ungenannte Journalist hat auch für andere Medien gearbeitet. Dort würden nun alle bisherigen Texte des Autors geprüft.
2. Abtreibungsgegner Yannic Hendricks geht gegen BuzzFeed News in Berufung, weil wir seinen Namen nennen (buzzfeed.com/de, Juliane Loeffler)
Der Abtreibungsgegner und notorische Ärzte-Anzeiger Yannic Hendricks hat Berufung gegen das Urteil in einem Rechtsstreit mit “BuzzFeed News Deutschland” eingelegt. Das Düsseldorfer Landgericht hatte im Januar entschieden, dass “BuzzFeed” den Namen von Yannic Hendricks öffentlich nennen durfte. Yannic Hendricks besteht jedoch anscheinend weiterhin darauf, dass sein Name (Yannic Hendricks) nicht genannt wird.
3. RTL-Gruppe macht Ex-Bild-Frau Tanit Koch zur n-tv-Chefin (wuv.de, Petra Schwegler)
Tanit Koch leitete zusammen mit Julian Reichelt die “Bild”-Redaktion, bis sie vor einem Jahr plötzlich aus dem Unternehmen ausschied. Von einem verlorenen Machtkampf mit Reichelt war die Rede. Nun wechselt Koch ins RTL/Bertelsmann-Imperium und übernimmt beim Fernsehsender n-tv die Geschäftsführung. Ihre Kernaufgabe laut RTL-Pressemitteilung: “Aufbau einer gemeinsamen, journalistischen Redaktions-Einheit für n-tv, die RTL-News & Magazine sowie die Digital-Plattformen der Mediengruppe RTL unter ihrer Führung als Chefredakteurin”.
4. “Interpretationsspielraum” (facebook.com, Christian Schilling)
So unterschiedlich können Wahrnehmungen sein: Die Prozessberichterstattung über die Verurteilung einer Hambacher-Forst-Aktivistin weicht in erheblichem Umfang voneinander ab. Bei der “WAZ” ist von übereinstimmenden Polizisten-Aussagen die Rede, die “taz” spricht von offenkundig widersprüchlichen Aussagen. Sogar zum Ende der Gerichtsverhandlung gibt es verschiedene Beobachtungen: Bei der “WAZ” grinst die Angeklagte nach dem Urteilsspruch, bei der “taz” hatte sie Tränen in den Augen. Christian Schilling, dem das Ganze aufgefallen ist, kommentiert auf Facebook: “Wie unterschiedlich Ohren doch hören können!”
5. Wenn Journalisten von “starken Frauen” sprechen (deutschlandfunk.de, Matthias Dell)
Wenn Journalisten im Zusammenhang mit der Berlinale von “starken Frauen” sprechen, hört sich das für viele oberflächliche Zuhörer und Leser vielleicht nach einem freundlichen Lob an, doch Kolumnist Matthias Dell erkennt darin eine große Portion Ignoranz: “Das automatisierte Reden von der “starken Frau” bezeichnet eine gewisse Denkfaulheit: Es gibt heute mehr Filme als vor 50 Jahren, in denen Frauen nicht nur Dekoration sind. Aber anstatt endlich über diesen Umstand hinwegzukommen und Frauen, das vermeintlich “schwache Geschlecht”, in den Filmen als das zu beschreiben, was sie wirklich sind, macht es sich die Kritik durchs scheinbare Lob einfach: Es geht um “starke Frauen”. Was übrigens auch schön zeigt, dass Frauen sich anstrengen, etwas Besonderes sein müssen, wenn sie das tun wollen, was Männer immer tun dürfen: Hauptrollen spielen.”
6. Complete List of Successfully Extracted VA (vossanto.weltliteratur.net, Frank Fischer & Robert Jäschke)
Formulierungen wie “der Franz Beckenbauer der Philosophie” werden in der Wissenschaft auch als “Vossianische Antonomasie” bezeichnet (“Teilweise kam die Figur der Vossianischen Antonomasie schon in der Antike vor. So nannte der Stoiker Panaitios von Rhodos Platon den “Homer der Philosophie”, der römische Kaiser Severus Alexander bezeichnete Vergil als den “Platon der Dichter””, Wikipedia). Die beiden Wissenschaftler Frank Fischer und Robert Jäschke haben in einem frisch veröffentlichten Paper beschrieben, wie sie Vossianische Antonomasie aus 20 Jahren “New York Times” extrahierten: “Dabei haben wir viel über journalistische Pattern gelernt: Welche bekannten Leute werden benutzt, um unbekanntere Leute zu beschreiben.” Auch für Nicht-Wissenschaftler ein bemerkenswertes Projekt, das unbedingt einen Besuch wert ist.