Es ist der 27. September 2021, am Tag zuvor hat Deutschland gewählt. Die SPD mit Spitzenkandidat Olaf Scholz ist stärkste Kraft, die Union mit Kanzlerkandidat Armin Laschet muss starke Verluste hinnehmen und landet auf Platz 2. Klar ist: Will man keine Fortsetzung der Großen Koalition, muss es ein Dreierbündnis mit den Grünen und der FDP geben. Aber wer wird es anführen: die Sozialdemokraten in einer Ampelregierung? Oder CDU/CSU in einem Jamaika-Bündnis? Beide Varianten sind rechnerisch möglich.
Der “Bild”-Redaktion ist es an diesem Morgen nach der Wahl jedenfalls ganz wichtig, der eigenen Leserschaft zu erklären, dass es völlig in Ordnung ist, wenn ein Zweitplatzierter, in diesem Fall die Union, später die Regierung anführt; und der Erstplatzierte, die SPD, in die Opposition muss:
Fakt ist: Das Jamaika-Bündnis kommt wie die Ampel auf eine klare Mehrheit im Parlament – Union und FDP bevorzugen diese Koalition. Fakt ist auch: Kein Gesetz verbietet es dem Zweitplatzierten, sollte es so kommen, eine Regierung anzuführen. 1980 gewann die Union gegen die SPD. Am Ende saß trotzdem Helmut Schmidt und nicht Helmut Kohl im Kanzleramt. (…)
Die SPD wird den Regierungsauftrag für sich beanspruchen. Dennoch hat auch Laschet weiter Chancen auf das Kanzleramt.
Es ist der 9. Februar 2023, heute. In drei Tagen soll in Berlin die Wiederholungswahl zum Abgeordnetenhaus stattfinden. Einer aktuellen INSA-Umfrage zufolge liegt die CDU klar vorn, die SPD auf Rang 2. Zusammen mit den Grünen und der Linkspartei könnten die Sozialdemokraten aber die derzeitige rot-grün-rote Koalition fortführen. Dazu könnten alle drei Parteien durchaus bereit sein. Die CDU müsste dann in die Opposition.
Der “Bild”-Redaktion ist es heute jedenfalls ganz wichtig, der eigenen Leserschaft zu erklären, dass es sich in diesem Fall um einen “Wahl-Klau” handeln würde:
Erst das Wahl-Debakel! Und jetzt auch noch Wahl-Klau? (…)
In Umfragen hat die CDU mit Kandidat Kai Wegner (50) bis zu 6 Punkte Vorsprung auf SPD und Grüne. Würde bedeuten: Die CDU hätte den Regierungsauftrag.
Doch SPD und Grüne wollen das offenbar verhindern. Man wolle auch bei Niederlage mit der Linkspartei (aktuell bei 12 Prozent) ein Bündnis schmieden – und weiterregieren, heißt es aus beiden Parteien. Es gebe zahlreiche Beispiele, “wo die Regierungsbildung über einen Zweitplatzierten stattfand”, so Grünen-Frontfrau Bettina Jarasch (54) zu BILD.
Im Klartext: Rot-Rot-Grün will der CDU den Sieg klauen!
Das zeigt nicht nur, dass die “Bild”-Redaktion ein demokratisches Fähnchen im Wind ist und sich ihre Überzeugungen je nach beteiligter Partei strickt. Es kann auch brandgefährlich sein, den Leuten mit einem Begriff wie “Wahl-Klau” einzuhämmern, dass ein völlig legitimer und üblicher demokratischer Vorgang mindestens etwas Anrüchiges, wenn nicht gar etwas Verbotenes hat.