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“Bild” kommen Hunderttausende schwarz arbeitende Bürgergeld-Empfänger abhanden

Was war das für eine Aufregung im September vergangenen Jahres bei “Bild”:

Screenshot Bild.de - Die bittere Wahrheit - So viele Bürgergeld-Empfänger arbeiten schwarz

Schlimmer noch! Viele Bürgergeld-Empfänger stocken sich durch Schwarzarbeit ihr monatliches Einkommen noch auf, kassieren so mehr als viele ehrliche Arbeitnehmer.

Arbeits-Experte Professor Friedrich Schneider (64, Uni Linz) zu BILD: “Ich schätze, dass rund ein Drittel der erwerbsfähigen Bürgergeld-Bezieher schwarz dazu verdienen.”

► Das bedeutet bei aktuell 3,9 Millionen erwerbsfähigen Stütze-Beziehern: rund 1,3 Millionen!

“Rund ein Drittel”, 33 Prozent, etwa 1,3 Millionen Menschen, die Bürgergeld bekommen und schwarz dazu verdienen. Das passte wunderbar in die Kampagne, die die “Bild”-Redaktion damals gegen das Bürgergeld und gegen die Personen, dies es beziehen, fuhr.

Umso überraschender diese “Bild”-Titelgeschichte vor eineinhalb Wochen:

Ausriss Bild-Titelseite - Bürgergeld - Jeder zehnte Empfänger arbeitet schwarz

Auf einmal nicht mehr jeder Dritte, sondern nur noch jeder Zehnte:

Jeder 10. Stütze-Bezieher arbeitet schwarz, obwohl er angeblich keinen Job findet oder nur wenige Stunden pro Woche arbeiten kann.

Quelle damals wie heute: Professor Friedrich Schneider von der Uni Linz. Wir hatten im vergangenen Jahr bei Schneider nachgefragt, wie er auf seine “rund-ein-Drittel”-Schätzung kommt, welche Statistik ihr beispielsweise zugrunde liegt, ob es eine Quelle gibt. Die Antwort des Professors: Dies seien …

alles (Grob-)Schätzungen aus meiner laufenden Forschung, die noch nicht abgeschlossen ist. Quelle wäre also ich; ich hoffe, ich kann in einigen Wochen mehr dazu sagen.

Das konnte er nun offenbar – mit einem deutlich niedrigeren Anteil an schwarz arbeitenden Bürgergeld-Empfängern (wobei es sich auch bei den aktuellen Zahlen laut “Bild” lediglich um eine Schätzung Schneiders handelt). Und so hätte die “Bild”-Schlagzeile auf der Titelseite natürlich auch lauten können:

BÜRGERGELD
Anders als von uns berichtet:
Viel weniger Empfänger arbeiten SCHWARZ

Sowieso hat “Bild” bei der Wahl der Titelzeile einen auffällig speziellen Schwerpunkt gesetzt. Der dazugehörige Artikel im Blatt handelt von der “Schwarzarbeits-Nation Deutschland!” Darin zitiert Autor Sebastian Geisler Professor Schneider:

“Schwarzarbeiter gibt es 12 bis 15 Millionen in Deutschland. Schwarzarbeitende Bürgergeld-Bezieher nur etwa 400 000 bis 500 000”, schätzt der Ökonom.

Die “Bild”-Redaktion hat sich für ihre Schlagzeile auf der Titelseite also die 3,3 Prozent an Schwarzarbeitern herausgepickt, gegen die sich am einfachsten Stimmung machen lässt. Und bei “12 bis 15 Millionen” von Professor Schneider geschätzten Schwarzarbeitern und 47,1 Millionen Erwerbspersonen in Deutschland lässt sie dafür sogar die Schlagzeile “Mehr als jeder Vierte arbeitet schwarz” liegen. Klar, wer will schon gegen einen großen Teil der eigenen Leserschaft schießen?

Nachtrag, 20. August: Mehrere unserer Leser weisen darauf hin, dass das von “Bild” im vergangenen Jahr angegebene Alter Schneiders (64 Jahre) nicht stimme. Das ist richtig. Im vor eineinhalb Wochen erschienenen Artikel schreibt Bild.de hingegen korrekt: “Prof. Friedrich Schneider (75, Uni Linz)”.

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Hier im BILDblog war es – abgesehen von den “6 vor 9” – lange Zeit sehr ruhig, was unter anderem leider auch immer noch hiermit zu tun hat. Doch das soll sich nun ändern: Es soll wieder mehr und regelmäßig gebloggt werden.

Wie gut war “Bild” bei Olympia?

Am Sonntag sind die Olympischen Spiele in Paris zu Ende gegangen – höchste Zeit für eine große Abrechnung zur deutschen Medaillen-Ausbeute:

Screenshot Bild.de - Plötzliche Wende im Medaillenspiegel - China doch nicht Nummer eins - Deutschland schlecht wie lange nicht

Je nach Auslegung des Medaillenspiegels – etwa beim zusätzlichen Betrachten der Einwohneranzahl des jeweiligen Landes pro gewonnener Medaille – war Deutschland laut “Bild”-Redaktion “sogar noch schlechter”:

Screenshot Bild.de - Der wahre Medaillen-Spiegel - Hier sind wir sogar noch schlechter

Aber wie gut war eigentlich die “Bild”-Sportredaktion bei Olympia? Die hat sich zu Beginn der Olympischen Spiele schließlich klar festgelegt:

Ausriss Bild-Titelseite - Bild legt sich fest - Wir holen 18 Gold-Medaillen!

Natürlich ist es ein bisschen unfair, an jemandem, der sich so weit aus dem Fenster lehnt, kritisch herumzuzerren. Allerdings profitiert “Bild” seit jeher vom Ruf “Aber der Sportteil!” Schauen wir uns die “Bild”-Olympia-Expertise also mal genauer an.

Mit “18 Gold-Medaillen” lag “Bild” ordentlich daneben (genau genommen hat die Redaktion im Artikel sogar 19 Goldmedaillen vorausgesagt, in die Überschrift haben es aber nur 18 geschafft). Tatsächlich gab es in Paris zwölfmal Gold für die deutschen Athletinnen und Athleten – ein Drittel weniger als von der Sportredaktion prognostiziert.

Mit den Goldmedaillen für den Kajak-Vierer und den Kajak-Zweier der Männer, für Ruderer Oliver Zeidler, für Schwimmer Lukas Märtens, für die Rhythmische Sportgymnastin Darja Varfolomeev, für das Dressur-Team und für Dressurreiterin Jessica von Bredow-Werndl lag die Redaktion richtig. Immerhin sieben Treffer. Das war es aber auch. Gold für das 3×3-Basketballteam der Frauen, für Kugelstoßerin Yemisi Ogunleye, für Springreiter Christian Kukuk, für Vielseitigkeitsreiter Michael Jung und für die Triathlon-Mixed-Staffel hatte “Bild” nicht auf dem Tippschein.

Dafür aber Tennisspieler Alexander Zverev sowohl im Einzel als auch im Mixed-Doppel mit Laura Siegemund, Weitspringerin Malaika Mihambo, Zehnkämpfer Leo Neugebauer, Kanutin Ricarda Funk, Freiwasserschwimmer Florian Wellbrock, Schützin Doreen Vennekamp, deren Kollegen Christian Reitz, Turner Lukas Dauser, Judoka Anna-Maria Wagner, die Bahnrad-Teamsprint-Frauen und die Hockey-Männer. Bei allen lag die Sportredaktion mit ihrer Voraussage daneben.

Zusätzlich zu den 18 (oder eben 19) Favoritinnen und Favoriten hatte “Bild” auch noch Freiwasserschwimmerin Leonie Beck, das Frauenteam beim Bogenschießen und Windsurfer Sebastian Kördel als Gold-Kandidaten genannt (“Falls ein Gold-Garant leer ausgeht, hat das deutsche Team noch mehr Kandidaten auf den Olympiasieg”). Auch hier lag die Redaktion daneben. Oder verpackt in einer “Bild”-Schlagzeile:

Der wahre Medaillen-Tipp – Hier ist “Bild” sogar noch schlechter!

***

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Es gilt die Unschuldsvermutung, nur in der “Bild”-Überschrift nicht

In Göteborg sitzt ein Mann aus Berlin in Untersuchungshaft, er steht unter Mordverdacht. Der 64-Jährige hat gemeinsam mit einem 71-jährigen Bekannten an einer Regatta in Norwegen teilgenommen. Er wird verdächtigt, seinen Segelkollegen auf dem Weg zurück nach Deutschland getötet zu haben. Der 71-Jährige wurde vor der Westküste Schwedens aus dem Meer geborgen und später für tot erklärt. Die schwedische Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass der Mann, der in Untersuchungshaft sitzt, die Tat begangen habe. Die Gründe für diese Annahme nennt sie bislang allerdings nicht, auch keine Details zum Vorfall auf dem Segelboot oder zur genauen Todesursache. Der Anwalt des Tatverdächtigen sagt, dass sein Mandant den Vorwurf bestreite.

In solchen Fällen spielt die Unschuldsvermutung eine wichtige Rolle.

In Artikel 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union heißt es beispielsweise:

Jeder Angeklagte gilt bis zum rechtsförmlich erbrachten Beweis seiner Schuld als unschuldig.

Oder in Artikel 11 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen (PDF):

Jeder, der einer strafbaren Handlung beschuldigt wird, hat das Recht, als unschuldig zu gelten, solange seine Schuld nicht in einem öffentlichen Verfahren, in dem er alle für seine Verteidigung notwendigen Garantien gehabt hat, gemäß dem Gesetz nachgewiesen ist.

Bei “Bild” sieht die Unschuldsvermutung so aus:

Ausriss Bild-Zeitung - Deutscher tötet Segel-Freund nach der Regatta

In ihrer Überschrift hat die Redaktion keinen Platz für rechtsstaatliche Grundprinzipien. Dabei schreibt sie selbst im ersten Satz des Artikels:

Was sich auf dem Segelboot von zwei deutschen Touristen genau abgespielt hat, ist bislang nicht klar.

