Die Königin macht einen Hausbesuch

Es war ein historisches Ereignis, das da gestern im Amtssitz des britischen Premierministers David Cameron stattfand, da sind sich die deutschen Medien sicher.

Nur was genau war daran so historisch? “Spiegel Online” erklärt es in einem Video so:

Es ist ein Jahrhundertbesuch: Mit Queen Elizabeth II. setzt erstmals seit mindestens einhundert Jahren eine Monarchin ihren Fuß in 10 Downing Street.

Im dazugehörigen Artikel heißt es etwas anderes:

Es war das erste Mal seit mindestens 100 Jahren, dass ein britischer Monarch an einem Kabinettstreffen teilnahm: Königin Elizabeth II. wohnte einer Sitzung in der Downing Street 10 bei.

Ja, was denn nun? Der erste Besuch eines Monarchen in 10 Downing Street seit mehr als hundert Jahren oder der erste Monarch, der seit mindestens hundert Jahren an einer Kabinettssitzung teilnimmt? Beides? Nichts davon?

“Spiegel Online” erklärt das mit dem Kabinettstreffen so:

Cameron erklärte, es sei das erste Mal seit König George III. im Jahr 1781, dass ein Monarch an einer Kabinettssitzung teilnehme. Anderen Berichten zufolge hatte jedoch auch die 1901 verstorbene Queen Victoria dieses Recht wahrgenommen.

Und dpa weiß noch von einem späteren Treffen:

Auch Elizabeths Vater, König George VI., hatte sich mit den Ministerin [sic!] getroffen. Während des Zweiten Weltkriegs hatte er sich über die Lage informieren lassen – jedoch nicht in der Downing Street.

Na gut. Und das mit dem Besuch?

Nun, zuletzt war die Queen am 24. Juli dieses Jahres zum Lunch mit vier Premierministern (davon drei ehemalige) im Regierungssitz. Davor am 21. Juni 2011 anlässlich des 90. Geburtstags von Prinz Philip, was der “Daily Telegraph” als einen “seltenen Besuch” bezeichnete und hinzufügte, der vorherige habe wohl im April 2002 stattgefunden.

Seitdem sind die Besuche der Queen beim Premierminister wohl etwas häufiger geworden.

Neben diversen Detailfragen, über die sich auch die britischen Medien uneins sind, bleibt dann vor allem eine zentrale Frage offen: Wenn ein Ereignis in Großbritannien offenbar nur dann für die deutschen Leser interessant genug ist, wenn man es zum Jahrhundertereignis überjazzt — könnte man dann nicht stattdessen besser einfach auf eine Berichterstattung verzichten?

Mit Dank an Thomas U.

Twitter, Instagram und Bekennerschreiben

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

Bis zum 11. Januar gibt es hier ein ungewöhnliches Experiment: BILDblog und die Deutsche Journalistenschule organisieren die Urlaubsvertretung von Ronnie Grob – Schüler der 50sten und 51sten Lehrredaktion der DJS werden in den nächsten Tagen täglich sechs besondere Links auswählen und im BILDblog und auf djs-online.de vorstellen. Heute ausgewählt von Julia Flüs und Laura Hertreiter.

1. Bekennerschreiben und Staatsschutz
(taz, Magda Schneider, Kai von Appen und Peter Müller)
Bekennerschreiben unterliegen dem Redaktionsgeheimnis. “Deshalb schafften wir uns einen fiktiven Redaktionskater an, der noch bei laufender Produktion die Briefe verspeiste – was wir auch in der Zeitung mitteilten”, schreibt die taz. Natürlich gibt es auch Ausnahmen und Fehlschläge.

2. Bundestagsabgeordnete bei Twitter
(bjoern-schumacher.info, Björn Schumacher)
Was die großen Parteien und ihre Bundestagsabgeordneten bei Twitter schreiben? Björn Schumacher hat die Tweets analysieren lassen: Die SPD twittert zum Beispiel am liebsten über sich selbst und die Piraten – natürlich – gern über das Internet. Die Grafiken aktualisieren sich automatisch mit jedem neuen Tweet.

