Man soll mit sowas ja keine Späße machen, aber stellen wir uns für einen Moment mal vor, der Fahrer von Angela Merkels Dienstwagen setzt das Automobil in den Straßengraben. Er war allein unterwegs, um die Kanzlerin abzuholen, und ihm ist nichts schlimmes passiert.
Würden die Zeitungen am nächsten Tag groß über diese, für Merkel gefährliche Situation berichten? Es ist nicht auszuschließen.
Die Yacht des Formel-1-Fahrers Felipe Massa ist bei einem Unfall vor der Küste von Sao Paulo völlig zerstört worden. Der Kapitän hatte bei der Anfahrt zum Hafen offenbar einen Anfall erlitten und die Kontrolle über das Schiff verloren, weswegen es mit einem Felsen kollidierte. Massa selbst und seine Familie waren nicht an Bord, sie hatten auf die Yacht gewartet und den Unfall am Telefon verfolgt.
Und so berichten deutsche Medien über das Geschehen:
Also nochmal: Mike Huckabee, einer der republikanischen Favoriten für die nächste US-Präsidentschaftswahl, hat nicht die Hinrichtung von Wikileaks-Gründer Julian Assange gefordert.
Mike Huckabee, ehemaliger US-Präsidentschaftskandidat, hat bereits die Todesstrafe gegen Wikileaks-Gründer Assange gefordert.
Tatsächlich hat Huckabee gefordert, die Quelle der veröffentlichten Dokumente im amerikanischen Staatsdienst wegen Hochverrat anzuklagen und die Todesstrafe als einzig angemessenes Urteil dafür bezeichnet.
Der Online-Dienst heise.de hat den Fehler inzwischen unauffällig korrigiert; die Berliner Boulevardzeitung “B.Z.” hingegen schaffte es, ihn noch ein bisschen größer zu machen. Sie schreibt heute:
Mike Huckabee, Ex-Gouverneur von Arkansas, hat für Assange wegen Cyber-Terrorismus sogar die Todesstrafe gefordert.
Nein. Nicht für Assange und nicht wegen Cyber-Terrorismus.
PS: Die “Nürnberger Nachrichten” fügen dem dpa-Artikel auf ihrer Online-Seite noch einen eigenen Fehler hinzu:
Assange befindet sich im Polizeigewahrsam in London. Aus Schweden sind höchstens seine Gardinen.
Mit Dank an Stephen.
Nachtrag, 17.10 Uhr. Die Nachrichtenagentur dpa hat sich korrigiert und ihre Abonnenten informiert:
Mike Huckabee, ehemaliger US-Präsidentschaftskandidat, hat nicht, wie ursprünglich berichtet, die Todesstrafe gegen Wikileaks-Gründer Assange gefordert. Er sprach sich vielmehr für die Todesstrafe gegen denjenigen aus, der die Geheiminformationen gestohlen und an Wikileaks weitergeleitet hatte.
Und die “Nürnberger Nachrichten” haben den Artikel auf ihrer Seite gelöscht.
Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].
1. “5 Aspekte der aktuellen WikiLeaks-Revolution” (neunetz.com, Marcel Weiß)
Eine lange, lesenswerte Einordnung der Ereignisse rund um die jüngsten Veröffentlichungen von Wikileaks. “Die Tatsache, dass WikiLeaks aktuell so vehement von allen Seiten angegriffen werden kann und etwa die finanziellen Transaktionsmöglichkeiten abgeschnitten werden können, ist nur möglich, weil nicht die komplette Presse hinter WikiLeaks steht, wie sie hinter einer NYT oder einem Guardian stehen würden, deren Bankkonten plötzlich überall aufgelöst würden.”
2. “Prost!” (klatschkritik.blog.de, Antje Tiefenthal)
Photoshop-Arbeiten in der “Grazia”: “Auf den ersten, schnellen Blick sieht es aus so aus, als ob die beiden Schauspielerinnen gut gelaunt gemeinsam auf einer Party unterwegs sind. Auf den zweiten, genauen Blick entpuppen sich die Bilder als eine besonders misslungene Photoshop-Montage.” Siehe dazu auch “Bunte Klatschblätter und ihre Lügeleien”, ein Porträt der Bloggerin Antje Tiefenthal (ndr.de, Video, 5:39 Minuten).