In einem weiteren Artikel zum selben Fall (Einleitungssatz: “Es bleibt mysteriös”) bietet “Bild” übrigens einen interessanten Einblick in die eigene Arbeitsweise – Angehörige behelligen:

Als BILD am Haus des mutmaßlichen Mörders [A.] in einer beschaulichen Villengegend in Berlin-Zehlendorf klingeln möchte, verabschiedet die Frau gerade einen Bediensteten und sagt: “Bete für [A.], dass er schnell wieder nach Hause kommt.” Offenbar ist sie von seiner Unschuld überzeugt. Gegenüber BILD will sie die Vorwürfe nicht kommentieren, sagt nur vielsagend: “Können Sie sich das nicht vorstellen?”

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“Bild” mit Gil Ofarim im “Land der Dichter und Stänker”

Für spießbürgerliche Petzen, die ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger wegen Kleinigkeiten denunzieren, hat die “Bild”-Redaktion nur eines übrig: Verachtung. Im April dieses Jahres schrieb beispielsweise ein “Bild”-Autorenteam:

Screenshot Bild.de - Steuern, Wohnen, Parken - Deutsche sollen ihre Mitbürger verpetzen

Wird Deutschland zur Petzer-Republik? Zum Land der Dichter und Stänker?

Immer neue staatliche und halbstaatliche Petz-Portale und -Apps drängen die Deutschen dazu, ihre Mitbürger anzuschwärzen.

Die “Bild”-Redaktion braucht fürs Anschwärzen hingegen gar keine “staatlichen und halbstaatlichen Petz-Portale und -Apps” – sie hat ja Bild.de:

Screenshot Bild.de - Reifen-Problem nach Lügen-Prozess - Droht Gil Ofarim jetzt neuer Ärger?
(Alle Unkenntlichmachungen der Paparazzi-Fotos in diesem Beitrag durch uns.)

Musiker Gil Ofarim, der Ende November vor Gericht zugegeben hat, einen antisemitischen Vorfall in einem Leipziger Hotel nur erfunden zu haben, soll – Achtung, festhalten – noch keine Winterreifen aufgezogen haben. “Bild” nimmt sich diesem Missstand an:

Freitagmorgen in München. Sänger Gil Ofarim (41) trägt vor dem BILD-Reporter Winterreifen in seinen Mini Cooper, fährt danach zur Werkstatt, um sie wechseln zu lassen. Ganz schön spät im so zugeschneiten Süden, gut zwei Wochen vor Weihnachten.

Aber ist das überhaupt erlaubt bei diesen Winterbedingungen in München? BILD fragte bei der Polizei und einem erfahrenen Rechtsanwalt nach: Droht Ofarim nach dem Lügen-Prozess in Leipzig (Sachsen) jetzt neuer Ärger?

Ja, “ist das überhaupt erlaubt” in der “Petzer-Republik” Deutschland? “Bild” sagt lieber mal der Polizei Bescheid. Und die antwortet:

Polizeisprecher Peter Werthmann zu BILD: “Nachdem es keine generelle Winterreifenpflicht gibt, kommt es im Einzelfall auf die Situation und Witterungsbedingungen an, ob eine Ordnungswidrigkeit (OWi) begangen wurde oder nicht. Also je nach Temperatur, gegebenenfalls Schneefall, Eis auf der Straße etc.“

Vor Ofarims Haustür ist eindeutig eine Eisschicht auf der Straße zu erkennen.

Oha, “eindeutig”! Fall gelöst.

Dass die “Bild”-Leute diesen Winterreifen-Skandal so heldenhaft aufdecken konnten, liegt daran, dass sie Gil Ofarim ganz offensichtlich vor dessen Privatgrundstück auflauern. Das Foto, auf dem Ofarim einen der Reifen schleppt, hat ein für “Bild” tätiger Fotograf geschossen. Mit einer anderen Aufnahme aus derselben Serie hat er es am Samstag sogar auf die “Bild”-Titelseite geschafft:

Ausriss Bild-Titelseite - Erstes Foto nach Skandal-Prozess - Ofarim völlig verändert

Der dazugehörige Artikel “Lügen haben kurze Haare” über das “erste Foto nach Skandal-Prozess in radikal neuem Look” bildet den Auftakt der seitdem laufenden Verfolgungsjagd durch die “Bild”-Medien: Bei Bild.de präsentierte die Redaktion anschließend eine Psychologin, die sich nicht zu blöd war, “Gils neue Gel-Frisur” einer fachlichen Analyse zu unterziehen. “Psychologin knackt Ofarim”, steht in der Dachzeile. Uns fällt in diesem Zusammenhang eher ein anderes Stichwort ein: beknackt.

Es folgte der bereits dargelegte Winterreifen-Skandal. Und gestern dann eine weitere Geschichte auf der “Bild”-Titelseite:

Ausriss Bild-Titelseite - Gil Ofarim - Plötzlich wieder auf der Bühne

Der “Bild”-Redaktion wurden mehrere Fotos zugespielt (Fotocredit: “PRIVAT”), die Gil Ofarim auf der Bühne der Ballettschule seiner sechsjährigen Tochter zeigen sollen:

Nach BILD-Infos brachte sich Ofarim bei der Generalprobe als Assistent der Ballettlehrerin mit ein, gab den Kindern Tipps und half mit, dass die Inszenierung noch besser gelingt.

Die Redaktion beschreibt im Artikel, mit wem sich Ofarim die Aufführung seiner Tochter angeschaut und wie er sich verhalten haben soll. Alles offenbar zugetragen von Denunzianten Petzen “Bild”-Informanten.

Mit Dank an Thomas W. für den Hinweis!

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“BILD meint: Thank you, Henry!”

In den frühen Morgenstunden des vergangenen Donnerstags wurde bekannt, dass der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger im Alter von 100 Jahren gestorben war. 100 Jahre – da waren viele Nachrufe natürlich schon lange vorbereitet und konnten entsprechend schnell veröffentlicht werden.

Die “New York Times” entschied sich für eine schlichte Überschrift und einen differenzierenden Vorspann:

Henry Kissinger Is Dead at 100; Shaped the Nation’s Cold War History. The most powerful secretary of state of the postwar era, he was both celebrated and reviled. His complicated legacy still resonates in relations with China, Russia and the Middle East.

Henry Kissinger ist tot mit 100 Jahren;
Prägte die Geschichte der Nation im Kalten Krieg

Als mächtigster Außenminister der Nachkriegszeit wurde er sowohl gefeiert als auch geschmäht. Sein kompliziertes Erbe wirkt noch immer nach in den Beziehungen zu China, Russland und dem Nahen Osten.

(Übersetzung von uns)

Der Text, für dessen Lektüre die Redaktion selbst 38 Minuten kalkuliert (die vorgelesene Version beansprucht eine Stunde und 14 Minuten), und dessen Co-Autor selbst bereits seit 13 Jahren tot ist, erinnert an die Höhe- und Tiefpunkte von Kissingers Außenpolitik: Den Rückzug der US-Truppen aus Vietnam, als nun wirklich gar nichts mehr zu holen war; die Flächenbombardements von Kambodscha, die von vielen als Bruch des Völkerrechts angesehen werden; seine Rolle beim Militärputsch in Chile 1973.

Zu den Kritikern Kissingers, die zu Wort kommen, zählt unter anderem der frühere US-Präsident Barack Obama, der mit den Worten zitiert wird, er sei zu seiner Amtszeit, Jahrzehnte nach Kissingers aktiver Polit-Karriere, immer noch damit beschäftigt gewesen, Ländern zu helfen, Bomben zu entfernen, die immer noch die Beine kleiner Kinder abrissen.

Die “Washington Post” wählte einen etwas neutraleren – man könnte sagen: defensiveren – Angang und schrieb in ihrem Vorspann lediglich, Kissinger sei “auch das Ziel unerbittlicher Kritiker” gewesen, “die ihn für prinzipienlos und amoralisch hielten”.

Das “Wall Street Journal” fasste Kissingers öffentliche Rezeption so zusammen:

Henry Kissinger, Who Helped Forge U.S. Foreign Policy During Vietnam and Cold Wars, Dies at 100. German-born academic was a hero to war-weary Americans, but many blamed him for brutalities abroad

Henry Kissinger, der die US-Außenpolitik während des Vietnam-Krieges und des Kalten Krieges mitgestaltete, stirbt im Alter von 100 Jahren

Der in Deutschland geborene Akademiker war für kriegsmüde Amerikaner ein Held, doch viele machten ihn für Brutalitäten im Ausland verantwortlich

(Übersetzung von uns)

Besondere Aufmerksamkeit erlangte der Nachruf der US-Ausgabe des “Rolling-Stone”-Magazins, dessen Dachzeile “Good Riddance” (“Auf Nimmerwiedersehen”) noch der freundlichste Aspekt war:

GOOD RIDDANCE: Henry Kissinger, War Criminal Beloved by America’s Ruling Class, Finally Dies. The infamy of Nixon

AUF NIMMERWIEDERSEHEN

Henry Kissinger, der von der herrschenden Klasse Amerikas geliebte Kriegsverbrecher, stirbt endlich

Die Niedertracht von Nixons außenpolitischem Architekten steht auf ewig neben der der schlimmsten Massenmörder der Geschichte. Eine tiefere Schande haftet dem Land an, das ihn feiert.

(Übersetzung von uns)

Einen etwas anderen Ansatz wählte die “Bild”-Redaktion am vergangenen Freitag, beinahe ganzseitig in der gedruckten Ausgabe:

Der Jahrhundert-Mann wird fehlen! Henry Kissinger (gestorben mit 100) war Nobelpreis-Träger, Präsidentenflüsterer, Frauenschwarm und Göttergatte

In dem Text taucht das Wort “Vietnam” genau einmal auf (“Dafür erhielt Henry Kissinger den Friedensnobelpreis”), “Kambodscha” oder “Chile” gar nicht. Dafür widmet sich Autor Hans-Jörg Vehlewald ausführlich Kissingers Ehe mit Nancy und dessen Ruf.