3. 2012 in Bildern
(Big Picture, Paula Nelson)
Jahresende ist Jahresrückblicks-Zeit: Boston.com veröffentlicht eine beeindruckende Fotostrecke in vier Teilen

4. Shitstorm über Instagram
(Nerdcore, René Walter)
Instagram hat seine Nutzungsbedingungen geändert und damit einen Shitstorm ausglöst. Angeblich darf das Programm nun einfach alle Nutzer-Bilder weiter verkaufen. “Das Internet rennt heute mal wieder im Kreis, fuchtelt mit den Armen und schreit rum. Ich bin da immer ein bisschen peinlich berührt”, schreibt René Walter in seinem Blog.

5. Are TV chefs’ recipes good for you?
(Guardian Datablog, Rob Grant, Sean Anderson und John Burn-Murdoch)
Jamie-Oliver-Rezept nachkochen oder Fertigpizza in den Ofen schieben – was ist gesünder? Ein datenjournalistisches Projekt des Guardian mit überraschenden Ergebnissen.

6. BOSS-Magazin
(unter3.net, 50B, Deutsche Journalistenschule)
Ein Magazin über Macht und Mächtige, über Geld, Sex und Alphatiere: Das aktuelle Klartext-Magazin der Deutschen Journalistenschule fragt, wie man es nach oben schafft, wie es sich da oben lebt und was passiert, wenn er wieder runtergeht. Samt Hintergrundbericht.

Eiskalt. Ohne Gefühl. Kein Mitleid.

Obwohl die Lage auch Tage nach dem Amoklauf an einer Grundschule in Connecticut immer noch unübersichtlich ist, scheinen die Medien zu jedem beliebigen Zeitpunkt und vorübergehenden Nachrichtenstand schon zu wissen, was das alles zu bedeuten hat.

Als “aus Ermittlerkreisen verlautete” (“Hamburger Morgenpost”), der Täter habe das Asperger-Syndrom, war für Bild.de schon alles klar:

Der irre Amok-Killer von Newtown: Eiskalt. Ohne Gefühl. Kein Mitleid. BILD.de erklärt das Asperger-Syndrom.

Die mediale Ferndiagnose läuft dabei so ab:

Ehemalige Mitschüler erinnern sich an einen nervösen, unsicheren Jungen. Wenn er angeschaut wurde, blickte er weg. Wenn man ihn ansprach, würgte er die Worte hervor.

Dieses Verhalten deutet auf eine bestimmte Krankheit hin: das “Asperger-Syndrom”, eine autistische Störung. Immer öfter, auch aus Ermittlerkreisen, fällt dieser Begriff, wenn es um den psychischen Zustand [des Täters] geht.

Der letzte Satz ist natürlich eine selbsterfüllende Prophezeiung, denn dieser Begriff fällt in Medien von Bild.de über die “Hamburger Morgenpost” bis zu “Spiegel Online”.

Dass Bild.de das Asperger-Syndrom letztlich einigermaßen fundiert und unaufgeregt erklärt, dürfte an den Quellen liegen, mit denen die Seite gearbeitet hat. Das Porzellan ist da freilich schon zerschlagen: “Eiskalt. Ohne Gefühl. Kein Mitleid.” Und das, ohne dass bisher überhaupt klar wäre, ob der Täter wirklich das Asperger-Syndrom hatte.

Der Blogger Querdenker, selbst Autist, hat sich in zwei Texten damit auseinandergesetzt, wie die Medien dieser Tage mit dem Thema umgehen.

* * *

Einige hatten ihn vielleicht schon vermisst, heute ist er endlich da: Kriminologe Christian Pfeiffer, Hans Dampf in allen Gossen, beantwortet auf Bild.de die wichtigsten Fragen (“Kann man Amokläufer erkennen?”, “Ist so ein Massaker auch in Deutschland möglich?”):

BILD.de: War das ein untypischer Amoklauf?

Kriminologe Dr. Christian Pfeiffer: “Das war ein sehr untypischer Amoklauf. Der Täter hat eine unglaubliche Wut auf seine Mutter. Deshalb hat er sie auch erschossen. Doch das hat ihm anscheinend nicht gereicht, deshalb ist er in die Schule gefahren, an der die Mutter unterrichtete. Er suchte gezielt die Räume auf, in denen die Mutter lehrte und wütete weiter.”