3. “KI.KA-Mitarbeiter wegen Untreue festgenommen” (mdr.de, Video, 1:29 Minuten)
Ein Mitarbeiter des öffentlich-rechtlichen Kinderkanals KI.KA wird festgenommen. Er soll “seit 2005 gemeinsam mit einer Berliner GmbH 72 Rechnungen für Dienstleistungen fingiert haben”. Es geht um einen Betrag von über vier Millionen Euro.
4. “‘Wetten, dass…’: Ein Unfall – kein Politikum” (novo-argumente.com, Johannes Richardt)
Johannes Richardt hält die Aufregung nach der abgebrochenen “Wetten, dass..?”-Sendung für übertrieben: “Man kann fast froh sein, dass bei der letzten Bundestagswahl kein Mensch zu Schaden kam, sonst würden demnächst vielleicht sogar Wahlen unter dem Vorwand aus Sicherheits- und Gesundheitsbedenken abgesagt. Das Eingehen von Risiken gehört nun mal zum Leben dazu und macht es nicht selten auch erst deshalb lebenswert.”
5. “Kachelmann-Prozess: Verteidiger greift Medien an” (faz.net, David Klaubert)
Johann Schwenn, Anwalt von Jörg Kachelmann, beantragt beim Landgericht Mannheim, die Redaktionen von “Bunte” und “Focus” zu durchsuchen: “Eine Durchsuchung solle entsprechende Beweise, zum Beispiel Zahlungsvereinbarungen zwischen dem Verlag und Zeuginnen, zutage fördern.”
6. “Sport Bild-Watch (7)” (el-futbol.de, Sidan)
Söldneralarm in der “Sport Bild”: “Der Söldner ist eines der Lieblingsmotive der Sport Bild. Nichts ruft beim Leser mehr Abscheu hervor: ein stinkreicher, stinkfauler Profi, Sauerei. Söldner kommen in fast jeder Ausgabe vor.”
Der Filmkritiker Rüdiger Suchsland wartet. Er wartet darauf, dass ihm jemand von ARD und ZDF verrät, wie viel Geld die öffentlich-rechtlichen Sender für die Rentenbezüge ihrer ehemaligen Angestellten ausgeben. Immerhin wartet er offenbar nicht allein; er schreibt: “Wir warten.”
Suchsland hat für das Online-Magazin “Telepolis” einen Artikel verfasst, in dem er seinem Frust darüber Ausdruck verleiht, dass ARD und ZDF immer weniger so sind, wie sie seiner Meinung nach sein sollten. Er ist damit nicht allein, und die meisten Belege, die er für seine These nennt, dass die öffentlich-rechtlichen ihre “Verpflichtungen immer weniger erfüllen, weil sie den Privatsendern immer ähnlicher werden”, sind bekannt: weniger Dokumentationen, mehr Talkshows.
Unter Suchslands Text liegt ein ohrenbetäubendes Raunen. Denn er reichert die übliche (deshalb aber natürlich nicht unberechtigte) Kritik mit diversen Gerüchten an. Das heißeste davon lautet:
50 Prozent aller Rundfunk-Gebühren entfallen zur Zeit allein auf Zahlung der Rentenbezüge ehemaliger Angestellter (…).
Suchsland hat diese Information offenbar exklusiv “aus den zweifellos gut unterrichteten Kreisen der Chefetage eines großen öffentlichen Senders”. Und er flucht:
Solche Informationen sind bislang nicht öffentlich. Warum eigentlich? Gibt es kein Recht auf Transparenz bei der Verwendung von Rundfunkgebühren — ähnlich wie die Bürger das Recht haben zu erfahren, was mit den Steuergeldern passiert?
Sollte die Information aus der Chefetage nicht zutreffen, wäre es für die Sender jedenfalls ein Leichtes, diese zu widerlegen, indem sie die Zahlen offen legt. Wir warten.
