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“Bild” findet heraus: Menschen schlafen nachts

Mit drei Fotos will die “Bild”-Redaktion zeigen, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) entgegen anderslautender Versprechen gar nicht “rund um die Uhr” arbeiten, obwohl sie doch über die Zulassung des Corona-Impfstoffs in der EU entscheiden müssen. Gestern Abend auf der Bild.de-Startseite:

Screenshot Bild.de - Angeblich arbeitet die EU-Arzneiaufsicht rund um die Uhr - Licht aus bei der EMA! Behörde ist für die Zulassung des Corona-Impfstoffs zuständig

Und auch heute in der Zeitung kann man den Versuch beobachten, eine Institution zu diskreditieren und Verunsicherung zu verbreiten:

Ausriss Bild-Zeitung - Impfstoff-Zulassung - Licht aus bei der EMA - Dabei arbeitet sie angeblich rund um die Uhr

Weil auf den Fotos die meisten Büros, die um 21 Uhr noch hell erleuchtet waren, um 23 Uhr dunkel sind, urteilt die “Bild”-Redaktion: “‘Rund um die Uhr’ ist dann doch etwas anderes …”. Dass Menschen, die derart bedeutende und weitreichende Entscheidungen treffen müssen und von denen viele offenbar mindestens von 8 Uhr morgens bis 21 Uhr abends arbeiten, auch mal schlafen sollten, zählt offenbar nicht. Dass manche von ihnen sich Arbeit mit nach Hause genommen haben könnten oder sich gänzlich im Homeoffice befinden (schon vor der Corona-Pandemie fand bei der EMA ein beachtlicher Teil der jeweiligen Zualssungsverfahren per Videokonferenzen statt), zählt offenbar auch nicht. Stattdessen:

Am Dienstagabend brannte bis kurz vor 23 Uhr noch in einigen Büros Licht. Dann war alles dunkel. Die letzten Mitarbeiter offenbar auch zu Hause. Um 7 Uhr morgens kehrten die ersten zurück in die Büros. “Rund um die Uhr” ist dann doch etwas anderes …

Es stimmt natürlich nicht, dass “alles dunkel” war, und “die letzten Mitarbeiter offenbar auch zu Hause” waren. Man sieht auf der 23-Uhr-Aufnahme schließlich noch Licht in manchen Büros. Bild.de änderte den Absatz später klammheimlich in:

Am Dienstagabend brannte bis kurz vor 23 Uhr noch in einigen Büros Licht. Dann sind fast alle Lichter aus. Ab 7 Uhr gehen in vielen Büros die Lichter wieder an. Und es wird weiter an der Zulassung des Corona-Impfstoffs gearbeitet…

Ralf Schuler, Leiter des “Bild”-Parlamentsbüros, findet, die EMA-“Entscheider” sollten sich ein Beispiel an den “Autobahn-Bauern” nehmen: “Autobahn-Bauer arbeiten nachts, die Entscheider in der Krise nicht”, schreibt Schuler bei Twitter. Nun sind die Autoahn-Bauer, die nachts arbeiten, ja in der Regel nicht dieselben, die auch schon tagsüber gearbeitet haben. Auch diese Nachtarbeiter haben mal Pause und dürfen irgendwann mal schlafen. Und allein das Einführen eines Schichtbetriebs mit beispielsweise zwei Schichten bringt nicht von selbst eine Verdoppelung der Arbeitsleistung. Wenn die eine Hälfte tagsüber zwölf Stunden arbeitet, und die andere Hälfte nachts zwölf Stunden arbeitet, dann ist zwar die ganze Zeit das Gebäude erleuchtet, und “Bild” könnte nicht polemisieren, am Ende haben aber immer noch alle zwölf Stunden gearbeitet. Man müsste schon die Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erhöhen, um auch die Arbeitsleistung zu erhöhen.

Außerdem haben eine ganze Reihe von Abteilungen der EMA überhaupt nichts mit der Zulassung des Covid-19-Impfstoffs zu tun. Oder sollte aus “Bild”-Sicht etwa auch der Ausschuss für Tierarzneimittel in der aktuellen Lage besser nachts die Stellung im Büro halten?

Aber zurück zu den Fotos vom EMA-Gebäude. Die Perspektive, die die “Bild”-Medien gewählt haben, zeigt die Ostseite des sogenannten Vivaldi Buildings. Neben einer schmaleren Nord- und einer schmaleren Südseite gibt es natürlich auch noch eine Westseite, die bei “Bild” nicht zu sehen ist. Sie ist größer als die Ostseite, denn um das Gebäude herum liegt eine Art Hufeisen – allerdings nur auf der Westseite. Dort befinden sich laut Grundriss (PDF) beispielsweise auch alle großen Konferenzräume. Ob auf der Westseite am Dienstag um 23 Uhr noch die Lichter brannten, wissen wir selbstverständlich auch nicht. Es zeigt sich aber, wie unvollständig das Bild ist, das die “Bild”-Medien für ihre Artikel nutzen.

Hinzu kommt: Bei der 23-Uhr-Aufnahme, die auf der Bild.de-Startseite zu sehen war, hat die Redaktion getrickst, damit das Gebäude noch dunkler aussieht. In den unteren Stockwerken brannte durchaus großflächig Licht. Das ist im Bild.de-Artikel klar zu erkennen. Bei der Version auf der Startseite hat die Redaktion offenbar selbst nachgedunkelt. Hier der Vergleich:

Screenshot Bild.de - zu sehen sind zwei Aufnahmen des EMA-Gebäudes um 23 Uhr, eine von der Bild.de-Startseite, eine aus dem Bild.de-Artikel.
(links von der Bild.de-Startseite, rechts aus dem Bild.de-Artikel)

Bei einem Foto, bei dem es ausschließlich darum geht, wie viele Büros erleuchtet sind und wie viele dunkel, selbst per Photoshop Büros abzudunkeln – den Willen, auf so eine Idee zu kommen, muss man erstmal haben.

Mit Dank an Moritz K. für den Hinweis!

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B.Z., Bild  

Die peinliche Präsentkorb-Frechheit von “Bild” und “B.Z.”