Der Zeitstempel des Artikels ist von Montagabend, 23.55 Uhr. Seit Samstagabend deutscher Zeit ist klar, dass – vorsichtig ausgedrückt – erhebliche Zweifel daran bestehen, dass die Mutter des Täters Lehrerin oder auch nur Aushilfslehrerin war.

cnn.com schrieb:

Entgegen früherer anderslautender Berichte war [die Mutter] keine Lehrerin an der Schule, wo die Morde stattfanden, sagte Janet Vollmer, eine Vorschullehrerin an der Sandy Hook Elementary School.

(Übersetzung von uns.)

Und das “Metropolis”-Blog des “Wall Street Journals” berichtete:

Eine ehemalige Vertreterin der Schulbehörde von Newton widersprach früheren Berichten, wonach es eine Verbindung [der Mutter] zur Sandy Hook Elementary School gegeben habe, möglicherweise als Teil des Lehrkörpers.

“Niemand hat von ihr gehört”, sagt Lillian Bittman, die bis 2011 in der lokalen Schulbehörde arbeitete. “Lehrer kennen sie nicht.”

(Übersetzung von uns.)

Tatsächlich fehlt der Name der Frau auf der Mitarbeiter-Seite der offiziellen Website der Schule.

Aber wer hätte schon auf die Idee kommen können, dort nachzusehen? Journalisten etwa? Die zitieren lieber Experten, die wissen, dass der Täter “gezielt” die Räume aufgesucht habe, “in denen die Mutter lehrte”.

Mit Dank auch an die vielen Hinweisgeber.

Quatsch mit Karamellsauce

Vergangene Woche hatten wir erklärt, warum der Vergleich der Wörterzahlen zwischen den Zehn Geboten, der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der EU-Verordnung über den Import von Karamellbonbons in der “Süddeutschen Zeitung” Quatsch war: Die “EU-Verordnung über den Import von Karamellbonbons” gibt es nicht.

Laut Wikipedia geht die Mär von der Karamellverordnung zurück auf Alwin Münchmeyer, den damaligen Präsidenten des Bundesverbandes deutscher Banken, der 1974 im “Spiegel” mit diesem Bonb… Quatsch: mit diesem Bonmot zitiert wurde.

Damals hatte die angebliche Verordnung allerdings noch “26 911 Wörter”, was der Dokumentation des Nachrichtenmagazins irgendwie entgangen sein muss, als sie 12 Jahre später diese Passage absegnete:

Bayerns Ministerpräsident Franz Josef Strauß findet für den inflationären Zustand einen eindrucksvollen Vergleich: “Die Zehn Gebote Gottes enthalten 279 Wörter, die amerikanische Unabhängigkeitserklärung 300 Wörter. Die Verordnung der Europäischen Gemeinschaft über den Import von Karamelbonbons umfaßt exakt 25911 Wörter”

Mit diesem Zitat, das den Faktencheck von “Hart aber fair” sicher nicht überstanden hätte, ist Strauß auch Jahrzehnte nach seinem Ableben noch gern gesehener Gast in den Medien: Die österreichische “Kronen Zeitung” etwa packte den Ausspruch am 21. Januar 2008 gemeinsam mit Sentenzen von Joschka Fischer, Franz Müntefering und John McCain in eine Zitatensammlung.

Neben Münchmeyer und Strauß gibt es aber noch andere Quellen. Der “Tagesspiegel” etwa schlug es am 23. November 2001 “dem” Heinz Ossenkamp zu, Chef der Gewerkschaft für die Beamten und Angestellten im Dienst der Länder und Kommunen:

Wie nun das Meer seit Jahren jedes Mal etwas höher steigt, so schwillt die Papierflut von Jahr zu Jahr an. Der Heinz Ossenkamp hat das jetzt an einem Beispiel genau ausgerechnet: “Das Vaterunser hat 56 Wörter, die zehn Gebote haben 297. Aber eine Verordnung der EU-Kommission über den Import von Karamellen und Karamellprodukten zieht sich über 26.911 Wörter dahin.”

Ganz ohne Zitatgeber kam “Spiegel Online” am 12. August 2004 aus, wo eine Linksammlung mit diesen Worten eröffnet wurde:

Was kommt dabei heraus, wenn Menschen zu viel Zeit haben? Im schlimmsten Fall eine EU-Verordnung zum Im- und Export von Karamellbonbons (rund 25.000 Worte), im besten Fall eine Web-Perle: Wir haben wieder einige davon zu bieten.