Apropos “ein Leichtes”: Es gäbe da etwas, das Herr Suchsland tun könnte, anstatt mit spitzem Finger auf die Tischplatte zu tippen. Er könnte auf die Internetseite der “Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten” (KEF) gehen, die nicht nur genau das tut, was ihr Name sagt, sondern darüber sogar öffentlich Rechenschaft ablegt. Er fände dort ein ganzes Kapitel über die “Betriebliche Altersversorgung”. In vielen Tabellen könnte er nachlesen, wie viel Geld die einzelnen öffentlich-rechtlichen Sender dafür pro Jahr ausgeben. Die Kommission hat sich sogar die Mühe gemacht, den Nettoaufwand zu errechnen, der neben den Ausgaben für die Altersvorsorge auch korrespondierende Erträge berücksichtigt und die “effektive Belastung des Gebührenzahlers” darstellen soll. Sie verfolge nämlich, schreibt die Kommission, wie Suchsland zum Hohn, “stetig das Ziel, eine größere Transparenz in der Darstellung der Verwendung der Rundfunkgebühren für die betriebliche Altersversorgung der Rundfunkanstalten zu erreichen”.
Für 2010 zum Beispiel rechnen ARD, ZDF und Deutschlandradio insgesamt mit einem Nettoaufwand von 377,6 Millionen Euro für die Altersversorgung. Dem stehen 8,5 Milliarden Euro Einnahmen gegenüber — davon stammen über 85 Prozent aus den Rundfunkgebühren, also mehr als 7,2 Milliarden Euro.
Es scheint, als würden ARD, ZDF und das Deutschlandradio nicht fünfzig, sondern fünf Prozent der Gebühren, die sie bekommen, für Rentenbezüge ausgeben. Wenn die gut unterrichteten Kreise der Chefetage eines großen öffentlichen Senders tatsächlich über jeden Zweifel erhaben sind, muss sich Suchsland wohl verhört haben.
Jedenfalls könnte er jetzt aufhören zu warten (und den anderen Bescheid sagen).
Mit großem Dank an den Hinweisgeber.
Nachtrag, 10. Dezember, 0.00 Uhr. “Telepolis” hat dem Artikel folgende “Ergänzung” hinzugefügt:
Nachdem die Zahlenangaben für viel Unruhe gesorgt haben, will der Autor demnächst dazu weiter berichten.
Wir warten.
Nachtrag, 11. Dezember, 16.30 Uhr. Rüdiger Suchsland räumt nun in einer “persönlichen Stellungnahme” auf “Telepolis” ein, dass seine Behauptung, 50 Prozent aller Rundfunk-Gebühren entfielen auf Rentenbezüge, “nicht zu halten” sei und nennt die Kritik an seinem Eintrag “gerecht”. Er verteidigt jedoch grundsätzlich das ahnungslose Publizieren von irgendwo Aufgeschnapptem:
Grundsätzlich halte ich allerdings daran fest, dass es gerade der Sinn von Blogs mit ihrer Möglichkeit zur Leserreaktion ist, auch das zu publizieren, was ich hier mal “partytalk” nennen will. Da hört man nämlich neben reinen Gerüchten immer wieder Dinge, die namentlich nie zur Veröffentlichung gesagt werden und trotzdem stimmen.
Indirekt scheinen auch ARD und ZDF selbst Schuld zu sein, dass Leute wie er falsche Meldungen über sie in die Welt setzen:
Jetzt könnte man zwar auch darüber räsonnieren, was es denn über den ÖR sagt, dass man solche Informationen erstmal glaubt, bzw. hier immer mit dem worst case rechnet, aber das würde dann wie eine Ausrede klingen, und das soll es nicht.
“Stasivergleiche machen immer was her”, muss sich Wirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) gedacht haben, als er gestern auf dem fünften nationalen IT-Gipfeltreffen in Dresden folgende Worte sagte:
Manches, was ich bei Wikileaks da entnehme, erinnert mich an die Sammelwut, die früher Institutionen im Osten hatten, die Stasi dabei.