Dass Kissinger von “Bild” und dem Axel-Springer-Verlag nach seinem Tod gänzlich unkritisch verabschiedet wird, überrascht nicht: Zu Lebzeiten wurde der gebürtige Fürther und mutmaßliche Kriegsverbrecher vom Haus und dessen Blättern hofiert wie sonst allenfalls noch Helmut Kohl und Vicky Leandros.

Für die Springer-Medien hatte Kissinger zwei große Vorteile: Er konnte zur Untermauerung der wesentlichen weltpolitischen Ansichten des Verlags und dessen Gründers Axel Cäsar Springer (Transatlantizismus, Anti-Kommunismus) herangezogen werden – und ließ sich mit zunehmendem Alter immer lieber darauf ein.

Noch im Oktober dieses Jahres traf Mathias Döpfner, Vorstandsvorsitzender der Axel Springer SE, Kissinger zu einem Gespräch, was dessen “letztes großes Interview” werden sollte und von den Springer-Medien auf allen Kanälen breit präsentiert wurde. Kissinger sagte dabei praktischerweise jede Menge Sachen, die wohl auch viele Leser und Leserinnen von “Bild” und “Welt” jederzeit unterschreiben würden: “Der Grund, weshalb Deutschland in Misskredit geraten ist, liegt fast ein Jahrhundert zurück. Und man kann von einer Nation nicht verlangen, einen Preis für die Taten ihrer Vorväter zu zahlen.” Oder, ebenfalls über Deutschland: “Es war ein schwerer Fehler, so viele Menschen mit völlig unterschiedlichen kulturellen und religiösen Vorstellungen ins Land zu lassen, denn dadurch entsteht in jedem Land eine Interessengruppe, die Druck ausübt.”

Es erscheint nicht völlig abwegig, dass Axel Springer selbst vor seinem Tod verfügte, Kissinger Zeit dessen Lebens mindestens wie einen Popstar der Weltpolitik zu feiern – aber womöglich hätten es die Reporter, Chefredakteure und Vorstandsvorsitzenden seines Verlags auch ganz aus eigenem Antrieb getan, wie ein Blick ins Archiv zeigt.

Die folgende Auflistung ist naturgemäß unvollständig und konzentriert sich nur auf ausgewählte Auftritte Kissingers in den “Bild”-Medien:

11. Januar 1985:

In einer Folge des “Denver Clan” treten Hollywood-Star Cary Grant, Ex-US-Präsident Gerald Ford und dessen Ehefrau Betty als Komparsen auf. Und noch jemand:

Diese Woche im "Denver-Clan": Alexis flirtet mit Kissinger

24. September 1985:

“Bild”-Verleger Axel Cäsar Springer stirbt mit 73 Jahren. Neben salbungsvollen Worten des amtierenden Bundeskanzlers Helmut Kohl, des amtierenden Außenministers Hans-Dietrich Genscher, des amtierenden israelischen Ministerpräsidenten Shimon Peres, des amtierenden bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß, des ehemaligen Bundeskanzlers Willy Brandt und des ehemaligen Box-Weltmeisters Max Schmeling sowie Zitaten aus internationalen Nachrufen bringt “Bild” auch Fotos aus dem Leben des eigenen obersten Chefs.

Darunter eines, das die Zeitung so beschreibt:

Freundschaftlich legt Springer seine Hand auf die Schulter des ehemaligen US-Außenministers Henry Kissinger, der am 15. Juni 1980 ins Berliner Verlagshaus kam. “Die Amerikaner verkörpern die größte Hoffnung der Welt auf eine glückliche Zukunft”, sagte Springer.

14. Juni 1994:

“4 Jahre nach Vollendung der deutschen Einheit” fragt “Bild” in Person ihres damaligen Mitarbeiters, des späteren Regierungssprechers und noch späteren stellvertretenden Chefredakteurs Béla Anda:

"Herr Kissinger, wo ist der Platz der Deutschen in der Welt?"

11. Dezember 1994:

“Bild” begleitet den seit Mitte des Jahres ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zum Brötchenholen. Dabei geraten Krümel von überraschender Kritik in den Artikel: “Im Gegensatz zu Altpolitikern wie Helmut Schmidt oder Henry Kissinger nimmt Richard von Weizsäcker kein Geld für seine Auftritte.”

5. Januar 1999:

“Bild” berichtet über die anstehende Feier anlässlich des 80. Geburtstags von Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt im Hamburger Thalia-Theater. Unter den Prominenten, die sich angekündigt haben, sind Bundespräsident Roman Herzog, Bundeskanzler Gerhard Schröder, Volksschauspielerin Heidi Kabel – und Henry Kissinger.

19. Juli 1999:

John F. Kennedy jr., Sohn des früheren US-Präsidenten, kommt bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. “Bild” listet die Schicksalsschläge auf, die der Kennedy-Clan erdulden musste, und präsentiert einen nur wenig überraschenden Kronzeugen:

Amerikas langjähriger Außenminister Henry Kissinger gestern im TV: “Es ist, als wolle Gott diese Familie bestrafen.”

31. März 2000:

Bundespräsident Johannes Rau stürzt unglücklich über ein Lampenkabel und zieht sich dabei Schnittwunden zu. Rau sagte alle Termine für die nächsten beiden Tage ab, “auch ein Treffen mit dem früheren US-Außenminister Henry Kissinger.”

28. August 2000:

Für die deutsche Fußballnationalmannschaft der Herren steht ein Länderspiel in Hamburg an. Weil die Mannschaft im “Waldhaus” in Reinbek absteigt, porträtiert “Bild” ausführlichst das Hotel und dessen Betreiber.

Der Auszug aus der Gästeliste: Muhammed Ali, Henry Kissinger, Ivana Trump, Gudrun Landgrebe.

12. März 2001:

FIAT-Ehrenpräsident Giovanni Agnelli wird 80:

Er feiert in Paris; Henry Kissinger und Michel Platini gehören zu den wenigen Gästen.

8. Mai 2001:

Etwas überraschend ernennt “Bild” Kissinger auf der Titelseite zum “Verlierer des Tages”. Aber auch nur so ein bisschen:

War Henry Kissinger (77), Friedens-Nobelpreisträger, ein Kriegsverbrecher? Das behauptet das “Enthüllungsbuch” “Der Prozess gegen Henry Kissinger”. Die Anklage: Kambodscha-Bomben, Allende-Attentat etc, etc. Es sind die langen Schatten eines Weltpolitikers. Die Wahrheit ist grau.

23. Mai 2001:

Der ungarische Schriftsteller György Konrád bekommt den Aachener Karlspreis überreicht – natürlich ist er nicht der Erste:

Berühmte Preisträger: König Juan Carlos I. von Spanien, Henry Kissinger, Helmut Kohl gemeinsam mit François Mitterrand – 1986 erhielt den Karlspreis das luxemburgische Volk.

10. Juli 2001:

Hannelore, die Ehefrau von Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl, ist tot:

Altkanzler Helmut Kohl hat verzweifelt gegen die immer schlimmer werdende Lichtallergie seiner Ehefrau Hannelore (†) angekämpft! Jahrelang bemühte er sich um Kontakte zu den besten Medizinern in Deutschland und Österreich. Um seiner Frau zu helfen, schaltete Kohl sogar Ex-US-Außenminister Henry Kissinger ein! Vor drei Wochen noch flog Kohl nach New York, suchte nach US-Spezialisten, die die Lichtallergie mit ganz neuen Therapien hätten bekämpfen können.

Ein willkommener Anlass für “Bild”, um mal wieder ein Interview mit Kissinger zu führen.

10. September 2001:

In Berlin wird das Jüdische Museum eröffnet. “850 Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Show-Business waren geladen.” Der einzige Gast, den “Bild” mit einem O-Ton zitiert: Henry Kissinger.

13. September 2001:

Der 11. September. Naheliegende Frage:

Wie sieht die Vergeltung der Amerikaner aus, Herr Kissinger?

4. Oktober 2001:

“Bild” zeigt ein Foto, auf dem New Yorks Bürgermeister Rudy Giuliani Ex-US-Außenminister Henry Kissinger und dessen Berater Alan Batkin “Ground Zero” zeigt.

24. Januar 2002:

Die US-Regierung erwägt eine Invasion des Irak, weil sie dort Massenvernichtungswaffen vermutet (die nie gefunden wurden).

Ex-US-Außenminister Henry Kissinger plädiert – wie Rumsfeld und US-Vizepräsident Cheney – für einen schnellen Schlag gegen Irak. Kissinger in der WELT am SONNTAG: “Ein militärisches Vorgehen gegen Saddam darf sich nicht lange hinziehen.”

17. März 2002:

Bundespräsident Rau gibt für den ehemaligen Bundesminister für besondere Aufgaben, Egon Bahr, ein Essen im Schloss Bellevue:

Der Grund: Morgen feiert Bahr seinen 80. Geburtstag und bekommt außerdem die Berliner Ehrenbürgerwürde. Besonderer Gast beim Dinner in Berlin ist Ex-US-Außenminister Henry Kissinger!

2. November 2002:

“Bild”-Kolumnist Claus Jacobi hadert mit der Haltung der Bundesregierung, die bei einem möglichen Irak-Krieg nicht mitmachen möchte, und präsentiert einen erwartbaren Kronzeugen:

Genau 40 Jahre ist das nun her, 40 Jahre von Adenauer bis Schröder, in denen ein wiedervereinigtes Deutschland entstand, dem Henry Kissinger letzte Woche “pazifistisch-nationalistische” Wesenszüge bescheinigte.

15. Dezember 2002:

Nebulöse kleine Meldung auf der “Bild”-Titelseite:

Kissinger zurückgetreten

Washington – Der frühere US-Außenminister Henry Kissinger ist als Leiter der Untersuchungskommission zu möglichen Geheimdienstpannen vor den Terroranschlägen vom 11. September zurückgetreten. Kissinger erklärte, er wolle vermeiden, dass es wegen seiner Geschäftsbeziehungen zu einem Konflikt komme.

11. April 2003:

Die Concorde wird eingemottet! “Bild” erinnert standesgemäß an das Überschall-Flugzeug:

Man traf Musikgenie Rostropowitsch, der einen Platz für sein Cello reservierte – oder Henry Kissinger.