Sie brauchen nicht viel. Den Redaktionen von “Bild” und “B.Z.” reicht schon ein gelöschter Tweet eines gelöschten, anonymen Accounts, um ordentlich auszuteilen:

Ausriss BZ - Kondome, Warnweste, Slipeinlage ... Diese absurden Überraschungen sollen Ärzte und Schwestern bekommen haben - Der peinliche Präsentkorb der Charite

… berichtet die “B.Z.” gestern fast auf einer kompletten Seite. Und bei den Springer-Kollegen der “Bild”-Zeitung heißt es in der Berlin-Ausgabe:

Ausriss Bild-Zeitung - Kondom, Warnweste, Slipeinalge - Das Weihnachts-Goodie-Bag der Charite ist eine Frechheit

Der Autor (in beiden Blättern derselbe) schreibt:

Slipeinlage, Kondom, Motivations-Tipps … Haben Sie sich das auch als Weihnachtsgeschenk gewünscht? Nein? Die Ärzteschaft auf den Intensivstationen der Charié sicher auch nicht!

Und trotzdem sollen die Mediziner, die täglich bis an die Belastungsgrenzen gehen, um Menschenleben zu retten, von der Charité mit solch einem Peinlich-Präsent beglückt worden sein.

Das zumindest behauptet auf Twitter ein Nutzer namens “Doc Bab”. Zum geposteten Foto mit dem angeblichen Charité-Mitgebsel heißt es (inklusive Rechtschreibfehler): “Das ist der einzige Coronabonus der Charité für uns ÄrztInnen auf den Intensivstationen – nicht mal Weihnachtsgeld gibt im größten Uniklinikum Europas für die Belegschaft!”

Inzwischen ist der Tweet gelöscht.

Man hätte sich natürlich schon mal fragen können, warum die Charité ausgerechnet eine Ausgabe des Hochschulmagazins “Unicum” in das “Peinlich-Präsent” für die Intensivmediziner gelegt haben soll. Und dann hätte man mal auf der “Unicum”-Website nachschauen können und wäre auf die sogenannten “Wundertüten” gestoßen, die das Magazin jedes Semester an Universitäten verteilt und die ziemlich genau aus den Werbeartikeln bestehen, die auf dem Foto zu sehen sind. Und dann hätte man mal die “Unicum”-Facebookseite besuchen können und hätte dort gesehen, dass es erst vor wenigen Tagen eine Verteilaktion mit diesen “Wundertüten” vor “dem ein oder anderen Universitätsklinikum” gegeben hat: “Nicht nur das STUDENTISCHE PERSONAL hat sich sehr über unsere Wundertüten gefreut!”

Oder kurz gesagt: “Slipeinlage, Kondom, Motivations-Tipps …” haben nichts mit irgendeinem “PRÄSENTKORB DER CHARITÉ” zu tun. Was besonders traurig ist: Der “B.Z.”-und-“Bild”-Autor wusste das alles, zumindest so halb. In seinen Artikeln zitiert er einen weiteren Twitter-Nutzer:

Aber es gibt auch andere Töne. “Was man da sieht, ist nicht von der Charité ausgegeben worden”, schreibt ein Personalrat des Klinikums. Die Charité habe im Frühjahr eine Prämie gezahlt, “einfach so, als alle noch redeten”, schreibt er. “Und es gab Jahressonderzahlung und TVÖD-Prämie im Dezember.”

Doch was ist mit Slipeinlage, Kondom und Co.? Auch darauf hat der User eine Antwort. Das seien Tüten des Hochschulmagazin “Unicum” gewesen, die sonst immer direkt an Studenten ausgegeben worden seien.

Auf der einen Seite ein anonymer Twitterer, der böswillig Lügen verbreitet und seinen Poltertweet sowie seinen ganzen Account löscht. Auf der anderen ein Personalrat der Charité, der seinen kompletten Namen nennt und Fakten liefert. Dass “Bild” und “B.Z.” diese Artikel überhaupt gebracht haben, und dann noch mit den gewählten Überschriften, zeigt, wem die Redaktionen auf ihrer Suche nach Krawallgeschichten mehr Glauben schenken wollen.

Nachtrag, 16. Dezember: Sowohl die “B.Z” als auch die Berlin-Ausgabe der “Bild”-Zeitung haben heute Richtigstellungen veröffentlicht:

Ausriss BZ - Richtigstellung - Am Montag, den 14. Dezember, berichteten wir unter der Überschrift Der peinliche Präsentkorb der Charite über Kritik an einer Präsenttütet für Klinikpersonal. Der Artikel vermittelte fälschlicherweise den Eindruck, der Absender der abgebildeten Präsentsammlung sei das Klinikum Charite. Wir bitten, diesen Fehler zu entschuldigen. Ausriss Bild-Zeitung - Richtigstellung - Am Montag, den 14. Dezember, berichteten wir in der Berliner Regionalausgabe der Bild unter der Überschrift Kondom, Warnweste, Slipeinlage. Das Weihnachts-Goodie-Bag der Charite ist eine Frechheit über Kritik an einer Präsenttüte für Klinikpersonal. Der Artikel vermittelte fälschlicherweise den Eindruck, der Absender der angeblichen Präsentsammlung sei das Klinikum Charite. Wir bitten, diesen Fehler zu entschuldigen.

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So brachte “Bild” die Hisbollah in Zusammenhang mit den Explosionen in Beirut (mit falscher Recherche) (2)

Vor gut einem Monat ist im “Spiegel” ein großer Artikel über “Die perfekte Bombe” erschienen (online nur mit Abo lesbar, als englische Übersetzung auch ohne Abo lesbar). Die Autoren Uwe Buse, Christoph Reuter und Thore Schröder rekonstruieren darin, wie es im Hafen der libanesischen Hauptstadt Beirut zu der riesigen Explosion kommen konnte, die Anfang August mehr als 200 Menschen tötete und weite Teile Beiruts verwüstete.

Der “Spiegel” hat Dokumente zusammengetragen, mit vielen Leuten vor Ort gesprochen und den Weg der 2750 Tonnen Ammoniumnitrat nachgezeichnet, die für die Explosion sorgten. Das Ergebnis dieser Recherche widerspricht Behauptungen der “Bild”-Medien in entscheidenden Punkten.

Zur Erinnerung: Keine 48 Stunden nach der Explosion stand für die “Bild”-Autoren Julian Röpcke und Mohammad Rabie schon fest, wer Schuld hat. Sie hatten ihre grobe Freund-Feind-Schablone über das Thema gehalten – und siehe da:

Screenshot Bild.de - So brachte die Hisbollah den Sprengstoff nach Beirut - Und dieser windige Russe half den Terroristen dabei

Das war dann vielleicht doch etwas zu flott formuliert. Bild.de änderte die Überschrift und fügte immerhin ein Fragezeichen hinzu:

Screenshot Bild.de - Russischer Geschäftmann bekam eine Million Dollar für den Transport - Brachte die Hisbollah den Sprengstoff nach Beirut?