Beim absehbaren kollektiven Aufschrei, etwa auf Twitter, hinterher gab es allerdings ein Problem: Wen oder was genau hat Brüderle denn jetzt eigentlich mit dem berüchtigten DDR-Geheimdienst verglichen?
Auch Brüderles Parteifreund Wolfgang Kubicki, der den Wirtschaftsminister nach dessen Rede heftig kritisierte, sah hier einen Affront gegen die Amerikaner. Der “Leipziger Volkszeitung” sagte er laut Vorabbericht:
Die Depeschen der US-Botschaften mit Stasi-Unterlagen zu vergleichen, heißt erstens das Unrecht der DDR zu relativieren und heißt zweitens, einen Rechtsstaat mit einem Unrechtsstaat zu vergleichen. Beides sollte sich von selbst verbieten.
Dennoch hatte eine ganze Reihe anderer Medien und Blogs aus Brüderles Aussage einen ganz anderen Adressaten herausgehört — nämlich die Enthüllungsplattform Wikileaks selbst.
Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) hat die Internet-Plattform Wikileaks scharf attackiert. Das Vorgehen der Enthüllungsplattform bereite ihm Unbehagen und erinnere ihn an die DDR-Staatssicherheit!
Ähnlich sehen das die Presseagentur dapd, “Welt online” und zunächst auch netzpolitik.org und “Carta”. Beide Blogs schwächten allerdings im Laufe des gestrigen Abends ihre Artikel noch ab.
Aber wer ist denn nun wirklich gemeint? BILDblog hat beim Wirtschaftsministerium nachgefragt und von Pressesprecherin Beatrix Brodkorb die Bestätigung erhalten: Brüderle habe tatsächlich nicht die US-Botschafter mit der Stasi vergleichen wollen, sondern den Überbringer der Nachricht, Wikileaks. Der Wirtschaftsminister sei unter anderem wegen der Ankündigung weiterer Veröffentlichungen zu den Geschäftspraktiken amerikanischer Großbanken in Sorge.
Alle Unklarheiten beseitigt? Dann empören Sie sich jetzt!
Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].
1. “‘Wetten dass..?’-Unfall: Wie das ZDF die Probenstürze herunterspielt” (faz-community.faz.net/blogs, Peer Schader)
Peer Schader geht es nicht darum, den Verantwortlichen die Schuld am Unfall in der Sendung “Wetten, dass..?” zuzuschieben: “Aber ganz so einfach, wie man es sich beim ZDF derzeit mit der Behauptung macht, bei der Vorbereitung habe nichts dafür gesprochen, dass die Wette furchtbar schiefgehen kann, ist die Angelegenheit wohl nicht.”
2. “Wikileaks’ Julian Assange verhaftet” (perlentaucher.de, Anja Seeliger)
Für Anja Seeliger hat die Veröffentlichung der Diplomatendepeschen “die ganze Welt irgendwie durchsichtiger gemacht”: “Diese Depeschen haben fast alle Nationen beschämt. Und das ist gut! Kann man nicht plötzlich ganz neu reden, wenn auf jeden ausgestreckten Zeigefinger zurückgezeigt werden kann? Soll doch jeder erst Mal vor der eigenen Haustür kehren!”
3. “Chaos Computer Club fordert Informationsfreiheit im Netz” (ccc.de)
“Die Verbreitung der von Wikileaks veröffentlichten Dokumente stellt nach Auffassung des CCC einen legitimen Akt der öffentlichen Meinungsbildung dar und ist eine Wahrnehmung des Grundrechts auf Publikationsfreiheit.”
5. Interview mit Markus Beckedahl (epd.de)
Ein ausführliches Gespräch mit Markus Beckedahl von netzpolitik.org. Er glaubt, dass das Klickverhalten der Nutzer auf sie selbst zurückfällt: “Die Nutzerwelt sollte sich nicht beschweren, wenn überall nur Polemiken zu finden sind, denn das wird letztendlich geklickt oder geflattred. Aber vielleicht führen ja solche Dienste und die Evaluation der Nutzungsverhalten allmählich dazu, dass sich das verändert.”