20. Juni 2004:

“Bild am Sonntag” zu Gast beim ehemaligen DFB-Präsidenten Egidius Braun:

Als BILD am SONNTAG den ehemaligen DFB-Präsidenten besucht, ist gerade ein ganz privater Brief vom ehemaligen US-Außenminister Kissinger eingetroffen

17. Juli 2004:

Claus Jacobi kann in seiner Kolumne mit einer ganz scharfen Enthüllung aufwarten:

Aus kürzlich in Washington veröffentlichen Protokollen der siebziger Jahre geht hervor, dass der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger den Vertrauten Willy Brandts, Egon Bahr, als “Reptil” bezeichnet hat.

28. August 2004:

Claus Jacobi kolumniert:

Die zwei rätselhaften Flugzeugabstürze über Russland haben uns einmal mehr die Zwickmühle aufgezeigt, in der wir laut Henry Kissinger im Kampf gegen den Terror stecken: Terroristen haben schon was gewonnen, wenn sie nicht verlieren. Staaten haben schon was verloren, wenn sie nicht gewinnen.

3. Oktober 2004:

Der Fotograf Richard Avedon ist gestorben.

Henry Kissinger bat ihn laut “Bild”: “Seien Sie nett zu mir.”

17. November 2004:

“Bild”-Kolumnist Norbert Körzdörfer stellt die neue US-Außenministerin Condoleezza Rice vor:

Sie ist Single, Sphinx, Schwarze.

Sie hat keine Kinder, keinen Mann, keine Geschwister.

Das ist vielleicht ein überraschender Einstieg in einen Text, aber es wird noch weirder:

Jetzt wird Condi Rice die mächtigste Frau der Welt – ein “Kissinger mit Pumps”!

13. April 2005:

Alt-Bundeskanzler Helmut Kohl begeht seinen 75. Geburtstag. Unter den Gratulanten laut “Bild”: “Der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger, der Kohl zu Ehren auf Deutsch sprach”.

17. April 2005:

Sensationelle Anekdote von Kohls Geburtstagsfeier:

Mit dabei ist auch Ex-US-Außenminister Henry Kissinger. Der ehemalige Franke redet auf deutsch. Zuvor hatte er sich schon – ebenfalls auf deutsch – mit CDU-Chef Angela Merkel intensiv in deren Büro ausgetauscht. Das macht Kissinger übrigens immer, wenn er in Berlin ist. Am Kohl-Festabend zählt er aber noch aus einem anderen Grund auf Merkel. Während der Feier möchte Kissinger zu gern wissen, wie das Zweitligaspiel zwischen dem 1. FC Köln und seinem alten Lieblingsverein, der Spielvereinigung Greuther Fürth, ausgegangen ist. Angela Merkel bekommt das Ergebnis per SMS vom NRW-Spitzenkandidaten Jürgen Rüttgers (CDU). Dann eilt sie zum Tisch der alten Herren und überbringt Kissinger die traurige Botschaft: Fürth hatte 2:3 verloren!

8. Mai 2005:

Genau 60 Jahre nach Kriegsende redet heute zum 8. Mai im hessischen Darmstadt Ex-US-Außenminister Henry Kissinger.

“Bild am Sonntag” weiß bereits, was er sagen wird.

22. März 2007:

Der frühere Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher wird 80. Unter den Gratulanten, die es mit einem Foto in “Bild” schaffen: Henry Kissinger.

5. August 2007:

“Bild-am-Sonntag”-Kolumnist Helmut Böger nimmt eine außereheliche Affäre zwischen CSU-Politiker Horst Seehofer und einer 25 Jahre jüngeren Frau zum Anlass, über das “Parfüm der Macht” zu spekulieren, das “viele junge Frauen in Versuchung” führe:

“Macht”, so hat es der machtbewusste ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger (84) formuliert, “ist das ultimative Aphrodisiakum.”

Im nächsten Satz zeigt Böger, wie er sein Publikum einschätzt:

Laut Fremdwörter-Duden ein “den Geschlechtstrieb anregendes Mittel”.

16. November 2007:

In New York erhält der Springer-Vorstandsvorsitzenden Mathias Döpfner die Leo-Baeck-Medaille (erster Preisträger: Axel Springer). Die Laudatio hält Henry Kissinger.

22. Mai 2008:

Bei Edward “Ted” Kennedy, Bruder der ermordeten US-Politiker John F. und Robert F. Kennedy, wird ein bösartiger Hirntumor festgestellt (der sogenannte “Kennedy-Fluch”, BILDblog berichtete). Willkommene Gelegenheit für “Bild”, das Kissinger-Zitat über die Familie Kennedy aus dem Juli 1999 noch mal aufzuwärmen.

29. Juni 2008:

Im Finale der Fußball-Europameisterschaft der Männer spielt Deutschland gegen Spanien:

Wegen des großen Interesses deutscher und spanischer Politiker am Finale, aber auch vieler anderer Promis, musste das Kontingent der Ehrenplätze ausgeweitet werden. Erst heute im Laufe des Tages wird es einen endgültigen Sitzplan geben. Erst dann werden auch der frühere US-Außenminister Henry Kissinger, Moderator Thomas Gottschalk, Schauspieler Harrison Ford, Musiker Shaggy, Ex-Formel-1-Weltmeister Michael Schumacher und Sänger Enrique Iglesias platziert werden.

6. September 2008:

Henry-Kissinger-Ultra Claus Jacobi erzählt in seiner Kolumne folgende Henry-Kissinger-Anekdote:

Nicht lange nachdem Amerikas Präsident Richard Nixon den Außenpolitiker Henry Kissinger zum Außenminister ernannt hatte, besuchte ihn im Weißen Haus Israels weiblicher Premierminister Golda Meir, in deren Händen die Außenpolitik ihres Landes lag. Nixon war es, der auf den ungewöhnlichen Zustand hinwies, dass nun ausgerechnet die internationale Politik der USA und Israels von zwei Angehörigen jüdischer Familien gesteuert werde. “Ja”, meinte Golda Meir, in Anspielung auf Kissingers schweren deutschen Akzent, “aber meiner kann Englisch sprechen.”

7. Februar 2009:

Henry Kissinger (85), US-Außenminister unter Richard Nixon, war gestern Abend der Stargast beim deutsch-amerikanischen-Freundschafts-Dinner von Rechtsanwalt Wolfgang Seybold. Dr. Gabriele Begum Inaara Aga Khan über Kissinger: “Ein beeindruckender Mann!”

9. Februar 2009:

“Gewinner” auf der “Bild”-Titelseite: Henry Kissinger

Als jüdischer Emigrant aus Fürth brachte es Henry Kissinger (85) in USA zum Außenminister, Friedensnobelpreisträger, Geschichtsprofessor in Harvard. 1990 unterstützte er die Wiedervereinigung. Jetzt hat ihn die Münchner Sicherheitskonferenz mit dem Ewald-von-Kleist-Preis ausgezeichnet – für “außerordentliche Verdienste” um Frieden und deutsche Einheit.

BILD meint: Thank you, Henry!

9. Mai 2009:

Henry-Kissinger-Ultra Claus Jacobi erzählt in seiner Kolumne noch einmal folgende Henry-Kissinger-Anekdote:

Kurz nachdem US-Präsident Richard Nixon Henry Kissinger mit dem schweren deutschen Akzent zum Außenminister ernannt hatte, besuchte Israels Premierminister Golda Meir den Staatschef im Oval Office des Weißen Hauses. Er begrüßte sie herzlich und scherzte dabei, dass nun ja ihre beiden Länder jüdische Außenminister hätten. “Ja”, meinte Mrs. Meir: “Aber meiner spricht Englisch.”

9. September 2009:

Kalenderspruch des Tages auf der “Bild”-Titelseite:

“Erst wenn es um unbedeutenden Kleinkram geht, werden Auseinandersetzungen wirklich bitter.”

Henry A. Kissinger, amerikanischer Politiker (*1923)

10. Oktober 2009:

Spektakulärer Schuldspruch für einen der reichsten Männer Amerikas: Anthony Marshall (85), der Sohn von New Yorks einstiger Society-Queen Brooke Astor ((†) 105), muss ins Gefängnis. Er hatte die Alzheimer-Krankheit seiner Mutter ausgenutzt, um sich ihr Vermögen anzueignen. Um dies vor ihren Freunden (wie Ex-Außenminister Henry Kissinger) geheim zu halten, hatte er sie über Jahre in ihrem Luxusappartement gefangen gehalten.

9. November 2009:

Mathias Döpfner hat in der Villa Schöningen ein Museum eingerichtet. Unter den 500 Gästen bei der feierlichen Eröffnung, wie in “Bild” zu lesen ist: Henry Kissinger.

10. November 2009:

Zum 20. Jahrestag der Maueröffnung ist in der Axel-Springer-Passage in Berlin die Portrait-Büste “Michail Gorbatschow” feierlich enthüllt worden:

Im Beisein von Ex-US-Außenminister Henry Kissinger und dessen Kollegen Hans-Dietrich Genscher nahm Michail Gorbatschow persönlich die Ehrung entgegen. Gorbatschow bedankte sich bei Friede Springer, dem Springer- Vorstandsvorsitzenden Mathias Döpfner und bei BILD-Chef Kai Diekmann

25. November 2009:

Bei all dem Um-die-Welt-Jetten, Preise-Annehmen-und-Überreichen und Mit-Matthias-Döpfner-Rumhängen schafft Henry Kissinger es auch noch, sich mit den Vorgängen bei deutschen Fernsehsendern zu befassen:

ZDF-Intendant Markus Schächter (60) ist in New York mit dem Ehren-Emmy ausgezeichnet worden. “Er hat das ZDF durch eine turbulente Vergangenheit geführt und es gut positioniert für eine fantastische Zukunft”, sagte Ex-US-Außenminister Henry Kissinger (86) in seiner Laudatio.

7. Februar 2010:

Nur ein Jahr nach seinem letzten Besuch ist Henry Kissinger schon wieder Ehrengast beim deutsch-amerikanischen-Freundschafts-Dinner von Rechtsanwalt Wolfgang Seybold. Für einen kurzen Moment an seiner Seite: Minister-Gattin Stephanie zu Guttenberg, eine weitere “Bild”-Ikone.