Schon einen Tag zuvor schrieben dieselben “Bild”-Autoren über eine mögliche Rolle der Hisbollah:

Screenshot Bild.de - Gerichtsdokumente warnten beireits 2016 - Dieses Schiff brachte den Tod nach Beirut - Einmischung der Hisbollah könnte den Abtransport des Ammoniumnitrats verhindert haben

Unterlagen oder Aussagen, die belegen, dass die Terrormiliz Hisbollah etwas mit dem Ammoniumnitrat im Beiruter Hafen zu tun hatte, sind bis heute nicht bekannt. Röpcke und Rabie ließen sich davon allerdings nicht beeindrucken und schrieben am 6. August:

BILD-Recherchen zeigen: Die Terrororganisation Hisbollah trägt zumindest eine Mitverantwortung, wenn nicht gar die alleinige Schuld an der Tragödie [in Beirut].

Ihr “Verdacht”: Das Ammoniumnitrat sollte gar nicht, wie offiziell angegeben, nach Mosambik geliefert, sondern im Beiruter Hafen “in Hisbollah-Reichweite” gebracht werden. Und es wird …

Es wird noch irrer: Die libanesische Firma “Majid Shammas & CO.”, fast gleichnamig mit der 1967 von Israel eroberten Stadt “Majdal Shams” im Golan, bietet Anfang 2014 an, die knapp 3000 Tonnen Sprengstoff zu kaufen. Die Firma hatte bereits 2013 heimlich Sprengstoff an Syrien-Diktator Assad verkauft – einen der engsten Verbündeten der Hisbollah.

Das ist die Verbindung, die Röpcke und Rabie zwischen dem Ammoniumnitrat und der Hisbollah herstellen und auf der der Schuldspruch der “Bild”-Redaktion fußt: Die Firma “Majid Shammas”, die Hisbollah-nah sein soll:

Unterlagen des Zolls, die BILD vorliegen, enthüllen: Zwei Zolldirektoren drängen im August 2016 und Juni 2017 ein libanesisches Gericht, dem Kauf durch die offenbar der Hisbollah nahe Firma zuzustimmen. Erstens handele es sich um “gefährliche Materialien”, die “unter unangemessenen Außenbedingungen im Lager aufbewahrt” würden. Zweitens könne “die Fracht auch, wie von der Armee empfohlen, an das libanesische Sprengstoff-Unternehmen ‘Majid Shammas’ verkauft werden”.

(Die Episode, in der Julian Röpcke und Mohammad Rabie anfangs den Namen des Unternehmens falsch mit “Majdal Shams” übersetzt und daraus eine ziemlich wilde Spekulationskette entwickelt haben, lassen wir in diesem Beitrag mal komplett weg – man kann sie detailliert hier nachlesen.)

In der ausführlichen “Spiegel”-Rekonstruktion geht es auch um den Vorschlag der libanesischen Armee, das Ammoniumnitrat an eine Sprengstofffirma zu verkaufen:

Die zwischenzeitlich angefragte libanesische Armee teilte mit, sie habe keinen Bedarf an 2750 Tonnen Ammoniumnitrat. Stattdessen schlug sie vor, die Säcke an einen Sprengstoffhändler zu verkaufen. Der lehnte ebenfalls ab: Er sei nicht interessiert an Ammoniumnitrat unklarer Herkunft und Qualität.

Christoph Reuter, einer der “Spiegel”-Autoren, sagte uns auf Nachfrage, dass es sich bei diesem Sprengstoffhändler um die Firma “Majid Shammas” handelt. Es liege ein Schreiben der Firma vor, aus dem klar hervorgehe, dass sie kein Interesse an dem Ammoniumnitrat im Beiruter Hafen habe.

Das heißt: Die angeblich Hisbollah-nahe Firma, die laut “Bild” endlich dafür sorgen sollte, dass das Ammoniumnitrat in die Hände der Hisbollah gelangen kann, wollte das Ammoniumnitrat gar nicht haben und lehnte einen Kauf ab.

Auch die Mutmaßung von Röpcke und Rabie, warum der Richter den Bitten der Zolldirektoren nicht nachkam, basiert auf einer falschen Grundannahme. Die “Bild”-Autoren schrieben:

Doch der Richter bleibt stur. Aus bislang unklaren Gründen antwortet er weder mit Ja noch mit Nein. Ein Insider zu BILD: Dies könnte ein Akt zivilen Ungehorsams gewesen sein, um die Terror-Organisation Hisbollah davon abzuhalten, in Besitz des Sprengstoffs zu kommen.

Im “Spiegel” steht:

Zollchef Shafiq Merhi will die Ladung offenbar nicht entsorgen. Im Gegenteil: Beim Eilgericht beantragt er, das Schiff beschlagnahmen und versteigern zu dürfen. Das Schiff, argumentiert er, könne jederzeit sinken, es stelle eine Gefahr für den Hafen dar.

Da das Eilgericht nur für Notfälle zuständig ist, ordnet der Richter am 27. Juni 2014 lediglich an, die Ladung “an einen sicheren Ort zu bringen” und das Schiff anschließend aus dem Hafenbecken zu ziehen. (…)

Ende Oktober 2014 werden die 2750 Säcke ausgeladen und in die Halle 12 gefahren, eine Art Resterampe für Gefahrgüter aller Art. Zuständig für diese Art von gefährlichen Gütern: Shafiq Merhi, der Zollchef, und Badri Daher, beim Zoll verantwortlich für die Ladungskontrolle.

Dass die beiden nicht wussten, dass das Eilgericht für Eigentumsfragen gar nicht zuständig war, ist unwahrscheinlich. Vermutlich wollten sie nur dokumentieren, wie sie ihrer Verantwortung gerecht wurden – ohne dass sich etwas änderte. Noch drei Jahre lang werden sie denselben Antrag immer wieder an dasselbe Gericht stellen und immer dieselbe Antwort erhalten: dass dieses Gericht die Eigentumsverhältnisse der Ladung nicht klären und folglich auch keinen Verkauf genehmigen könne.

Anders als von “Bild” behauptet, hat das Gericht also durchaus geantwortet: dass es nicht zuständig ist. Es handelte sich damit nicht, wie “Bild” schreibt, um einen “Akt zivilen Ungehorsams”, “um die Terror-Organisation Hisbollah davon abzuhalten, in Besitz des Sprengstoffs zu kommen.”

