“Bild” vernachlässigt “Medieninteresse”

Meldung 1513 der Müncher Polizei vom gestrigen Mittwoch ist nicht besonders lang, die Überschrift sachdienlich:

Polizeimeldung zum Selbsmord von Gregor Bruner: "

Wie viele andere Medien berichtet deshalb auch “Bild” über den Selbstmord des Fleischhändlers Gregor Bruner:

Viele andere Medien berichten aber auch, was bereits in der kurzen Polizeimeldung Erwähnung fand:

Obwohl kein Abschiedsbrief vorhanden ist, bestehen keine Zweifel daran, dass der Suizid im Zusammenhang mit den Ereignissen der Firmenschließung steht, da laut der Ehefrau ihr Mann stark unter dem Medieninteresse in den letzten Tagen gelitten hat.

Die “Süddeutsche Zeitung” beispielsweise präzisiert:

“[Bruner] hat mehrfach solche Andeutungen gemacht”, berichtet Josef Wilfling (…), Leiter der Sonderkommission “Kühlhaus”. Er habe “keinen Zweifel”, dass der Selbstmord in Zusammenhang mit dem Skandal stehe, der Mediendruck habe Bruner “stark belastet”.

Und die Nachrichtenagentur Reuters meldet gar:

Die Vorverurteilung in der Berichterstattung habe ihn mit zu dem Selbstmord bewogen, erklärte Verteidiger Daniel Amelung.

In “Bild” steht davon (anders übrigens als bei Bild.de) kein Wort.

Nachruf auf Yvonne Wussow

Die Beziehung von Familie Wussow und “Bild” ist lang. In ihrer heutigen Ausgabe nun gibt “Bild”* exklusiv bekannt, dass Yvonne Wussow am Dienstagnachmittag “völlig unerwartet und überraschend” starb (“+++ Qualvoller Todeskampf +++ Um 16.20 Uhr schloss sie für immer die Augen: Yvonne Wussow († 51) — Ihr Sohn durfte nicht mehr zu ihr”). Anlässlich des Todes von Yvonne Wussow dokumentieren wir hier noch einmal die letzten “Bild”-Schlagzeilen vor ihrem Tod:

"Yvonne Wussow -- Mieses Geschäft mit Krebskranken" ("Bild" vom 28.7.2006); "Riesenempörung nach BILD-Bericht: Krebs-Ärzte gehen auf Frau Wussow los" ("Bild" vom 29.7.2006); "Yvonne Wussow kaufte sich in Bordell ein" ("Bild" vom 2.9.2006)

Und weil die “Bordell”-Story erst drei Tage vor Wussows Tod (mit Spin-off am Montag) in “Bild” stand, hier noch ein paar Auszüge:

Geschäfte mit käuflichem Sex: Yvonne Wussow, die sich (…) an einem Bordell beteiligt

(…) Öffentlich beklagte sie ihre finanzielle Misere — und suchte nach lukrativen Einnahmequellen. Erst betrieb sie ein mieses Geschäft mit einer kostenpflichtigen Krebs-Telefonhotline (BILD berichtete), jetzt kommt heraus: Yvonne Wussow [gründete] eine Firma, die ein Bordell betreibt. (…) BILD liegen Fotos vor, die Yvonne Wussow bei einer Stippvisite im “Open 1” zeigen. (…) Yvonne Wussow wollte sich gegenüber BILD nicht äußern.

Nach den Krebshotline-Berichten im Juli hatte sich Wussow entschieden, auf ihrer Internetseite eine “Stellungnahme zu BILD” zu veröffentlichen, in der sie ihre persönliche, sicherlich nicht unumstrittene Sicht darzustellen versuchte. Darin heißt es mit ausdrücklicher Erwähnung von “Chefredakteur Kai Dieckmann [sic] und seinem Stellvertreter Martin Heidemanns, der auch für alle Geschichten über und gegen mich seit Jahren verantwortlich zeichnet” u.a.:

Die BILD kennt leider keine Skrupel, aber dafür den Begriff “Doppelmoral” ganz genau..
(Harmloser Link von uns.)