Auch logisch nicht ganz unspannend ist der Schluss eines Artikels über Spracherkennungssoftware aus der “Financial Times Deutschland” vom 25. Februar 2005:

Die wachsende Informationsflut tut ihr Übriges: Die Zehn Gebote kommen mit 279 Wörtern aus, die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung bringt es auf 3000 Wörter, die EU-Verordnung über den Import von Karamellbonbons umfasst bereits 26 000 Wörter. Die Folge: Der Wortschatz künftiger Spracherkennungen wird stetig wachsen müssen.

Aber wohl kein anderes Medium hat die Karamellverordnung derart oft durchgekaut wie die “Süddeutsche Zeitung”:

In der Rezension eines Auftritts des Kabarettisten Werner Koczwara in der Ausgabe vom 12. Januar 2001:

Daneben haben Zahlen eine große Bedeutung. Nicht nur, weil ja schon in den Gesetzen schier unendlich viele Paragraphen irrlichtern. Nein, Koczwara errechnet darüber hinaus auch, dass die zehn Gebote 279 Wörter haben, die EU-Verordnung zur Einführung von Karamellbonbons dagegen 25 911 Worte braucht.

Im Lokalteil Fürstenfeldbruck am 2. Februar 2007 über ein Treffen von Schülern mit einem Abgeordneten des Europaparlaments:

“Die Zehn Gebote zählen 279 Wörter, die Unabhängigkeitserklärung der nordamerikanischen Staaten von 1776 zählt 300 Wörter, die EU-Verordnung über den Import von Karamellbonbons von 1981 besteht aus 25 911 Wörtern”, zitierte ein Jugendlicher und fragte nach dem Stellenwert der Bürokratie in der EU. Das sei aber nicht schlimmer als in den Gemeinden, ganz gleich ob in Bayern oder in Berlin, meinte Radwan.

Ganz meta am 29. September 2007:

Journalisten lieben abgenudelte Vergleiche. Und deshalb liest man in Glossen über den bürokratischen Regelungswahn immer mal wieder, wie viele Wörter die Zehn Gebote umfassen, wie viele die amerikanische Unabhängigkeitserklärung und wie viele irgendeine absurde EU-Verordnung über irgendetwas garantiert völlig Nebensächliches wie etwa den idealen Krümmungsgrad von Bananen. Natürlich schneidet die EU-Verordnung dabei immer ganz schlecht ab, weil sie für ihr lächerliches Ansinnen etwa tausendmal so viele Wörter braucht wie die Zehn Gebote für das ihre.

Die jüngste Erwähnung vom Freitag schaffte es dann am Samstag auch noch in die “Aargauer Zeitung”:

Kleiner Trost: Die Schweiz steht nicht allein da. Die EU produziert noch viel mehr Gesetze. Die “Süddeutsche Zeitung” machte gestern diesen lustigen Vergleich: “Die Zehn Gebote Gottes enthalten 279 Wörter, die amerikanische Unabhängigkeitserklärung 300, die EU-Verordnung über den Import von Karamellbonbons exakt 25911.”

Ein Blick in die Erdinger Regionalausgabe der “Süddeutschen Zeitung” vom 5. Juni 2010 hätte allerdings auch im aktuellen Fall helfen können:

Die CSU war ja schon zu Lebzeiten von Franz-Josef Strauß, dem Namenspatron unseres Flughafens, skeptisch gegenüber der EU-Bürokratie. Berühmt ist sein Zitat: “Die Zehn Gebote erhalten 279 Wörter, die amerikanische Unabhängigkeitserklärung 300, die Verordnung der Europäischen Gemeinschaft über den Import von Karamelbonbons aber exakt 25 911!” Rhetorisch brillant, nur hat es so eine Verordnung nie gegeben.

Überhaupt scheinen sich die Redakteure in Erding besser mit der Materie auszukennen als die der Mantelredaktion, denn erst am 13. Oktober stand dort wieder in der Regionalausgabe:

Die Zehn Gebote enthalten 279 Wörter, die amerikanische Unabhängigkeitserklärung 300, die Verordnung der Europäischen Gemeinschaft über den Import von Karamelbonbons aber exakt 25911!” Mit diesen Worten hat bereits 1986 der damalige bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß die überbordende Bürokratie auf europäischer Ebene angeprangert. Diese Verordnung war tatsächlich einmal in Vorbereitung, ist aber nicht realisiert worden.