Im “Spiegel”-Artikel spielt die Hisbollah generell keine Rolle, sie wird nicht einmal erwähnt. Christoph Reuter sagte uns, dass er und seine Kollegen bei der Recherche auf keine nennenswerten Verbindungen zur Miliz gestoßen seien. Und Reuter steht nun wahrlich nicht im Verdacht, rücksichtsvoll mit der Hisbollah umzugehen: Im September erst schrieb er in einem “Spiegel”-Artikel über die düsteren Machenschaften der Terrororganisation.

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Bringt Julian Reichelt die Familien der Bundesliga-Mitarbeiter in Gefahr?

Was haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Fußball-Bundesligaklubs FC Bayern München, Borussia Dortmund, Borussia Mönchengladbach, RB Leipzig und Hertha BSC gemeinsam? Ihre Familien sind seit dieser Woche in Gefahr – jedenfalls nach Logik von Julian Reichelt.

Als das Medienmagazin “kress” 2017 Reichelts Gehalt schätzen wollte, sagte der “Bild”-Chef, dass er das nicht wolle, weil – so schrieb “kress” – “eine Schätzung seines Gehalts das Risiko finanziell motivierter Straftaten gegen seine Familie erhöhen würde”.

Doch was laut Julian Reichelt für Julian Reichelt gilt, muss aus Sicht von Julian Reichelt ja nicht für andere Menschen gelten. Und so gibt es seit Montag eine neue “Bild”-Serie: “DIE GEHEIMEN GEHÄLTER DER BUNDESLIGA”. Bisher waren die fünf oben genannten Klubs dran. “Bild” verrät, was die Team-Managerin des FC Bayern München oder der Stadionsprecher von Hertha BSC oder der Jugendkoordinator des BVB oder der Busfahrer von RB Leipzig oder der Chef-Greenkeeper von Borussia Mönchengladbach pro Monat “nach BILD-Informationen” so verdienen:

Screenshot Bild.de - Die geheimen Gehälter der Bundesliga - Bei welchem Job man neben den Stars schläft - Wie viel Team-Managerin Kathleen Krüger bekommt - In welchem Bereich Ex-Soldaten für zwölf Euro arbeiten - Das verdient man bei Bayern!
Screenshot Bild.de - Die geheimen Gehälter der Bundesliga - Für welchen Job es 11000 Euro gibt - Wer mit 70 noch 8000 Euro kriegt - 6500 Euro für ein Sprach-Wunder - Was Lars Ricken bekommt - Das verdient man beim BVB
Screenshot Bild.de - Die geheimen Gehälter der Bundesliga - Was der Stadionsprecher kassiert - Wofür man 7000 Euro im Monat kriegt - Was 24 Euro für 90 Minuten gibt - Das verdient man bei Gladbach!
Screenshot Bild.de - Die geheimen Gehälter der Bundesliga - Das kriegen Physio, Busfahrer und Zeugwart - In welchem Bereich die Gehälter gekappt wurden - Welche ungewöhnliche Mitarbeiter-Prämie es gab - Das verdient man bei RB Leipzig!
Screenshot Bild.de - Die geheimen Gehälter der Bundesliga - Was die Stadionsprecher pro Spiel kriegen - Welches Urgestein knapp 5000 Euro kassiert - Wieviel man schon als U9-Trainer bekommt - Das verdient man bei Hertha!

Bei den übrigen 13 Bundesligaklubs gibt es noch reichlich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, deren Familien die “Bild”-Redaktion nach Logik ihres eigenen Chefs in den kommenden Tagen in Gefahr bringen kann.

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Wen Julian Reichelt nach Julian-Reichelt-Logik sonst noch in Gefahr gebracht haben könnte:

Mit Dank an die vielen Hinweisgeber!

Franz Josef Wagner fährt mit Jogi Löw Achterbahn in der Pampa

“Bild”-Briefonkel Franz Josef Wagner hat einen Helden: Bundestrainer Jogi Löw. Und Helden …

Helden schicken wir nicht einfach so in die Pampa.

Soll heißen: Wagner findet, dass Löw nach der 0:6-Niederlage der deutschen Fußballnationalmannschaft gegen Spanien bitte, bitte nicht zurücktreten soll. In seinem heutigen Brief schreibt er:

Ausriss Bild-Zeitung - Post von Wagner - Lieber Jogi Löw - viele erwarten, dass Sie aufgeben nach dem Spanien-Debakel. Bitte geben Sie nicht auf!

Lieber Jogi Löw,

viele erwarten, dass Sie aufgeben nach dem Spanien-Debakel. Bitte geben Sie nicht auf! Was für ein Leben wäre es für Sie, wenn Sie aufgeben? Ein Leben der Leere. Ein Einsamkeitsgrauen. Ein Leben von Gott und den Menschen verlassen.

Ein Mensch, der aufgibt, ist verloren. Ich bin verliebt in Sieger, noch mehr verliebt bin ich in Nicht-Aufgeber.

Wenn Jogi Löw sich nicht aufgibt, dann kann vielleicht die Nationalelf wieder siegen.

Jogi Löw war ein Held. Helden schicken wir nicht einfach so in die Pampa.

Herzlichst
Franz Josef Wagner

Vor gut einem Monat, am 13. Oktober, schreibt Franz Josef Wagner ebenfalls an Jogi Löw. Auch da bestimmt im Ton, inhaltlich aber etwas anders:

Wie schnell das Licht erlischt, das einmal brannte. Jogi Löw, der Weltmeister. Jogi Löw, die Stilikone im weißen, taillierten Hemd. Populärer war kein Bundestrainer.

Leider, lieber Joachim Löw, gibt es keinen Ewigkeitsruhm. Ihre Mannschaft spielt schlecht. Sie stellen schlecht auf, sie wechseln schlecht aus. (…)

Wenn mich jemand fragt, ob ich einen neuen Bundestrainer will, dann sage ich Ja.

Die Verbindung Wagner-Löw ist wie eine Achterbahnfahrt. Im März 2019 schreibt Wagner an den Nationaltrainer und über die Spieler Serge Gnabry und Leroy Sané:

Warum hat Jogi Löw die jungen tollen Spieler nicht mit zur WM 2018 nach Russland genommen?

Sein Fehler war, dass er nicht an die Jugend glaubte. Jogi Löw ist 59. Es fällt ihm schwer, alt zu sein.

Die Spieler haben ihm seine Jugend wiedergegeben. Sie sind sein zweiter Frühling.