*) Bild.de hat den “Bild”-Artikel mittlerweile aufgrund der veränderten Nachrichtenlage aktualisiert.

Mit Dank auch an Thorsten L., Miriam R., Timo F., Johanna K. und Christine D.

Nachtrag: Nach Angaben der Nachrichtenagentur dpa (siehe z.B. Spiegel-Online) lautet Wussows letzter Eintrag im Forum ihrer Internetseite am 21. August: “Tut mir so leid, aber es hat mich richtig erwischt, muss jeden Tag in die Klinik, massive Leberentzündung, die Eröffnung des Forums muss trotz der vielen Anfragen noch warten. Bis bald, Yvonne.”

Heute anonym IX

In Teilen ihrer Ausgabe berichtet “Bild” heute über “Uschi K.” und “Ursula K.” mit Sätzen wie:

“Ursula K. (64) ist …”
“… knöpfte sie Büffetkraft Uschi K. (58) die Ersparnisse ab.”
“… erzählt Frau K.”
“… lernte dabei Ursula K. kennen.”
“Ende Juli bat sie Uschi K. …”
“Als sie später Uschi Ks. Lebensgefährten aufsuchte …”
“Uschi K. hat per Quittung …”

Und so weiter. Mit anderen Worten: “Bild” hat die beiden Frauen im Text konsequent anonymisiert — zum Schutz ihrer Persönlichkeit, was sonst? Nur ist so eine Anonymisierung bekanntermaßen nichts wert, wenn man sie nicht durchhält und beispielsweise im selben Artikel ein “Beweisstück” mit den vollständigen Namen von “Ursula K.” und “Uschi K.” abbildet:

Mit Dank an Olav L. für Hinweis und Scan.

6 vor 9

Ins Große durchs Ganze (brandeins.de)
Gegen Globalisierung, heißt es, gibt es nur zwei Mittel: mitmachen oder abdichten, seine Identität verlieren oder sein Geschäft. Besser klappt es umgekehrt: Die Welt erschließt sich durch Unterschied und Wettbewerb. Auf kleinstem Raum. In der Region.

Tagesschau in die Zeitung (werbewoche.ch)
Sender im Ausland tuns schon längst. Spät nachts wirbt jetzt auch SF für Schweizer Zeitungen.

Schmutzige Worte (berlinonline.de)
Aus Angst vor der konservativen Medienbehörde setzen US-Sender den Dokumentarfilm “9/11” ab.

Verflixt, wo war ich doch gleich? (tagesanzeiger.ch)
Zerstreutheit ist weit verbreitet. Ein eigens gegründeter Verein in Schweden erfreut sich regen Zulaufs. Die komischsten Erlebnisse dieser Zerstreuten sind in einem Buch vereint.

Zwölf Minuten und 58 Sekunden, (weltwoche.ch)
so lange werden Sie ungefähr brauchen, um folgenden Text zu lesen. Wenn Sie dies im Wartezimmer tun, wird der Arzt Sie schneller holen. Finden Sie das Thema uninteressant, werden Sie denken, er hätte Sie vergessen.

Diedrich Diederichsen: Was mich an Weblogs stört (Teil 2) (netzeitung.de)
Man nannte ihn den Papst der Popkultur. Ein Gespräch mit Diedrich Diederichsen über «Sexbeat», Schlagfertigkeit und den Wandel der Zeiten.

Der Vater des Gedankens?

Der australische Tierfilmer Steve Irwin wurde jüngst bei Dreharbeiten von einem Rochen tödlich verletzt. Und Bild.de schreibt:

Es gibt ein Video der tödlichen Attacke. Die Polizei untersucht es gerade. Gut möglich aber, dass die Familie es irgendwann freigibt. Irwins bester Freund John Stainton (44): ‘Steve wäre sehr traurig gewesen, wenn es von seinem Tod keine Aufnahme gäbe.’