Nachtrag, 4. Januar 2013: Twitter-User @ungeruehrt hat uns darauf hingewiesen, dass bereits 1973, ein Jahr vor dem “Spiegel”-Artikel, diese Passage in der “Zeit” gestanden hatte:

Im übrigen aber beklagte Münchmeyer neben anderen Inflationstendenzen die Inflation der Worte. Das anschauliche Beispiel des Privatbankiers: Das Vaterunser hat 56 Worte, die Zehn Gebote 297 Worte, die amerikanische Unabhängigkeitserklärung 300 und eine Verordnung der Europäischen Kommission für den Import von Karamel und Karamelerzeugnissen 26911 Worte.

Uschi Glas, Panik und ein Audi-Ausflug

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1. Uschi Glas als Stammgast
(Altpapier, Klaus Raab)
Hat Bild das Attentat in Newtown genutzt, um für seine abendliche Veranstaltung “Ein Herz für Kinder” zu werben? “Den Massenmord an Grundschülern zu benutzen, um eine Spendengala zu promoten (…) ist schon herausragend ekelhaft”, schreibt Klaus Raab.

2. Newtown response shows perils of post-tragedy interview requests via social media
(Poynter, Jeff Sondermann)
Wenn durch Social Media jeder auffindbar ist, was tun Journalisten? Sie schicken Interviewanfragen zum Amoklauf direkt per Twitter und Facebook. “While social networks have made it easier for journalists to find and contact potential sources, it’s also made the hardest part of the job even harder. Those delicate interactions, what used to be just two humans figuring out what feels right, often occur over the cold distance of electronic communication and in full view of the public.”

3. More Guns, More Mass Shootings – Coincidence?
(Mother Jones, Mark Follman)
Eine datenjournalistische Aufarbeitung über den Zusammenhang aus der Häufung von Amokläufen und der zunehmender Verbreitung von Waffen in den USA.

4. Die Panik der Anderen
(Perlentaucher, Ina Hartwig)
Jahrelang war Ina Hartwig Literaturkritikerin für die “Frankfurter Rundschau”. Nun gibt sie einen Einblick in den langsamen Untergang der Zeitung, beschreibt diesen als “Sonderfall” und versteht die “Resignation und Autoaggression” diverser Journalisten nach der (Fast-) Pleite der FR nicht. Eher müsse eine ehrliche Auseinandersetzung um die Zukunft des “Leitmediums Zeitung” stattfinden.

5. Der Audi-Ausflug des Zeit-Herausgebers
(Meedia, Stefan Winterbauer)
Im letzten “Zeit”-Magazin attestierte “Zeit”-Herausgeber Josef Joffe in einem gemeinsam mit seiner Frau verfassten Auto-Test dem Audi Q3 “gedämpften Minimalismus”. Die Innengeräusche seien “gering, das Fahrverhalten bietet die richtige Balance zwischen flink und sicher. Kurven meistert der Q3 wie von Geisterhand gezogen.” Nach dem Verdacht auf Schleichwerbung, sagt die “Zeit” jetzt auf Anfrage von “meedia”, dass die Autoren bis auf 90 Euro alle Spesen selbst tragen müssten.

6. Countdown zum Weltuntergang
(ZDFneo, Weltuntergangsblog)
Am 21. Dezember geht ja bekanntlich die Welt unter; die ZDF-Spartenkanal-Allzweckwaffen Joko und Klaas servieren an diesem Abend bei Neo ihre große Show zum Thema. Bis dahin gibt es einen täglichen Blogeintrag – mit Twitter-Liste zum #weltuntergang.

Im Luftraum ist hinten noch Platz

Vor gut einem Jahr sind sich im Luftraum über Frankfurt zwei Flugzeuge ungewöhnlich nahe gekommen. Der Vorfall wurde daraufhin von der Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung (BFU) überprüft, vergangene Woche hat sie ihren Untersuchungsbericht veröffentlicht.

“Bild” fasst ihn in der Frankfurter Regionalausgabe so zusammen:
Nur 30 Meter fehlten zur Flugzeug-Katastrophe
Online widmete Bild.de dem “Schockbericht” gleich zwei Artikel, beide mit derselben Grafik illustriert:
Nur 30 Meter fehlten zur Flugzeug-Katastrophe über Hessen!

Die Grafik zeigt die gefährliche Situation: Der Lufthansa-Airboss vorweg, der Aeroflot A 320 dahinter. Der Abstand: an einer Stelle gerade mal 30 Meter.