… was aus rein biologischer Sicht ein kleines Wunder darstellt, schließlich war der Zweite-Frühling-Jogi laut Wagner eigentlich schon längst “verwelkt”. Vier Monate vor der Löw-Auferstehung, im November 2018, schreibt der “Bild”-Kolumnist:

Lieber Joachim (Jogi) Löw,

ich muss die Natur bemühen, um Sie zu beschreiben. Es gibt die Zeit, wo die Natur erblüht, und die Zeit, wo sie verwelkt. Sie befinden sich in der Zeit des Welkens. (…)

Was mich wundert, ist, dass Sie immer noch Bundestrainer sind. Eigentlich geben nach Misserfolgen Männer, Frauen ihr Amt auf. Ich mag Joachim Löw persönlich sehr. Er ist ein netter, unterhaltsamer Mann. Aber er ist eine verwelkte Blume.

Wagners aktuelle Löw-Verteidigung ist auch deshalb eine überraschende Wendung (gut, bei Wagner vielleicht nicht so ganz überraschend), weil seine Ansage im Oktober 2018 nicht klarer hätte sein können:

Jogi Löw, das ist das Ende des Traums. Wachen Sie auf und treten Sie zurück.

Und auch im Juni 2018 klang es bei Wagner so, als könnte man Helden doch “einfach so in die Pampa” schicken:

Lieber Jogi Löw,

wenn ich jetzt schreibe, dass Sie zurücktreten sollen, dann ist mein Motiv nicht Rache, Vergeltung. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie Sie jetzt weitermachen wollen. Sie sind ein geschlagener Mann.

Mit Dank an Andreas W. für den Hinweis!

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“Bild” übernimmt die PR-Arbeit des Wiener Attentäters

Nach dem rechtsterroristischen Anschlag auf zwei Moscheen in Christchurch sagte Neuseelands Premierministerin Jacinda Ardern über den Attentäter:

Speak the names of those who were lost rather than the man who took them. He may seek notoriety, but we in New Zealand will give him nothing, not even his name.

Arderns Idee, dem Täter nicht zu der von ihm gewünschten Bekanntheit zu verhelfen und ihm nicht mal den Gefallen zu tun, seinen Namen zu nennen, passt gut zu den Erkenntnissen vieler Wissenschaftlerinnen und Experten. Diese warnen seit Jahren vor einer ausführlichen, mitunter sogar heroisierenden Berichterstattung, die den Attentäter in den Mittelpunkt stellt. Im schlimmsten Fall könnte daraus eine Inspiration und ein Ansporn für Nachahmer entstehen. Jennifer Johnston und Andrew Joy von der Western New Mexiko University schreiben beispielsweise in einer Studie:

Die Identifikation mit früheren Tätern, die durch die extensive Berichterstattung berühmt geworden sind, einschließlich der Veröffentlichung ihrer Namen, Gesichter, Lebensgeschichten und Hintergründe, löst einen mächtigeren Schub in Richtung Gewalt aus als psychische Erkrankungen oder der Zugang zu Waffen.

Die daraus abzuleitende Empfehlung für alle Medien: Diese “Identifikation mit früheren Tätern” gar nicht erst möglich machen.

Die “Bild”-Redaktion verfolgt einen anderen Ansatz: Sie baut Attentätern regelmäßig Denkmäler. So auch jetzt, nach dem islamistischen Terroranschlag in Wien am Montagabend, bei dem vier Menschen getötet und 23 weitere verletzt wurden. Etwas kleiner auf der Titelseite und groß im Blatt zeigt die “Bild”-Zeitung heute ein unverpixeltes Foto des Täters:

Ausriss Bild-Titelseite - Das Böse und die Helden von Wien ... und ein Licht für die Opfer - dazu zu sehen ein Foto des Attentäters ohne Unkenntlichmachung
Ausriss Bild-Zeitung - Er trickste die Sicherheitsbehörden aus - Das ist der ISIS-Killer von Wien
(Alle Unkenntlichmachungen in diesem Beitrag durch uns.)

Auf dem Foto posiert der Mann mit den Waffen, mit denen er später in Wien seine Opfer tötete. Es soll aus einem Video stammen, das der sogenannte “Islamische Staat” nach der Tat veröffentlicht hat. “Bild” nutzt dieses Propagandamaterial ungefiltert für die eigene Berichterstattung und zeigt den Mann so, wie er sich selbst und wie die Terrororganisation ihn zeigen wollte. Auch auf der Bild.de-Startseite war das Foto an prominenter Stelle zu sehen:

Screenshot Bild.de - Er trickste die Sicherheitsbehörden aus - Das ist der ISIS-Killer von Wien

“Bild” macht sich zum Handlager der Terroristen. Die Redaktion nennt zusätzlich auch den kompletten Vor- und Nachnamen des Täters. Und sendet mit diesem PR-Gesamtpaket allen potentiellen Nachahmern die Botschaft: Solltet ihr einen Anschlag verüben, sorgen wir auf unseren Titel- und Startseiten dafür, dass ihr berühmt werdet.

Dazu auch:

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So weit benimmt sich “Bild” daneben

Als Ende September täglich zwischen 1.500 und 2.500 Corona-Neuinfektionen in Deutschland gemeldet wurden, und Angela Merkel vorrechnete, dass, wenn es so weitergeht wie in den vorangegangenen Monaten, daraus bis Weihnachten 19.200 tägliche Neuinfektionen werden könnten, präsentierte die “Bild”-Redaktion die dazugehörige “WAHRHEIT”:

Screenshot Bild.de - Kanzlerin rechnet mit fast 20000 Infizierten am Tag! Die Wahrheit hinter Merkels dramatischer Corona-Warnung - Wie Experten auf die Schock-Zahlen reagieren

Die Kanzlerin sei mit “ihrer Explosions-Rechnung” “im Alarmmodus”, so das Urteil der drei “Bild”-Autoren. Das sollte ein Experte bestätigen: Klaus-Dieter Zastrow, von “Bild” meist als “Hygiene-Papst” präsentiert und bekannt von so nüchternen und ausgewogenen Analysen wie “Totales Versagen der Behörden” oder “Hektischer Aktionismus und Hysterie”. Zu Merkels Weihnachtsrechnung zitiert “Bild” Zastrow so:

Hygiene-Experte Prof. Dr. Klaus-Dieter Zastrow sagte BILD, die Zahl von “19 200 Neuinfektionen pro Tag für Weihnachten zu berechnen, ist im besten Fall Kaffeesatzleserei”. Das habe “nichts mit der Realität zu tun. Wir haben im Schnitt weniger als 2000 Neuinfektionen pro Tag. So eine Horrorzahl zu nennen, ist purer Alarmismus.”