23. Februar 2010:

“Bild”-Redakteur Alexander von Schönburg nutzt “Bild”, um seiner Schwester Gloria von Thurn und Taxis zum Geburtstag zu gratulieren:

Liebe Leser,

ich habe meiner Schwester Gloria so viel zu verdanken. Als Kind nahm sie mich überall mit hin. Mit ihr traf ich Diana, Mick Jagger, Fidel Castro, Kissinger, Strauß, Kohl … Danke BILD, dass ich heute mein Geburtstagsständchen vor 12 Millionen Lesern singen darf.

7. April 2010:

Zum 80. Geburtstag von Helmut Kohl gibt dessen Trauzeuge, “Bild”-Chefredakteur Kai Diekmann, ein zweibändiges Foto-Buch über den Altkanzler heraus, das in den “Bild”-Medien ausführlich beworben wird. Einer der Autoren, die einen Text beisteuern: Henry Kissinger.

26. April 2010:

Altbundespräsident Richard von Weizsäcker feiert seinen 90. Geburtstag. “Bild” entdeckt unter den Gratulanten: Henry Kissinger.

17. Mai 2011:

Wie “Bild” berichtet, erhält Altkanzler Helmut Kohl den “Henry Kissinger Preis” der American Academy. Neben dem offiziellen Laudator, Ex-US-Präsident Bill Clinton, ist noch jemand erschienen, um Kohl den Preis zu überreichen: Namensgeber Henry Kissinger.

9. Juni 2011:

Endlich mal wieder “Gewinner des Tages”: Henry Kissinger!

Mit seinen “Erinnerungen” hat Ex-US-Außenminister Henry Kissinger (88) einen Bestseller gelandet. Die “New York Times” feiert sein heute auf Deutsch erscheinendes Werk “China – Zwischen Tradition und Verantwortung” (C. Bertelsmann, 608 S.) als “faszinierendes, scharfsichtiges Buch”.

BILD meint: Lesen!

29. September 2011:

Ex-Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg schließt sich in den USA dem renommierten Forschungs- und Analysezentrum (Think Tank) “Center for Strategic and International Studies” an. Dem in Washington ansässigen CSIS auch angeschlossen sind internationale Politiker wie Henry Kissinger.

18. November 2011:

“Bild” weiß zu berichten, dass Bundespräsident Christian Wulff in der Hauptstadtrepräsentanz der Deutschen Telekom die “Goldene Ehren-Victoria” des Verbands Deutscher Zeitschriftenverleger an Henry Kissinger verliehen hat.

18. April 2012:

Die Spielvereinigung Greuther Fürth steigt erstmalig in die Fußball-Bundesliga auf.

Und der berühmteste Fürth-Fan freute sich in den USA. Ex-US-Außenminister Henry Kissinger (88) ist in der fränkischen Stadt (115 000 Einwohner) geboren.

21. April 2012:

Große Ehre für den Aufsteiger!

Der in Fürth geborene ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger (88) hat in einem persönlichen Schreiben Klub-Präsident Helmut Hack (62) gratuliert. Kissinger: “Herzlichen Glückwunsch! Dieser Aufstieg war überfällig.”

3. Mai 2012:

“Bild”-Verleger Axel Cäsar Springer hätte seinen 100. Geburtstag gefeiert. “Bild” begeht diesen Anlass mit einer minutiösen Nacherzählung des Festakts, den der Springer-Vorstandsvorsitzende Mathias Döpfner seinem Verlag verordnet hat, und lässt Prominente auf die Frage: “Warum ist Axel Springer noch heute so wichtig?” antworten. Neben salbungsvollen Worten der amtierenden Bundeskanzlerin Angela Merkel, des ehemaligen Außenministers Hans-Dietrich Genscher, des amtierenden israelischen Staatspräsidenten Shimon Peres und von Uwe Seeler kommt auch Henry Kissinger zu Wort.

4. September 2012:

“Bild”-Sportteil:

Kissinger kommt

Der frühere US-Außenminister Henry Kissinger (89) kommt am 15. September zum Heimspiel von Aufsteiger Fürth gegen Schalke. Kissinger wurde in Fürth geboren.

14. September 2012:

“Bild”-Sportteil, jetzt aber wirklich:

Kissinger kommt

Großer Besuch: Der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger (89) ist morgen Gast beim Spiel von Aufsteiger Greuther Fürth gegen Schalke. Kissinger wurde in Fürth geboren und ist ein großer Fußball-Fan.

15. September 2012:

Blitzbesuch in der Hauptstadt: Ex-US-Außenminister Henry Kissinger (89, Foto) besuchte für 24 Stunden Berlin.

16. September 2012:

“Bild”-Sportteil:

Draxler zerschießt Kissingers Tipp

Der berühmteste Fürther hatte auf ein 2:0 gehofft – doch die Schalker waren zu stark für den Aufsteiger

17. September 2012:

Jetzt kennen wir endlich Kissingers gesamten Zeitplan der vergangenen Tage:

Er kam nach Berlin, um sich für den Wiederaufbau des historischen Stadtschlosses einzusetzen, flog am nächsten Tag in seine Geburtsstadt Fürth. Vorher sprach Henry Kissinger (89) mit BILD im Berliner Schlosshotel Grunewald über die Unruhen in der arabischen Welt, über Kanzlerin Merkel und seine Heimatstadt.

26. Januar 2013:

Ganz schön was los in Davos! Beim Weltwirtschaftsforum trifft Polit- auf Party-Prominenz: So plauderte Ex-US-Außenminister Henry Kissinger (89) beim Hummeressen angeregt mit Veronica Ferres (47). Filmreif!

27. Mai 2013:

Er floh als Jude vor dem Nazi-Terror nach Amerika – und schrieb als US-Außenminister Weltgeschichte: Henry Kissinger wird heute 90 Jahre alt! Zum Geburtstag bekommt der Friedensnobelpreisträger ein besonderes Geschenk: In seiner Heimatstadt Fürth gibt’s künftig einen “Dr.-Henry-Kissinger-Platz”. BILD meint: Happy Birthday, Henry!

12. Juni 2013:

Aus Anlass seines 90. Geburtstags (27. Mai) hat die Axel Springer AG gestern Abend den früheren US-Außenminister und Friedensnobelpreisträger Henry Kissinger und seine Frau Nancy in den Berliner Journalistenclub eingeladen.

9. Oktober 2014:

Helmut Kohl stellt auf der Frankfurter Buchmesse seine Memoiren vor – und die “Bild”-Redakteure Ralf Schuler und Alexander von Schönburg sind ganz nah dran:

Was niemand auf der Buchmesse wusste: Der Altkanzler hatte vor der Buchvorstellung schon ein straffes Programm hinter sich gebracht, zwei große politische Weggefährten im Sheraton-Hotel am Frankfurter Flughafen getroffen: Henry Kissinger und James Baker, der bei Mauerfall und Wiedervereinigung US-Außenminister war und von Kissinger bei seinem Spitznamen “Jim” genannt wird.

2. April 2015:

Einen Tag vor Helmut Kohls 85. Geburtstag gratulieren Bundeskanzlerin Angela Merkel und “der legendäre ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger dem Kanzler der Einheit” mit einem gemeinsamen Aufsatz in “Bild”.

24. November 2015:

Altkanzler Helmut Schmidt ist gestorben. Zu den Trauerrednern beim Staatsakt gehörte Henry Kissinger, der anschließend auch noch mit einer “Post von Wagner” klarkommen muss.

6. Dezember 2015:

Frank Sinatra wäre 100 Jahre alt geworden. “Bild am Sonntag” erinnert mit “10 Erinnerungssplittern” an den Entertainer. Nummer fünf:

Bei einem Dinner mit dem damaligen US-Außenminister Henry Kissinger beteuerte Sinatra, nichts mit der Mafia am Hut zu haben. Woraufhin Kissinger sagte: “Schade, wer kümmert sich jetzt um meine Feinde?”

5. März 2016:

“Bild” veröffentlicht die etwas verstörende Liste “Diese Super-Reichen sind noch zu haben”. Darauf: Elizabeth Holmes, Gründerin und Chefin des Laborunternehmens Theranos. “Bild” weiß: “Zu ihren größten Fans gehört der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger.” Heute sitzt Holmes wegen Betrugs im Gefängnis.

7. Juni 2016:

Springer richtet die “Axel Springer NOAH Berlin” aus, eine Veranstaltung, die der Verlag selbst als “das führende Branchen-Event der europäischen Internet- und Digitalwirtschaft” beschreibt. Beim “traditionellen Eröffnungsdinner am Vorabend der Konferenz” im Berliner Verlagshaus spricht Henry Kissinger zu “ausgewählten Konferenzgästen”.

22. November 2016:

“Bild” druckt das “fiktive Tagebuch” des zukünftigen US-Präsidenten Donald Trump seit dessen Sieg bei den Präsidentschaftswahlen. Darin:

17. November
Henry Kissinger war da. Erzählte von China, Russland und dieser EU. War interessant, aber, puh, ziemlich lang.

16. Oktober 2017:

“Bild” hat einen neuen Liebling: Sebastian Kurz. Und die Redaktion weiß Wissenswertes über den neuen österreichischen Bundeskanzler zu berichten:

SEINE VORBILDER
Sebastian Kurz hat viele politische Biografien gelesen. Am meisten imponierte ihm das Lebenswerk von HENRY KISSINGER (persönliches Treffen vor drei Wochen in New York bei der UN-Generalversammlung) und HELMUT KOHL (“Vater der deutschen Einheit”).

1. Juni 2018:

Er beschützte Henry Kissinger und die Geissens: Promi-Bodyguard fast im Rhein ertrunken

22. Januar 2020:

“Gewinnerin des Tages”: Angela Merkel.

Große Ehre für die Kanzlerin: Die American Academy zeichnete Angela Merkel (65, CDU) gestern mit dem Henry-A.-Kissinger-Preis aus. Der legendäre US-Außenminister Kissinger (96) lobte Merkel in seiner Laudatio für ihren nüchtern unaufgeregten Politik-Stil.