In den Artikeln selbst klingt das schon ein wenig anders:

Es war laut Flugsicherung der “gefährlichste Zwischenfall im deutschen Luftraum” seit langem, der sich am 13. Dezember 2011 um 14.27 Uhr und 55 Sekunden rund 1500 Meter über Raunheim abspielte …(…)

Die beiden Flugzeuge kommen sich immer näher, über Raunheim beträgt der Abstand der A320 zur gefährlichen “Wirbelschleppe” des riesigen Airboss gerade noch 30 Meter.

Genau: Der Abstand zur Wirbelschleppe betrug 30 Meter. Der Abstand zwischen den beiden Flugzeugen aber war laut Untersuchungsbericht erheblich größer. Vertikal waren die Maschinen nämlich knapp 61 Meter voneinander entfernt.

Ach so, und dann waren da noch 1.796 horizontale Meter zwischen den beiden Flugzeugen, die “Bild” ganz unterschlägt. Nach der Art, wie das Blatt rechnet, lägen Zugspitze und Mount Everest bloß läppische sechs Kilometer voneinander entfernt.

Die BFU betonte uns gegenüber auf Anfrage, unmittelbare Kollisionsgefahr habe zu keiner Zeit bestanden. Das steht auch explizit in dem Untersuchungsbericht. Doch darüber verliert der “Bild”-Redakteur (der den Airbus übrigens nach “Bild”-Art konsequent “Airboss” nennt) kein Wort.

Die Grafik, mit denen “Bild” und Bild.de die “gefährliche Situation”, diese Beinahe-“Flugzeug-Katastrophe” illustrieren, müsste also eigentlich in etwa so aussehen:

Mit Dank an die vielen Hinweisgeber.

Prostatakrebs schlägt Ian McKellen nieder

In der vergangenen Woche machte die Nachricht Schlagzeilen, dass der britische Schauspieler Ian McKellen Prostatakrebs hat. Er hatte in einem Interview mit der Boulevardzeitung “Daily Mirror” darüber gesprochen.

Es gab dann einige Verwirrung, weil McKellens Manager die Nachricht von der Krebserkrankung erst dementierte, bevor sie McKellen bestätigte:

There have been new reports in the press of the old news that I have early prostate cancer.  This was diagnosed six or seven years ago.  There is no cause for alarm.  I am examined regularly and the cancer is contained. I’ve not needed any treatment.

(Es gibt neue Berichte in der Presse über die alte Nachricht, dass ich Prostatakrebs in einem frühen Stadium habe. Das ist vor sechs oder sieben Jahren diagnostiziert worden. Es gibt keinen Anlass zur Beunruhigung, und der Krebs breitet sich nicht aus. Ich musste nicht behandelt werden.)

Tatsächlich scheint McKellen auch vorher schon aus der Krebserkrankung kein Geheimnis gemacht zu haben. Sie wurde zum Beispiel beiläufig in einem “Guardian”-Artikel über ihn im August 2011 erwähnt.

Medien in aller Welt behandelten die Sache dennoch als spektakuläre Enthüllung, die sie mal der “Daily Mail” und mal der “Sun” zuschrieben. Am verwirrtesten aber war die deutsche “Welt”, die in ihrer Online-Ausgabe nicht nur — vermutlich aus Gründen der Dramatik — so tat, als sei der Krebs bei McKellen gerade erst festgestellt worden. Sie schrieb außerdem:

Der 73-Jährige sagte während der London-Premiere seines neuen Films “Der Hobbit” merklich niedergeschlagen: “Wenn du eine solche Nachricht bekommst, dann schluckst du erstmal.”

Ach? Auf der London-Premiere, die zu dem Zeitpunkt, als die “Welt” den Artikel veröffentlichte, noch nicht einmal stattgefunden hatte? Die Information, dass McKellen dabei “merklich niedergeschlagen” wirkte, muss entsprechend eine Erfindung der “Welt” sein. McKellen hatte sich in einem Interview Tage vorher geäußert.

In dem Artikel der “Sun”, auf den sich die “Welt” beruft (was ohnehin vielleicht nicht die beste Idee ist), steht all das nicht falsch.