Der Vorwurf des “Bild”-Artikels: Völlig unnötig entwirft Angela Merkel ein Horrorszenario. Einer der “Bild”-Autoren, der stellvertretende Chefredakteur Paul Ronzheimer, betonte bei Twitter auch noch einmal extra, dass “Experten” ja sagen, dass das alles “purer Alarmismus” von der Kanzlerin sei:

Screenshot eines Tweets von Paul Ronzheimer - Die Kanzlerin macht ihre Modellrechnung jetzt auch öffentlich, nachdem BILD die 19200 am Montag als erstes Medium zitiert hatte, und die Begeisterung vieler Journalisten ist riesig, obwohl Experten wie unter anderem Zastrow sagen: So eine Horrorzahl zu nennen, ist purer Alarmismus.

Und dann ging es los: 4.000 tägliche Neuinfektionen, 5.500, 7.000, 8.000, 10.000. Den rasanten Anstieg konnte man auch auf der Bild.de-Startseite beobachten:

Screenshot Bild.de - Corona-News - RKI: Höchstwert von 11287 Neuinfektionen
Screenshot Bild.de - RKI meldet 18681 Neuinfektionen
Screenshot Bild.de - RKI meldet 19059 Neuinfektionen

Am vergangenen Samstag dann also 19.059 Neuinfektionen. Gut zwei Monate vor Weihnachten. Und was macht die “Bild”-Redaktion? Sieht sie ein, dass Angela Merkels “Explosions-Rechnung” doch nicht aus einem “Alarmmodus” heraus entstanden ist? Schreibt sie kleinlaut, dass ihr Experten-Papst ziemlichen Murks erzählt hat? Natürlich nicht. Stattdessen hat die Bundeskanzlerin mal wieder alles falsch gemacht:

Screenshot Bild.de - Merkel prognostizierte 19200 Fälle bis Weihnachten - So weit lag das Kanzlerinnen-Orakel daneben

19 200 Neuinfektionen am Tag prognostizierte Kanzlerin Angela Merkel (66, CDU) Ende September für die Weihnachtsfeiertage – nur einen Monat später ist klar: Das Kanzlerinnen-Orakel lag meilenweit daneben.

Die Überschrift hat die Redaktion inzwischen still und heimlich in “Darum ist die Merkel-Prognose 2 Monate früher eingetreten” geändert. Der Teaser vor der “Bild plus”-Paywall mit dem “Kanzlerinnen-Orakel”, das “meilenweit danebenlag”, ist unverändert online.

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Bei “Bild” wird wieder denunziert

Was die “Sorge vieler Bürger” ist, das weiß die “Bild”-Redaktion:

Die Sorge vieler Bürger: Werde ich nun von einem Nachbarn verpfiffen, weil ich mich für fünf Sekunden nicht an die Mindestabstandsregel gehalten habe oder er durch sein Fenster beobachtet hat, wie meine Freundin oder mein Freund bei mir auf dem Sofa sitzt?

Und so fragte sie im März in der Überschrift:

Screenshot Bild.de - Meldungen bei Kontaktverbotsverstößen - Werden wir Deutschen jetzt zu Corona-Verpetzern?

Drei Wochen später meldete Bild.de:

Screenshot Bild.de - Vermehrt Corona-Beschwerden - In Berlin wird wieder denunziert

Pfui!

Das fand auch “Bild”-Chef Julian Reichelt im Juni, nachdem Holger Kliem, der bei der TSG Hoffenheim die Öffentlichkeitsarbeit leitet, ein Foto twitterte, auf dem ein “Bild”-Reporter (von Kliem unkenntlich gemacht) auf der Tribüne des Fußballbundesligisten arbeitet und dabei seinen Mund-Nasen-Schutz zu einem Kinn-Kinn-Schutz umfunktioniert hat. Reichelt empörte sich über die Denunziation:

Screenshot eines Tweets von Julian Reichelt - Gleich zwei deutsche Volkssportarten in einem Stadion: Fußball und Denunziation.

Kurzum: Wenn “Bild” eins nicht leiden kann, dann ist es das um sich greifende Corona-Denunziantentum.

So sieht heute die Titelseite der “Bild”-Zeitung aus:

Ausriss Bild-Titelseite - 60 Minuten nach seiner knallharten Lockdown-Rede - Laschet ohne Maske im Flieger!

Und auch bei Bild.de ist der am Ohr baumelnde Mund-Nasen-Schutz des NRW-Ministerpräsidenten Armin Laschet großes Aufregerthema auf der Startseite:

Screenshot Bild.de - 60 Minuten nach seiner knallharten Lockdown-Rede - Lascher ohne Maske im Flieger - ein Fluggast fotografierte die Szene

Laschets Staatskanzlei sagt zu dem Foto, der Politiker habe die Maske nur “für einen kurzzeitigen Moment zum Verzehr von Speisen und Getränken” abgenommen – was man bei Bild.de allerdings nur erfährt, wenn man ein “Bild plus”-Abo hat.

Mit Dank an @felixsschulz für den Hinweis!

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Darf man wirklich nicht mehr für das Existenzrecht Israels eintreten?

“Eine Schande” sei dieses Urteil, “bitter für ganz Deutschland”. “Was für ein Irrsinn!”, ruft “Bild”-Autor Johannes C. Bockenheiemer in seinem Kommentar am vergangenen Mittwoch in der “Bild”-Zeitung und holt im letzten Absatz noch einmal ganz weit aus:

Dass Richter des Bundesverwaltungsgerichts unsere historische Verantwortung mit einem Maulkorb belegen, ist beschämend für ganz Deutschland.

In derselben “Bild”-Ausgabe und bei Bild.de hat Bockenheimer auch einen Artikel zu dem “Irrsinn” geschrieben, der ihn so aufwühlt:

Ausriss Bild-Zeitung - Weil er für das Existenzrecht Israels eintritt - Maulkorb für DIHK-Präsident Schweitzer

Für das Existenzrecht Israels eintreten?

Dem Präsidenten des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK), Eric Schweitzer, ist das ab sofort nicht mehr erlaubt!

Grund sei “ein (Skandal-)Urteil des Bundesverwaltungsgerichts”, so Bockenheimer:

Darin untersagt das Gericht dem Dachverein der 79 regionalen Industrie- und Handelskammern (3,5 Millionen Mitgliedsunternehmen) jegliche politische Äußerung.