Julian Assange, der mit seiner Online-Plattform Wikileaks die USA und die internationale Diplomatie in Atem gehalten hat, wurde am Mittag in London festgenommen. Es ist ein Showdown wie aus dem Bilderbuch. Die Medien tragen aber ihren Teil dazu bei, den Konflikt noch mehr zuzuspitzen, durch Missverständnisse, Schludrigkeiten und simple Fehler.
So weiß zum Beispiel “Spiegel Online” von einer Trotzreaktion der Wikileaks-Aktivisten zu berichten:
In Wahrheit lautete die Twitter-Nachricht jedoch ein wenig anders:
Zu deutsch:
Die heutigen Maßnahmen gegen unseren Chefredakteur Julian Assange werden unseren Betrieb nicht beeinflussen. Wir werden wie üblich heute Nacht weitere Botschaftsdepeschen veröffentlichen.
Weniger eilig, aber weitaus exklusiver hatte das Handelsblatt am Morgen eine Meldung mit mehr Lokalbezug veröffentlicht:
Hier war der Autor etwas voreilig: Zwar ist das Steuerprivileg des Vereins tatsächlich gefährdet, in der Folge muss aber die Geldquelle von Wikileaks nicht zwangsläufig versiegen — zumal sich die Gründungsvorsitzende Ursula Kooke für die Förderung von Wikileaks ausspricht. Der Verlust der Steuerprivilegs bedeutet nämlich zunächst einmal, dass Spenden nicht steuerlich abgesetzt werden können. Sollte es dazu kommen, kann der Verein Wikileaks dennoch weiter unterstützen.
Die “Neue Zürcher Zeitung” hatte bereits am Montag mit der Meldung für Aufsehen gesorgt, dass der Schweizer Finanzdienstleister Postfinance das Konto von Julian Assange gekündigt habe. Auch das ist richtig, nur schaffte es die NZZ nicht, die Begründung von Postfinance richtig wiederzugeben:
Auch hier erwischte der Autor wieder nur die halbe Wahrheit: Zwar begründet Postfinance die Kündigung mit den falschen Angaben von Assange bei der Kontoeröffnung. Ein Wohnsitz in der Schweiz wäre für ein solches Konto hingegen nicht nötig — wie auch Leser bei der NZZ korrekt kommentieren.
Dies sind an sich nicht besonders schwere Fehler. Im Kollektiv mit hunderten und tausenden Meldungen gleicher Bauart entsteht jedoch ein Gemisch aus Halbwahrheiten, das kaum noch eine wirklich informierte Debatte um Wikileaks zulässt.
Mit Dank auch an Christoph H.
Nachtrag, 17 Uhr: “Spiegel Online” hat die Übersetzung der Twitter-Nachricht inzwischen korrigiert.
Gegenüber der Nachrichtenagentur AFP hat ein Sprecher des Regierungspräsidiums Kassel den Bericht des “Handelsblatts” relativiert: Die Mahnung wegen eines fehlenden Geschäftsberichts habe nichts mit Wikileaks zu tun, eine Prüfung des Stiftungszwecks und damit des Steuerprivilegs stehe jedoch noch nicht an.
Heute wurden die Ergebnisse einer neuen PISA-Studie vorgestellt, die sich vor allem mit der Lesekompetenz der Schüler beschäftigt. Grund genug für Bild.de, den Chef des Deutschen Philologenverbandes, Heinz-Peter Meidinger, zu dem Thema zu befragen.
Meidinger sagt, dass der relativ hohe Migranten-Anteil an unseren Schulen “mitverantwortlich” für das schlechte Abschneiden der Deutschen sei. Er bemängelt “die gescheiterte Integrationspolitik in Deutschland, die über mehr als zwanzig Jahre lang versäumt hat, das Problem der Sprachkenntnisse bei Einwanderern zu thematisieren und systematisch anzugehen”, fordert eine flächendeckende Sprachförderung von Kleinkindern und hebt den Einfluss des Elternhauses hervor:
Doch in vielen Einwanderer-Familien sei “die Sprachkompetenz der Eltern noch schlechter als die ihrer Kinder”.