BILD meint: Physikerin der Macht!

27. Mai 2021:

Henry Kissinger wird anlässlich seines 98. Geburtstags im Rahmen einer Veranstaltung der Deutschen Atlantischen Gesellschaft zugeschaltet. Markus Söder gratuliert, “Bild” berichtet.

21. Mai 2023:

Eine Woche vor seinem 100. Geburtstag warnt Henry Kissinger im Interview mit dem “Economist” vor einem dritten Weltkrieg, bietet aber praktischerweise direkt auch Lösungsvorschläge an, die “Bild plus” gerne mit seinem zahlenden Publikum teilt.

27. Mai 2023:

Henry Kissinger wird 100, und Hans-Jörg Vehlewald kann nicht mehr an sich halten:

Dieser Mann ist schlicht ein Wunder!

Ein 100-jähriges Orakel, ein politischer Generalschlüssel, der Hüter der diplomatischen Weltformel. Einer, der jederzeit den US-Präsidenten, Russlands Kriegstreiber Putin oder China-Regent Xi Jinping ans Telefon kriegt, wenn er will.

Doch das Geheimnis seines Weltruhms und seines Jahrhundertlebens wird kaum beachtet: Nancy Kissinger (89), die First Lady der Weltdiplomatie.

22. Juni 2023:

Kissingers Geburtsstadt Fürth feiert den 100. Geburtstag. “Bild”-Redakteur Alexander von Schönburg besucht die Eröffnung einer Ausstellung über den “Jahrhundert-Mann” und urteilt mit einem Hauch Homoerotik: “Humor, Geist und Macht – DAS macht einen Mann wohl unwiderstehlich.” Von Schönburg möchte das mit Erzählungen von einem “Sommer in der Karibik” untermauern, in dem seine älteste Schwester den 35 Jahre älteren Kissinger “anhimmelte”.

Andererseits kann man von Schönburg nicht vorwerfen, seine Hausaufgaben nicht gemacht zu haben:

Über die historische Bedeutung dieses Heinz (so sein Geburtsname!) Kissinger aus Fürth, der mit 15 mit seiner Familie vor den Nazis nach Amerika flüchtete und zum bedeutendsten Außenpolitiker der Welt aufstieg, steht alles in Geschichtsbüchern. Inklusive der dunklen Kapitel. Seine Rolle im Vietnam-Krieg. Der von der USA finanzierte Staatsstreich in Chile …

Mathias Döpfner, Vorstandsvorsitzender von Axel Springer, hält “eine mit Anekdoten gespickte Geburtstagsrede” auf den (abwesenden) Jubilar.

So viele Menschen könnten arbeiten und arbeiten auch schon

Kommen wir noch einmal zum Bürgergeld und der Frage, wie die “Bild”-Redaktion mit einseitiger und/oder unvollständiger und/oder verzerrter Berichterstattung versucht, Stimmung zu dem Thema zu machen.

Und zwar so:

Screenshot Bild.de - Neue Zahlen zum Bürgergeld - So viele Menschen könnten arbeiten, kriegen aber Stütze

Neue Daten der Bundesagentur für Arbeit (BA) belegen: Hunderttausende Menschen könnten in Deutschland arbeiten, bekommen aber Stütze vom Staat.

Im April 2023 zählte die BA rund 3,9 Millionen “erwerbsfähige Regelleistungsberechtigte”. Sprich: Menschen, die arbeiten könnten, aber Bürgergeld erhalten.

Mehrfach schreibt “Bild” im Artikel (und ja auch schon in der Überschrift), dass sogenannte erwerbsfähige Leistungsberechtigte arbeiten könnten, stattdessen aber Bürgergeld beziehen:

Der Anteil “erwerbsfähiger Leistungsberechtigter” – also Menschen, die arbeiten können, aber Bürgergeld erhalten – lag im April …

Nirgendwo im Text steht es explizit, aber es schwingt an vielen Stellen mit: Schaut euch nur diese Faulen an. Die könnten arbeiten, lassen sich aber lieber vom Staat aushalten.

Doch schon die statistische Grundannahme der “Bild”-Redaktion ist falsch.

Die Definition der Bundesagentur für Arbeit (BA) für erwerbsfähige Leistungsberechtigte lautet:

Als erwerbsfähige Leistungsberechtigte (ELB) gelten gem. § 7 SGB II Personen, die

• das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben,
• erwerbsfähig sind,
• hilfebedürftig sind und
• ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben.

3.938.055 ELB gab es im April dieses Jahres, der aktuellste Monat, für den aufgeschlüsselte Daten von der BA vorliegen (Excel-Datei). Während die “Bild”-Redaktion ihrer Leserschaft einhämmert, dass sie alle arbeiten könnten, ist es tatsächlich anders – ein beachtlicher Teil von ihnen arbeitet bereits: 779.801 Personen führt die BA als erwerbstätige erwerbsfähige Leistungsberechtigte. Das sind 19,8 Prozent aller ELB. Manche von ihnen sind Selbstständige, die meisten aber sind abhängig erwerbstätig: Manche in Vollzeit, mehr in Teilzeit oder ausschließlich geringfügig beschäftigt, auch Auszubildende sind dabei. Sie alle arbeiten – und beziehen Bürgergeld als ELB. Häufig werden sie als “Aufstocker” bezeichnet.

Von ihnen ist im “Bild”-Artikel nichts zu lesen. Dort liest man nur platte Parolen wie: “Stütze statt Schuften”.

Und auch einen anderen Aspekt lässt die “Bild”-Redaktion völlig unerwähnt: Von den 3.938.055 ELB führt die Bundesagentur für Arbeit in ihrer Statistik nur 1.683.023 als arbeitslos (42,7 Prozent). Die anderen 2.255.032, also die Mehrheit (57,3 Prozent), sind “nicht arbeitslose ELB”. Und dafür gibt es ganz gute Gründe. Die BA schreibt in ihrem “Monatsbericht zum Arbeits- und Ausbildungsmarkt” (PDF) für den Monat August (der auf die aufgeschlüsselten Daten vom April zurückgreift) über die “Gründe für die Nicht-Arbeitslosigkeit erwerbsfähiger Leistungsberechtigter”:

Es sind vor allem drei Gründe, derentwegen erwerbsfähige Leistungsberechtigte nicht arbeitslos sind. Für 701.000 erwerbsfähige Leistungsberechtigte war eine Arbeit derzeit nicht zumutbar, weil sie entweder kleine Kinder betreuten bzw. Angehörige pflegten oder noch zur Schule gingen bzw. studierten. 441.000 Personen waren nicht arbeitslos, weil sie einer ungeförderten Erwerbstätigkeit von mindestens 15 Wochenstunden nachgingen. 523.000 Personen haben an einer arbeitsmarktpolitischen Maßnahme oder an einem Integrationskurs teilgenommen.

Über diese Gruppen hinaus zählten 253.000 erwerbsfähige Leistungsberechtigte nicht als arbeitslos, weil sie arbeitsunfähig erkrankt waren. Und schließlich galten für 139.000 erwerbsfähige Leistungsberechtigte Sonderregelungen für Ältere.

Auch von diesen Personen, die “Leistungen aus der Grundsicherung für Arbeitsuchende [erhalten], ohne arbeitslos zu sein”, wie die BA schreibt, liest man im “Bild”-Artikel nichts. Es handelt sich dabei natürlich auch um eine definitorische Frage, die die Zahlen für die Bundesagentur für Arbeit besser aussehen lassen kann. Aber dass “Bild” beispielsweise Schülerinnen und Schüler oder arbeitsunfähig Erkrankte als Menschen präsentiert, “die arbeiten könnten, aber Bürgergeld erhalten”, ist grotesk und eine stark verzerrte Wiedergabe der Statistik.

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Der gesetzlich vorgeschriebene, jährliche “neue Ampel-Plan”

In dem Vorgang steckt eigentlich nichts Skandalöses: Jedes Jahr muss die jeweils amtierende Bundesregierung die sogenannten Rechengrößen der Sozialversicherung festlegen. Dazu gehören beispielsweise die Beitragsbemessungsgrenzen, die vorgeben, bis zu welcher Einkommensgrenze Beiträge für die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung und die gesetzliche Rentenversicherung erhoben werden. Für das Einkommen, das oberhalb dieser Grenzen liegt, fallen keine Sozialabgaben an.

Die Regierung muss das machen, sie ist dazu verpflichtet – mehrere Gesetze schreiben diese Praxis vor. So steht beispielsweise zur Rentenversicherung in Paragraf 160 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch:

Die Bundesregierung hat durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates

1. die Beitragssätze in der Rentenversicherung,
2. in Ergänzung der Anlage 2 die Beitragsbemessungsgrenzen

festzusetzen.

In Paragraf 159 ist mit Blick auf die Beitragsbemessungsgrenzen das Wie geregelt:

Die Beitragsbemessungsgrenzen in der allgemeinen Rentenversicherung sowie in der knappschaftlichen Rentenversicherung ändern sich zum 1. Januar eines jeden Jahres in dem Verhältnis, in dem die Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer (§ 68 Abs. 2 Satz 1) im vergangenen zu den entsprechenden Bruttolöhnen und -gehältern im vorvergangenen Kalenderjahr stehen.

Im erwähnten Paragraf 68 Absatz 2 Satz 1 steht:

Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer sind die durch das Statistische Bundesamt ermittelten Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer ohne Personen in Arbeitsgelegenheiten mit Entschädigungen für Mehraufwendungen jeweils nach der Systematik der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen.

Das heißt: Die Bundesregierung muss die Rechengrößen der Sozialversicherung nicht nur jedes Jahr neu festlegen; sie hat dabei – beispielsweise bei der Ermittlung der Beitragsbemessungsgrenzen – auch nicht freie Hand, sondern muss sich an die Berechnungen des Statistischen Bundesamtes halten.

Wie gesagt: Eigentlich nichts Skandalöses, sondern alles gesetzlich so vorgesehen, wenn die amtierende Ampel-Regierung bald die neuen Rechengrößen beschließen will.