Der “Bild”-Autor nennt den Namen des Klägers, ein “Windkraft-Unternehmer aus Münster”, und schreibt über ihn:

Der Kleinunternehmer nahm u. a. Anstoß daran, dass Schweitzer in der “Ostfriesen-Zeitung” gemahnt hatte, dass Israels Existenzrecht “unantastbar” sei. Zugleich beschrieb der DIHK-Chef die Menschenrechtslage im Iran als “nicht hinzunehmen”.

Das, was Johannes C. Bockenheimer und “Bild” machen, ist Desinformation. Sie stellen falsche Zusammenhänge her, lassen einordnende Fakten aus und wichtigen Kontext weg. Sie geben sich allergrößte Mühe, einen “Skandal” zu konstruieren.

Für ein besseres Verständnis erstmal ein paar grundlegende Dinge zur Industrie- und Handelskammer (IHK): Gewerbetreibende und Unternehmen wie das des Klägers sind in Deutschland per Gesetz verpflichtet, Mitglied in der jeweiligen regionalen IHK zu sein. Was die IHK darf und was nicht, regelt das IHK-Gesetz. Darin heißt es unter anderem:

Die Industrie- und Handelskammern haben (…) die Aufgabe, das Gesamtinteresse der ihnen zugehörigen Gewerbetreibenden ihres Bezirkes wahrzunehmen, für die Förderung der gewerblichen Wirtschaft zu wirken und dabei die wirtschaftlichen Interessen einzelner Gewerbezweige oder Betriebe abwägend und ausgleichend zu berücksichtigen

In Paragraph 1, Absatz 5 des Gesetzes steht ein für diesen Fall wichtiger Satz:

Nicht zu den Aufgaben der Industrie- und Handelskammern gehört die Wahrnehmung sozialpolitischer und arbeitsrechtlicher Interessen.

Die regionalen Industrie- und Handelskammern haben sich zu einem Verein zusammengeschlossen, dem Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK). Dessen Präsident Eric Schweitzer ist der Mann, der laut “Bild” vom Bundesverwaltungsgericht einen Maulkorb verpasst bekommen hat.

In den “Bild”-Medien klingt es so, als richte sich das Urteil des Gerichts gegen den DIHK beziehungsweise gegen DIHK-Präsident Schweitzer. Das ist aber gar nicht der Fall. Der Unternehmer aus Münster hatte gegen seine regionale IHK geklagt, die IHK Nord-Westfalen. Gegen diese IHK richtet sich auch das Urteil.

In den “Bild”-Medien klingt es so, als ginge es in dem Urteil um eine Aussage zum Existenzrecht Israels. Das ist aber gar nicht der Fall. Das Urteil besagt, dass die IHK Nord-Westfalen aus dem DIHK austreten muss – nicht wegen einer Aussage zu Israel, sondern “wegen fortgesetzter Kompetenzüberschreitungen”. Das Gericht schreibt in einer Pressemitteilung:

Das Mitglied einer Industrie- und Handelskammer (IHK) kann den Austritt seiner Kammer aus dem Dachverband Deutscher Industrie- und Handelskammertag (DIHK e.V.) verlangen, wenn dieser mehrfach und nicht nur in atypischen Ausreißerfällen die gesetzlichen Kompetenzgrenzen der Kammern überschritten hat und keine hinreichenden Vorkehrungen bestehen, um die Wiederholung von Kompetenzverstößen zuverlässig zu verhindern.

Bei der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts handelt es sich also nicht um ein Urteil, das ein Windkraft-Unternehmer aus Münster gegen DIHK-Präsident Eric Schweitzer erstritten hat, damit dieser sich nicht mehr zum Existenzrecht Israels äußern darf, sondern um ein Urteil, das ein Windkraft-Unternehmer aus Münster gegen seine IHK erstritten hat, damit diese die Mitgliedschaft im DIHK beendet.

Aber wie kommen “Bild” und Bockenheimer dann auf ihren Israel-Spin? Als einen Grund für seine Entscheidung nennt das Bundesverwaltungsgericht, dass der DIHK “mehrfach und nicht nur in atypischen Ausreißerfällen die gesetzlichen Kompetenzgrenzen der Kammern überschritten hat”. Das heißt in diesem Fall konkret: Der DIHK und dessen Vertreter haben sich wiederholt öffentlich zu allgemein- und sozialpolitischen Themen geäußert. Einer IHK wäre das laut IHK-Gesetz nicht erlaubt. Das ist die Grundlage für die Klage des Windkraft-Unternehmers: Er hat Dutzende Beispiele vorgelegt, in denen sich der DIHK, der DIHK-Präsident oder der DIHK-Hauptgeschäftsführer in Interviews oder Verbandspublikationen zu politischen Fragen äußern. In einem Beispiel geht es auch um Israel: In einem Interview mit der “Ostfriesen-Zeitung” sagte DIHK-Präsident Eric Schweitzer, wie von “Bild”-Autor Bockenheimer zitiert, dass das Existenzrecht Israels “unantastbar”, und dass die Menschenrechtslage im Iran “nicht hinzunehmen” sei. Alle anderen der vielen, vielen Aussagen, die der Kläger den Gerichten vorgelegt hat, haben nichts mit Israel zu tun. Stattdessen geht es darin um die Mütterrente, um den Mindestlohn, um Studiengebühren, um den Hochwasserschutz, um Leiharbeit, um befristete Arbeitsverhältnisse, um die Vergabe der Olympischen Spiele, um Hans-Georg Maaßen, um Karl-Theodor zu Guttenberg und so weiter.