Das führt laut Meidinger im Ergebnis dazu, dass Kinder aus sozial schwachen, bildungsfernen Migranten-Familien deutlich schlechtere Chancen auf einen erfolgreichen Schulabschluss haben als Kinder aus sozial bessergestellten, bildungsnahen Familien. “Dasselbe gilt natürlich auch für Kinder ohne Migrationshintergrund”, sagt der Bildungs-Experte weiter.
Also alles in allem durchaus differenzierte Antworten, die der “Bildungs-Experte” da gegeben hat. Bild.de fasst seine Aussagen so zusammen:
In der gedruckten “Bild” war für Ausdifferenzierungen dann gar kein Platz mehr:
Man fragt sich langsam, was die Studien des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) an sich haben, dass sie so gernefalschverstanden werden.
Als vergangene Woche in Hannover die “Zentralen Befunde des zweiten Forschungsberichts des Projekts ‘Gewalt gegen Polizeibeamte’ zu den Tätern der Gewalt” (PDF) vorgestellt wurden, in denen es in genau einem von zehn Punkten auch um Täter nichtdeutscher Herkunft ging, titelte die Hannoveraner Regionalausgabe von “Bild” reißerisch:
… und liegt damit klar daneben. Denn während “Bild” behauptet, “42,9 Prozent der Schläger sind Migranten, vor allem Muslime, Russen”, heißt es im KFN-Bericht unter Punkt 2:
Von allen berichteten Tätern hatten laut Angaben der Polizeibeamten 37,8 % eine eindeutig benennbare nichtdeutsche Herkunft.
Wo “Bild” die 42,9 Prozent her hat, wird wohl immer ein Rätsel bleiben. Im KFN-Bericht, der sich übrigens auf eine wenig repräsentative Polizistenbefragung aus dem Jahr 2009 bezieht (BILDblog berichtete), findet sich diese Zahl jedenfalls nirgends, sodass von “fast jeder 2.” nur noch etwas mehr als ein Drittel übrig bleibt.
Auch handelt es sich bei den besagten Tätern nicht um “Migranten”, wie von “Bild” behauptet, sondern um Personen, die von betroffenen Polizisten für “Nichtdeutsche” gehalten werden. Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler würde bestimmt dazugehören. Im KFN-Bericht heißt es dazu etwas schwammig:
Dabei wurde “Herkunft” im Fragebogen nicht definiert; aufgrund des deutlich über den in der [Polizeilichen Kriminalstatistik] ausgewiesenen Anteil nichtdeutscher Täter (2009: 18,6 %) liegenden Wertes in der Stichprobe ist aber davon auszugehen, dass sich die Beamten beim Beantworten der Frage nach der Herkunft eher auf einen vorhandenen Migrationshintergrund und nicht auf das Vorliegen einer nichtdeutschen Staatsangehörigkeit bezogen haben.
Vielleicht hat die Unfähigkeit von “Bild”, was die Auswertung von Studien angeht, aber auch weniger mit dem Institut zu tun, das sie anfertigt, sondern vielmehr mit dem Thema “Islam”.
Eine andere Studie des Exzellenzclusters “Religion und Politik” ergab kürzlich, dass 58 Prozent der Westdeutschen und 62 Prozent der Ostdeutschen dem Islam gegenüber kritisch eingestellt sind. Bemerkenswert an diesen Ergebnissen ist vor allem, dass die Deutschen nichtchristlichen Religionen gegenüber – also etwa auch dem Judentum oder dem Hinduismus – im europäischen Vergleich am intolerantesten abschnitten.
Bild.de interpretierte das dennoch ganz einfach so:
Der dazugehörige Artikel beginnt mit den Worten:
Ehrenmorde, Zwangsehen, religiöse Fanatiker – sie prägen das Bild vieler Deutscher vom Islam. Die Folge: Angst. Über die Hälfte der Deutschen steht dem Islam kritisch gegenüber.
Abgesehen davon, dass es in der Studie nicht um “Angst” ging, sondern darum, ob Menschen ein negatives oder ein positives Bild von verschiedenen Religionen haben, weiß man jetzt wenigstens, wo Intoleranz gegenüber und Angst vor dem Islam herkommen.