Die “Bild”-Redaktion gibt sich große Mühe, es anders wirken zu lassen:

Screenshot Bild.de - Neuer Ampel-Plan - Sozialbeitrags-Hammer ab 2024

Es sei ein “Plan der Bundesregierung”:

Der Plan der Bundesregierung: In der gesetzlichen Rentenversicherung und in der Arbeitslosenversicherung sollen bis zu einem Betrag von monatlich 7550 Euro (West) beziehungsweise 7450 Euro (Ost) Beiträge fällig werden.

Laut “Bild” handele es sich um einen “Vorstoß”, der “zuletzt für Zoff in der Ampel-Koalition” gesorgt habe. Und der Arbeitsminister mache Tempo:

Doch der zuständige Arbeitsminister Hubertus Heil (50, SPD) macht Tempo: Der Sozialbeitrags-Hammer soll schon am 11. Oktober vom Bundeskabinett auf den Weg gebracht werden.

Ohne Hubertus Heil zu nahe treten zu wollen: Er ist in diesem Sinne wahrlich kein besonderer Tempomacher. Die “Verordnung über maßgebende Rechengrößen der Sozialversicherung” wurde 2022 am 12. Oktober vom Bundeskabinett beschlossen, 2021 war es am 20. Oktober, 2020 am 14. Oktober, 2019 am 9. Oktober, 2018 am 10. Oktober, 2017 am 27. September und so weiter.

Wenn es in ihre Erzählung passt, erklärt die “Bild”-Redaktion einfach mal etwas sehr Übliches zum nächsten Aufreger-“Hammer”.

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“Bild”-Chefin nutzt deutsche Basketballer als Scheinargument

Deutschland ist Basketball-Weltmeister, zum allerersten Mal. Bei so einem historischen Ereignis muss natürlich die Chefin ran:

Screenshot Bild.de - Kommentar von Bild-Chefin Marion Horn - Heute sind wir alle Basketball!

Horn schreibt unter anderem:

Deutschland kann es also noch. Der Ball ist wieder im Spiel. Endlich wieder Sieger-Typen mit Biss und Charisma. Vielleicht liegt es daran, dass einige der Spieler in den USA spielen. Da zählt Gewinnen noch und Helden werden verehrt. Zumindest da, wo keine Männer in Frauen-Badeanzügen am Start sind.

Der letzte Satz kommt einigermaßen überraschend und lässt in seiner Form recht viel Spielraum für Interpretationen. Nehmen wir mal die für Marion Horn freundlichste und gehen davon aus, dass sich an der Stelle nicht einfach plumper Zorn auf trans* Personen Bahn bricht: Horn scheint auf Lia Thomas anzuspielen, eine trans* Frau, deren Erfolge beim Schwimmen auf College-Ebene für große Diskussionen gesorgt haben.

Dass Marion Horn selbst im Moment größter Verzückung – ihren Kommentar startet sie mit: “Haben Sie auch so gute Laune? Ich bekomme das Strahlen kaum noch aus dem Gesicht” – nicht in der Lage ist, ohne diese Giftspritze auszukommen, ist vor allem eins: traurig für Marion Horn.

Es soll hier aber vor allem um den anderen Aspekt in dem Zitat und dessen faktische Grundlage gehen: Vielleicht liege der WM-Triumph der “Sieger-Typen mit Biss und Charisma” daran, so Horn, “dass einige der Spieler in den USA spielen. Da zählt Gewinnen noch und Helden werden verehrt.”

Diese Aussage knüpft an eine aktuelle Diskussion an, in der es in ihrer Überspitzung letztlich darum geht, ob in Deutschland Leistung wumpe ist, ein ganzes Land verweichlicht, keinen Druck und Niederlagen mehr aushält und nichts mehr zustande bringt. Die Reform der Bundesjugendspiele wird dabei immer wieder genannt, genauso eine Änderung im Spielbetrieb des Kinderfußballs (weil man es derzeit an allen möglichen Stellen falsch hört: Nein, es werden dabei nicht Sieg und Niederlage abgeschafft, es geht weiterhin ums Gewinnen und Verlieren, was wegfällt sind die Tabellen).

In diese Debatte will Marion Horn also auch den WM-Sieg der deutschen Basketballer einrühren. Weil die überragenden Auftritte des Teams natürlich so gar nicht in den Abgesang auf die Leistungsnation Deutschland passen, muss Horn sich dafür ganz schön verbiegen.

Schauen und zählen wir doch einfach mal nach: Im deutschen Team spielen mit Dennis Schröder (Toronto Raptors), Daniel Theis (Indiana Pacers) sowie Franz und Moritz Wagner (beide Orlando Magic) vier Spieler in der nordamerikanischen Profiliga NBA. Die anderen acht deutschen Teammitglieder sind in Deutschland, Italien, Spanien und der Türkei aktiv.

Schröder und Theis wechselten beide von der Basketball-Bundesliga in die NBA. Die WagnerBrüder schafften beide von der Basketball-Bundesliga beziehungsweise von deutschen Nachwuchsteams übers US-College den Weg in die NBA. Keiner der vier ist in den USA aufgewachsen und hat dort mit dem Basketballspielen begonnen. Zumindest die Grundlangen für ihre Eigenschaften als “Sieger-Typen” dürften sie durchaus in Deutschland mitbekommen haben.

Halten wir also fest: vier NBA-Spieler in der deutschen Nationalmannschaft.

Damit ist deren WM-Sieg nach der Hornschen Logik ein noch viel größeres Wunder als er eh schon ist. Denn es gibt drei Mannschaften, in denen mehr Spieler im Land des Gewinnenzählens und der Heldenverehrung aktiv sind: Bei den USA stehen alle zwölf Spieler bei NBA-Vereinen unter Vertrag (im Halbfinale gewann Deutschland gegen die USA; bester Schütze in diesem Duell war mit Andreas Obst übrigens ein Spieler, der vielleicht mal in den USA Urlaub gemacht, aber noch nie in der dortigen Liga gespielt hat). Das Team landete auf Rang 4. In der australischen Mannschaft sind neun NBA-Spieler dabei gewesen (in der Vorrunde gewann Deutschland gegen Australien), die Australier wurden Zehnter. Und Kanada wurde mit sieben NBA-Spielern am Ende Dritter.

Dennis Schröder, Daniel Theis, Franz und Moritz Wagner waren ohne Zweifel von großer Bedeutung beim WM-Sieg der deutschen Mannschaft. Für Marion Horn dienen sie aber lediglich als Scheinargument für einen Kulturkampf.

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Betr.: Jugendsünden

Es gibt eine Faustformel, wann eine öffentliche Debatte in der Bundesrepublik durch ist: Wenn Springer-Chef Mathias Döpfner in die “Bild”-Redaktion stürmt (so stellen wir uns das jedenfalls bildlich vor), ein mit Füllfederhalter beschriftetes Blatt Büttenpapier auf den Tisch wirft und sagt: “Ich hab da mal was aufgeschrieben!”

Gestern war es mal wieder soweit:

Screenshot Bild.de - Kommentar von Mathias Döpfner zur Aiwanger-Affäre - Totalschaden

In einem Text, der als “Kommentar” bezeichnet wird und der auch heute in der gedruckten “Bild” erschienen ist, sinniert Döpfner in selbst für “Bild”-Verhältnisse bemerkenswerter Kurzform über das “vorläufige Ergebnis” der Flugblattaffäre um Bayerns stellvertretenden Ministerpräsidenten Hubert Aiwanger. Er schreibt unter anderem:

Widerliche antisemitische Parolen werden in Deutschland als “Jugendsünde” verbucht.

Leider geht Mathias Döpfner in seinem “Bild”-Kommentar nicht genauer darauf ein, wo und von wem die antisemitischen Parolen als “Jugendsünde” verbucht werden und wer dazu beigetragen hat. Und da müssen wir mal was aufschreiben.

Dafür gehen wir gut eineinhalb Wochen zurück, in die Zeit, als die Debatte um Hubert Aiwanger und dessen Vergangenheit – die Urheberschaft der antisemitischen Flugblätter hatte bereits Hubert Aiwangers Bruder Helmut übernommen – so richtig in Schwung gekommen ist. Zu der Zeit liefen mehrere öffentliche Diskussionen parallel: Eine drehte sich um die Eignung Hubert Aiwangers als Wirtschaftsminister und stellvertretender Ministerpräsident in Bayern; eine andere darum, ob die “Süddeutsche Zeitung” die Vorwürfe, die sich im Nachhinein als zumindest unscharf herausgestellt hatten, überhaupt hätte veröffentlichen dürfen; in einer dritten ging es erst einmal darum, den Begriff “Jugendsünde”, den Helmut Aiwanger für sein eigenes Flugblatt verwendet hatte, semantisch auszupendeln – um auf Basis des Ergebnisses dann eine der anderen beiden Diskussionen (oder gleich beide) weiterzuführen.

Da pendelte auch “Bild” mit:

Screenshot Bild.de - Schläger, Schummler, Kommunisten - Die Jugendsünden unserer Politiker

In der “Bild”-Redaktion fiel die Aufgabe, den Begriff “Jugendsünde” irgendwie mit Leben zu füllen, offenbar Hans-Jörg Vehlewald zu, der sich dem Thema differenziert widmen zu wollen schien:

Wie kann jemand als Jugendlicher menschenverachtende Nazi-Witze verbreiten und sich später als Erwachsener zum Demokraten wandeln?

Ist Einsicht möglich? Dieser Frage mussten sich schon andere Politiker stellen. Beispiele zeigt Beispiele.

(Vom letzten Satz nicht verwirren lassen: Es ist Bild.de, das hier Beispiele zeigt, aber so ein Fehler kann ja nun wirklich jedem mal passieren!)

Was Vehlewald zusammengetragen hat, wirkt wie das Ergebnis einer Umfrage in der Redaktionskantine, was einem alles zum Thema “Jugendsünde” einfalle – “Dalli, Dalli!”.

Los geht es zum Beispiel mit Joschka Fischer:

Ex-Außenminister Joschka Fischer (75, Grüne) prügelte als 25-jähriger Straßenkämpfer mit Motorradhelm in Frankfurt/Main auf einen wehrlos am Boden liegenden Polizisten ein. Später als Bundesminister bekannte er: “Ja, ich war militant” – und blieb nach heftigen Debatten im Amt.