Dass die ursprüngliche Klage überhaupt nichts mit einer Aussage zum Existenzrecht Israels zu tun haben kann, zeigt schon ein Blick in die die Geschichte des Urteils und auf die vorangegangenen Instanzen: Die ganze Sache ging 2007 los, also vor 13 Jahren. Der Unternehmer beschwerte sich damals, dass sich die eigene IHK und der DIHK gegen die Förderung von erneuerbaren Energien und für Atomkraft ausgesprochen hatten. Wegen des aus seiner Sicht einseitigen Statements verklagte er die IHK Nord-Westfalen: Sie solle erstens die Äußerung unterlassen und zweitens aus dem DIHK austreten. Ein erstes Urteil hat das Verwaltungsgericht Münster im Mai 2009 gesprochen. Es ging weiter zum Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen, wo es im Mai 2014 ein Urteil gab. Von dort ging es ein erstes Mal zum Bundesverwaltungsgericht. Dieses verwies den Fall im März 2016 zurück ans Oberverwaltungsgericht. Das Interview von DIHK-Präsident Schweitzer in der “Ostfriesen-Zeitung” existierte bis dahin noch gar nicht. Es erschien am 4. Oktober 2016. Erst als der Fall wieder beim Oberverwaltungsgericht lag, brachte der Kläger auch die Israel-Aussage ein – erneut als eines von zahlreichen Beispielen. In den anderen ging es um den Brexit, um die Erbschaftssteuer, um die Ökostrom-Umlage, um eine Einschätzung zur Bundestagswahl 2017, um die durch die USA verhängten Einreisebeschränkungen für Menschen aus bestimmten muslimischen Ländern, erneut um den Brexit, um die Präsidentschaftswahl in Kenia, um die Befristung von Arbeitsverträgen, um die Große Koalition, um die Sicherung der EU-Außengrenzen, um die CO2-Emissionen von Autos. Und das seien die “hier nur exemplarisch aufgezeigten Kompetenzüberschreitungen” des DIHK, so das Oberverwaltungsgericht in seinem Urteil:

Schon in Anbetracht der großen Zahl der hier nur exemplarisch aufgezeigten Kompetenzüberschreitungen kann von atypischen “Ausreißern” keine Rede sein.

Anders gesagt: Der Windkraft-Unternehmer konnte bei seiner ursprünglichen Klage noch gar nicht von Schweitzers Aussage zum Existenzrecht Israels wissen.

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Interessant ist auch, wie “Bild”-Autor Johannes C. Bockenheimer Fetzen des Israel-Zitats für seine Zwecke aus dem Zusammenhang reißt. Die komplette Interviewantwort des DIHK-Präsidenten lautet (hier wortgleich bei NWZonline.de veröffentlicht):

Niemand arbeitet bedenkenlos mit dem Iran zusammen. Gerade für Deutschland ist das Existenzrecht Israels unantastbar. Und die Menschenrechtslage im Iran ist nicht hinzunehmen. Es ist richtig, dass Sigmar Gabriel diese Themen angesprochen hat, auch die Rolle des Iran im Syrien-Krieg. Konflikte lassen sich ohne Dialog und wirtschaftlichen Austausch nicht lösen. Meistens funktioniert Annäherung eben über Handel.

Den ganzen Teil, in dem sich Eric Schweitzer für eine Zusammenarbeit mit dem Iran ausspricht, weil “Annäherung eben über Handel” funktioniere, lässt Bockenheimer komplett unerwähnt. Schweitzers Plädoyer zur Kooperation mit den Terror-Mullahs, wie es bei “Bild” wohl heißen würde, passt natürlich auch so gar nicht zur eigentlichen Blattlinie. In weiteren Antworten erzählt Schweitzer übrigens von einer erfolgreiche Wirtschaftsreise in den Iran (“Wir sind ein gutes Stück vorangekommen. Die wirtschaftliche Zusammenarbeit ist noch einmal vertieft worden”) und betont die Wichtigkeit des Iran für die deutsche Wirtschaft (“Der Iran ist für die deutsche Wirtschaft ein sehr bedeutsames Land, ein Zukunftsmarkt mit erheblichem Potenzial”). Der DIHK-Präsident spricht sich für eine Intensivierung der wirtschaftlichen Beziehungen aus (“Jetzt gilt es, die Marktanteile zurück zu gewinnen.”). Dass sich Eric Schweitzer so sehr über die Erfolge in der Zusammenarbeit mit einem Land freut, dessen Regime Israel vernichten möchte, nimmt seiner eigentlich wichtigen und richtigen Aussage zum Existenzrecht Israels deutlich an Kraft.

Dass sowohl das Oberverwaltungsgericht als auch das Bundesverwaltungsgericht betonen, dass es sich bei den politischen Äußerungen des DIHK nicht um “atypische Ausreißerfälle” handelt, und dass genau dieser Umstand auch zum Urteil führte, ist mit Blick auf die “Bild”-Berichterstattung ebenfalls wichtig. Gäbe es nur die Aussage von DIHK-Präsident Schweitzer zum Existenzrecht Israels (und all die anderen Aussagen von EU-Außengrenze bis Mindestlohn nicht), wäre es nicht zu diesem Urteil gekommen. Denn dann wäre die Kompetenzüberschreitung nur ein einzelner “Ausreißerfall”. Gut möglich, dass die Klage sogar von Anfang an als unbegründet abgelehnt worden wäre. Dennoch bezieht sich “Bild”-Autor Bockenheimer ausschließlich auf das Israel-Zitat. Nur ein klitzekleines “u. a.” in seinem Artikel lässt erahnen, dass es vielleicht auch noch um andere Aussagen des DIHK ging.

Anders als es Bockenheimer und “Bild” darstellen, war für die Gerichte auch gar nicht die Stoßrichtung des Zitats entscheidend (der Kläger hatte es dem Oberverwaltungsgericht ohne jegliche Kommentierung – etwa: “Der DIHK-Präsident darf sich nicht zu Israel äußern.” – vorgelegt). Es ging nur darum, dass sich Eric Schweitzer ein weiteres Mal allgemeinpolitisch geäußert hat. Nur mal theoretisch angenommen: Hätte der DIHK-Präsident sich nicht für, sondern gegen das Existenzrecht Israels ausgesprochen (was ein ordentlicher Skandal wäre), hätte der Kläger das Zitat genauso gut als Beispiel in den Prozess einbringen können.

Zur Erinnerung noch einmal die “Bild”-Schlagzeile:

Ausriss Bild-Zeitung - Weil er für das Existenzrecht Israels eintritt - Maulkorb für DIHK-Präsident Schweitzer

… mit völlig falschem “weil”.

Und so ging es vor dem Bundesverwaltungsgericht letztlich auch gar nicht um das Zitat zum Existenzrecht Israels. Personen, die bei der Verhandlung anwesend waren, bestätigen uns, dass das Wort “Israel” nicht ein einziges Mal gefallen ist. Dennoch machen “Bild” und Johannes C. Bockenheimer einen großen Skandal daraus. Sie stellen eine namentlich genannte Person und ein ganzes Gericht als Israelfeinde dar. Sie zeichnen ein falsches verheerendes Bild von der Justiz. Und sie verleihen der Angelegenheit eine höchstoffizielle Note: Im “Bild”-Artikel äußert sich der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung Felix Klein zu dem Fall. Er findet, das alles sei “ein Unding”.

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