“Gut möglich”, soso… Und soweit “Bild”. Seltsamerweise ist diese (oder eine auch nur annährend ähnliche) Aussage Staintons — außer bei Bild.de — schwer zu finden. Es ist zwar so, dass Irwin selbst vor ein paar Jahren mal scherzte: “Wenn ich sterbe, möchte ich wenigstens, dass das gefilmt wird.” Doch der Eindruck, den Bild.de jetzt erweckt, trifft die Sache nicht so ganz. “Irwins bester Freund John Stainton (44)” sagte nämlich bereits der Zeitung “The Australian” (aus dem auch Bild.de zitiert), die Aufnahmen seien “schrecklich”, “furchtbar” und, wie die Nachrichtenagentur AP aus einem CNN-Interview zitiert, so grauenvoll, dass das Videoband am besten “zerstört werden” solle, damit es niemand jemals zu Gesicht bekommen, geschweige denn ausstrahlen könne. (“It will never see the light of day. Ever. Ever.”) Stainton weiter:

“Ich habe es angeschaut, aber ich möchte es nicht noch einmal sehen.”

Auch der Chef des US-Senders Discovery, der die Rechte an Irwins Filmen besitzt, geht laut “The Australian” davon aus, dass Irwins Tod “niemals öffentlich gezeigt werde”.

“Gut möglich” also? AP jedenfalls zitiert einen Experten für Medienethik zur Frage einer möglichen Ausstrahlung des Videos mit dem Fazit:

“Sollte es irgendwer zeigen, wäre das reine Sensationslust und Nekrophilie.”

Mit Dank an Christoph. W. für den Hinweis.
 
Nachtrag, 7.9.2006: Die eingangs zitierte Passage auf Bild.de würde inzwischen umgeschrieben. Nun heißt es dort:

Es gibt ein Video der tödlichen Attacke. Die Polizei untersucht es gerade. Irwins bester Freund John Stainton (44): “Steve wäre sehr traurig gewesen, wenn es von seinem Tod keine Aufnahme gäbe.” Allerdings: Stainton deutete vielsagend an, das Video werde sehr bald nach der Freigabe verschwinden.

Peinlich irgendwie, aber besser als vorher.

Blöde Frage

Heute zeigt “Bild” im Raum Berlin-Brandenburg mal wieder große Fotos zweier Angeklagter “auf dem Weg ins Gericht”. “Bild” hatte über die beiden bereits im April berichtet und sich damals vorverurteilende Sätze ausgedacht wie “Baby von den Eltern halbtot gefoltert!” oder “(…) ein so junges Leben, geprägt von "Was haben diese Eltern zu verbergen?"
Schlägen, Tritten, Folter!”
— obwohl inzwischen (nicht nur, aber) auch “Bild” weiß: “Die Staatsanwaltschaft wirft den beiden keine Quälerei vor.” Dennoch fragt “Bild” heute scheinheilig naiv:

“Was haben diese Eltern zu verbergen?”

Denn: “Sie verstecken ihre Gesichter (…). Was haben sie jetzt zu verbergen?” Ja, was nur? Ihr Gesicht etwa? “Mutter Janine E. (17) versteckt sich hinter einer Zeitung”, schreibt “Bild”, “Vater Thomas P. (19) zieht sich voller Scham seinen Pullover über den Kopf.”

Voller Scham? Vielleicht. Auf die Idee, dass E. und P. andernfalls ihr Gesicht womöglich ohne jede Unkenntlichmachung in der Zeitung wiedergefunden hätten, ist “Bild” offensichtlich nicht gekommen. Wieso auch? Schließlich wäre das ja wohl laut Pressekodex mit Rücksicht auf das Persönlichkeitsrecht der Betroffenen “nicht gerechtfertigt”, oder?

6 vor 9

Ungehemmt im Oberhemd (faz.net)
Vor kurzem waren sie der Schrecken der Lehrer, jetzt stehen sie vor der Kamera: Der Fotograf Philip Wente hat fünf Schüler der Berliner Rütli-Schule aus dem Klassenzimmer geholt und Modeaufnahmen mit ihnen gemacht.