Weiter mit Sawsan Chebli:

Sawsan Chebli (45, SPD), ehemals angestellt beim Berliner Senat und beim Auswärtigen Amt, gab selbst zu, als Kind palästinensischer Flüchtlinge “Juden für das Leid der Palästinenser und für das Schicksal meiner Eltern verantwortlich gemacht” zu haben: “Ich war wütend.” Auf Twitter (X) griff sie Bayerns Freie-Wähler-Chef Aiwanger für dessen “Jugendsünde” dennoch scharf an und unterstellte mittelbar allen Aiwanger-Verteidigern, selbst Nazis, Rassisten oder Antisemiten zu sein. (Der Tweet wurde später wieder gelöscht.)

Das verräterische ist hier das Konjunktionaladverb “dennoch”, das Vehlewald verwendet. So als habe Chebli das Recht verwirkt, Antisemitismus zu kritisieren. Außerdem wirken ihre Zitate in der verkürzten Wiedergabe bei Bild.de etwas anders als im Kontext des “Tagesspiegel”-Interviews, in dem sie diese geäußert hatte:

Als Jugendliche habe ich Juden für das Leid der Palästinenser und für das Schicksal meiner Eltern verantwortlich gemacht. Ich war wütend, dass Juden einen eigenen Staat haben und wir staatenlos und bitterarm sind. Ich war wütend, dass meine Eltern zwanzig Jahre in einem libanesischen Lager leben mussten, elf Geschwister dort zur Welt gekommen sind, ohne jede Perspektive, ohne Chance auf Rückkehr in ihr Land. Ich war oft wütend und habe auch Hass gespürt. […] Im Laufe der Jahre ist aus Wut und Hass der Wunsch gewachsen, Brücken zu bauen und junge Menschen auf beiden Seiten zusammenzubringen, um Hass zu überwinden.

Über Bundeskanzler Olaf Scholz weiß Vehlewald zu berichten, dass dieser als Vizechef der Jusos für die “Überwindung der kapitalistischen Ökonomie” eingetreten war, sich gegen die “aggressiv-imperialistische Nato” ausgesprochen und die Bundesrepublik als “europäische Hochburg des Großkapitals” bezeichnet hatte. Über Winfried Kretschmann, Ministerpräsident von Baden-Württemberg, schreibt er, dass dieser “als Student und Lehrer-Anwärter zwei Jahre beim Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW) aktiv” war, “vom Verfassungsschutz überprüft” wurde und 1975 erklärt hatte, “er stehe der extrem linken K-Gruppe nahe.”

Es ist natürlich möglich, dass Hans-Jörg Vehlewald diese Beispiele mit Hilfe von eigenen und fremden Erinnerungen und ausführlicher Archiv-Recherche zusammengestellt hat. Er hätte sich diese Mühe aber zumindest nicht machen müssen, denn einen Tag vor seinem eigenen Artikel war beim rechten Online-Magazin “Apollo News” ein Text über die “erschreckenden Jugendsünden von Grünen- und SPD-Politikern” erschienen, in dem all diese Fälle, teilweise mit den exakt gleichen Zitaten, vorkamen.

Bei Bild.de gibt es aber noch mehr:

Ex-Umweltminister Jürgen Trittin (69, Grüne) weigerte sich gegenüber dem Sohn des ermordeten Generalbundesanwalts Siegfried Buback, sich von einem 1977 verfassten Pamphlet linker RAF-Sympathisanten (“Mescalero-Brief”) zu distanzieren. Der Verfasser hatte damals “klammheimliche Freude” über die RAF-Morde bekundet. Trittin stellte später klar, er habe mit dem Schreiben nie etwas zu tun gehabt, verurteile jede Form von Terror.

Vehlewald spielt hier auf eine Episode an, die im Januar und Februar 2001 die deutsche Öffentlichkeit beschäftigt hatte: In einem Zug war Siegfried Bubacks Sohn Michael zufällig auf Jürgen Trittin getroffen und hatte ihn auf den berühmt-berüchtigten Text des “Göttinger Mescaleros” über die Ermordung Siegfried Bubacks angesprochen. Trittin wusste bei dieser Begegnung im Zug offenbar nicht, dass sein Gegenüber der Sohn des Ermordeten war, und erklärte schon kurz danach, sich den Brief nie zu eigen gemacht zu haben. Und auch die “Bild”-Formulierung “Trittin stellte später klar, er habe mit dem Schreiben nie etwas zu tun gehabt” ist zumindest irreführend, denn Michael Buback wusste zum Zeitpunkt des Aufeinandertreffens im Zug bereits seit über einem Jahr, wer der Autor des Textes gewesen war. Den Abschnitt zu Jürgen Trittins “Jugendsünde” hat Bild.de mit “RAF-Nähe?” überschrieben.

Immerhin ist jemandem in der “Bild”-Redaktion noch aufgefallen, dass die Zusammenstellung der “Jugendsünden” so recht einseitig wäre. Und so finden sich neben den zwei Beispielen zu Leuten der SPD und dreien von den Grünen auch noch zwei ehemalige Unions-Politiker in der Aufstellung:

Ex-Bundesfamilienminister Heiner Geißler (starb 2017 mit 87 Jahren) half als 22-jähriger Jesuiten-Schüler in Südtirol einer nationalistischen Terrorgruppe (“Tiroler Bumser”) bei Anschlägen, transportierte sogar auf seinem Motorrad (“Adler 250”) Dynamit durch die Alpen. “Unwissentlich”, wie er später einräumte.

Okay, das klingt selbst in dieser Reihe erstaunlich drastisch – wobei Bild.de vielleicht der Fairness halber hätte erwähnen können, dass die Anschläge welche auf Strommasten waren.

Wie will man das toppen?

Bild.de versucht es so:

Seine Doktorarbeit kostete Ex-Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (51, CSU) den Posten. Seitenweise hatte der Unionspolitiker aus anderen Arbeiten abgeschrieben, tat die Affäre zunächst als läppisch ab, stürzte am Ende über die Plagiate. Inzwischen hat er eine neue Doktorarbeit an der britischen Southampton Business School (Universität Southampton) nachgereicht. Thema: Geschichte der Banküberweisungen.

Das ist insofern bemerkenswert, als die “Bild”-Medien damals alles getan hatten, um den Minister im Amt zu halten, und Karl-Theodor zu Guttenberg bei der Abgabe seiner Doktorarbeit nicht mehr ganz so jugendliche 35 Jahre alt gewesen war.

Die Zusammenstellung dieser “Jugendsünden” vor dem Hintergrund der Aiwanger-Enthüllungen ist einigermaßen rätselhaft: Die eingangs gestellte Frage “Ist Einsicht möglich?” beantwortet der Text nur teilweise. Und dort, wo Einsicht offenbar vorhanden war, etwa bei Sawsan Chebli, thematisiert Hans-Jörg Vehlewald diese Entwicklung nicht weiter. Die Art der von Bild.de ausgewählten “Jugendsünden” ist so unterschiedlich, dass man am Ende gar nicht mehr weiß, worum es jetzt eigentlich geht: um klassische linke Rhetorik, um den unwissentlichen Transport von Sprengstoff, um körperliche Gewalt gegen Polizisten, um Plagiate in Doktorarbeiten – und um antisemitische Flugblätter?!

Es kann ja immer hilfreich sein, Äpfel mit Birnen zu vergleichen, um deren Unterschiede und Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten, aber hier drängt sich dann doch der Verdacht auf, eine lose Sammlung von Notizen sei versehentlich veröffentlicht worden. Dieses Durcheinander dürfte vor allem der Argumentation Helmut Aiwangers und dessen Versuch helfen, das Flugblatt als “Jugendsünde” einordnen zu lassen – ach, lass gut sein, sind doch irgendwie alles “Jugendsünden”. Oder wie Mathias Döpfner sagen würde: “Widerliche antisemitische Parolen werden in Deutschland als ‘Jugendsünde’ verbucht.”

Da ist es dann auch egal, wenn Vehlewald seine bis hierhin schon eklektische Parade jetzt völlig über die Klippe gehen lässt:

Übrigens: Jugendsünden der weitaus harmloseren Sorte gestanden zwei weitere Politiker kürzlich ein.

► Schaumschläger: Ex-SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz (67) gab im Interview zu, er habe als Jugendlicher nach durchzechter Nacht eine Packung Waschpulver im heimischen Freibad versenkt – und sei nur knapp der Polizei entkommen.

► Schulschwänzer: Bundesfinanzminister Christian Lindner (44, FDP) gestand, er habe als Schüler den Englisch-Unterricht regelmäßig geschwänzt, sei zur Abi-Deutsch-Prüfung zu spät gekommen und habe sich für das Mathe-Abi ausschließlich mit Red-Bull und Milchschnitten vorbereitet, statt zu lernen.

Es war in diesen Tagen ausgerechnet Franz Josef Wagner, der den Begriff “Jugendsünde” für die “Bild”-Medien einmal klar mit Leben füllte:

Ich fuhr mit 17 ohne Führerschein. Ich betrank mich mit 17 und wurde von der Polizei für eine Nacht in eine Zelle gesteckt. Ich schrieb von einem Kumpel die Mathearbeit ab. Ich klaute Comic-Hefte. Ich war ein Lügner beim Sex. Ich sprach von Liebe und wollte nur grapschen.

Er fuhr fort:

Die Jugendsünden der Aiwanger-Brüder sind unverzeihbar. Als ersten Preis wird da ein Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz ausgelobt in ihrem Pamphlet. Ich weiß nicht, wie man so etwas Krankes in sein Gehirn kriegt.

Es sind keine Jugendsünden. Jugendsünden sind fröhlich. Die Jugendsünden der Aiwangers sind schwarz und böse.

Jugendsünden, die gleichzeitig “keine Jugendsünden” und doch irgendwie welche, nur halt “unverzeihbar” sind. Das deckt sich auf logischer Ebene ungefähr mit der “Jugendsünden”-Sammlung von Bild.de.

Mit Dank auch an Jochen Z.

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