Bakschisch und Bio-Bombe (fr-aktuell.de)
Das “Zentrum für investigativen Journalismus” in Sarajevo deckt Skandale auf.

Was sagte Beatrix? (jungle-world.com)
Das niederländische Königshaus hatte schon immer ein schwieriges Verhältnis zur Presse – aber die Medien sind nicht mehr zu kontrollieren.

Post an Wagner (persoenlich.com)
Der ehemalige Bunte-Chefredaktor Franz Josef Wagner hat “persönlich rot” ein vierstündiges, offenes Interview gewährt. Überraschend hat er dies nun zurückgezogen. Interviewer Matthias Ackeret schreibt an den Interviewten zurück.

Jagd auf Zeitungen (taz.de)
Mit “Kommersant” ist die letzte unabhängige Tageszeitung in Russland an einen Kreml-Vertrauten verkauft worden. Folgt jetzt die Gleichschaltung?

Der jüngste Tag (zeit.de)
Beruf und Kinder – geht das zusammen? Wir haben es ausprobiert. Henning Sußebach berichtet über den Tag, an dem 19 Kinder ihre Eltern in die Berliner ZEIT-Redaktion begleiteten.

Erwischt! (Nachtrag)

Wie berichtet, druckte “Bild” ja kürzlich (und damit bereits zum zweiten Mal) ein “BILD-Leser-Reporter”-Foto von Gerhard Schröder am Strand, zu dessen Veröffentlichung er keine Einwilligung gegeben hatte, obwohl es doch in den “So werden Sie Leser-Reporter”-Hinweisen ausdrücklich hieß, dass die Fotografierten mit einer Veröffentlichung einverstanden sein müssen. Das ZDF-Magazin “Frontal21” hat den 12-jährigen “Leser-Reporter” ausfindig gemacht und lässt ihn erzählen, wie es zu dem Foto kam:

“Dann bin ich da hingegangen, und dann war’n da auch schon welche, und dann hat er da auch’n Autogramm gegeben. Und dann hab’ ich das sogar von weiter hinten gesehen: Der ist so genervt, der will ja auch Urlaub haben, dass ich das dann lieber lasse. Und dann bin ich nochmal zurück gegangen, hab’ meinen Fotoapparat geholt, und dann hab’ ich mir gedacht: Na, wenigstens noch’n Foto — weil, der Mann hat ja auch Urlaub. Ja, und dann hab’ ich mich hinter so’n Klettergerüst gestellt, und ja, dann hab ich’n Foto geschossen.”

Mehr dazu bei “drehscheibe deutschland” bzw. “Frontal21”.

Kurz korrigiert (260/261 — 262)

Ja, ja, nachdem die “Bild”-Zeitung vor ein paar Wochen auf einen “Liebes-Schwindler” hereingefallen war, zeigte sie Verena und Oliver Kahn kürzlich als glückliches Paar. Fraglich allerdings, ob das für Bild.de wirklich Grund genug ist, “Verena Pooth” statt “Verona Pooth” und “Farah Kahn” statt “Farah Khan” zu schreiben.

Und wo wir gerade schon beim Fußball beim Korrigieren sind: Anders als “Bild” heute behauptet, ist Jens Lehmann offenbar nicht, “der einzige Torwart, der in der Bundesliga aus dem Spiel heraus getroffen hat (1997 für Schalke beim 2:2 in Dortmund)”. Denn das gelang auch Frank Rost 2002 für Werder Bremen beim zwischenzeitlichen 3:3-Ausgleichtreffer gegen Hansa Rostock.

Mit Dank an Christiane B. und Lars sowie Sascha M., Sascha G., Stefan L. und Martin F. für die Hinweise.

Nachtrag, 6.9.2006: Fehler 260 wurde korrigiert, 261 auch, Fehler 262 nicht.

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