Nachtrag, 21:00 Uhr. Die “Welt” hat ihren Artikel nun umgearbeitet und etwas hinzugefügt, was man leicht mit einer transparenten Korrektur verwechseln könnte:

Liebe Leser, aufgrund der geänderten Nachrichtenlage und mehreren Leserhinweisen haben wir die Originalversion des Artikels überarbeitet und angepasst.

Das ist grob irreführend. Die Fehler, die die “Welt” gemacht hat, waren keiner anderen “Nachrichtenlage” geschuldet, sondern ausschließlich der eigenen Unfähigkeit oder dem eigenen Unwillen, korrekt zu berichten.

Amoklauf, Kristall und der ewige Israeli

6 vor 9

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1.  Lieber Spiegel Online
(Realitätsfilter, hawkeye)
Mehrere Blogger kritisieren mangelnde Recherche bei einem Spiegel Online-Text, der den Amoklauf von Newtown mit Autismus in Verbindung bringt. “Dank Artikeln wie diesem werde ich wohl in nächster Zeit wieder etwas vorsichtiger sein müssen, den Begriff Asperger irgendwo fallen zu lassen”, schreibt Hawkeye. Auch Sabine Kiefner beschwert sich: “Ich brauche keine Sensationsberichterstattung, die mich zu einer potentiellen Massenmörderin macht!”

2. How the NRA Twitter Handles A Mass Shooting: Silence
(Buzzfeed, Adam Kaczynski)
Wie reagiert die amerikanische Waffenlobby auf Amokläufe? Buzzfeed hat den Twitteraccount der Schusswaffenvereinigung NRA verfolgt.

3. Ein heftiges Heft
(Freitag, René Martens)
René Martens erinnert an die Springer-Illustrierte Kristall, die 1966 eingestellt wurde: “Am Beispiel Kristall lässt sich der Einfluss von NS-Eliten auf den westdeutschen Journalismus der sechziger Jahre anschaulich beschreiben. Wer genauer hinsieht, erkennt einen auffälligen Widerspruch zu der von Axel Springer gepflegten Selbstdarstellung.”

4. Fall Mollath: Alles nur heiße Luft?
(Internet-Law, Thomas Stadler)
Der Fall Mollath ist derzeit eines der Lieblingsthemen deutscher Journalisten. Thomas Stadler arbeitet sich an der aktuellen Presseberichterstattung ab. Sein Urteil: “Das was der Spiegel und leider auch die ZEIT hier anbieten, ist kein Qualitäts- sondern emotionaler Tendenzjournalismus.”

5. Die Informationsfreiheit und der “Erfolg einer Entscheidung”
(telepolis, Peter Mühlbauer)
Das Bundeskanzleramt weigert sich, Akten herauszugeben, die die Beziehung von Kanzleramtsstaatsminister von Klaeden zu seinem Bruder, einem Springer-Lobbyisten, betreffen. Das könnte die Entscheidung über das Leistungsschutzrecht beeinflussen.

6. Der ewige Israeli
(taz, Philip Meinhold)
“Haben Sie vom Nahostkonflikt keine Ahnung, aber eine Meinung zu bieten? Wollen Sie als mutig gelten?” Philip Meinhold gibt zehn Tipps für einen israelkritischen Text.

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Bild  

Kaum zu ertragen

Um ein Gespür dafür zu bekommen, wie die Redakteure von “Bild” so ticken, reicht eigentlich diese Bildunterschrift, heute auf der Titelseite, unter dem unverfremdeten Foto einer jungen Frau, das fast eine halbe Seite hoch ist:

Ein Foto, das kaum zu ertragen ist: Eine völlig aufgelöste Frau versucht am Handy zu erfahren, ob ihre Schwester den Amoklauf überlebt hat.

Falsche Kamellen

Die “Süddeutsche Zeitung” beschäftigt sich auf ihrer heutigen Titelseite mit der steigenden Bürokratie in deutschen Jobcentern:Papier-Wut: Zahllose neue Weisungen erzürnen Mitarbeiter in Jobcentern

So beginnt der Text:

Die Zehn Gebote Gottes enthalten 279 Wörter, die amerikanische Unabhängigkeitserklärung enthält 300, die EU-Verordnung über den Import von Karamellbonbons exakt 25 911. Das zeigt: Was wirklich wichtig ist, lässt sich prägnant zusammenfassen. Die Realität sieht in vielen Unternehmen und Behörden meist anders aus.

Doch so schön die Einleitung auch ist, falsch ist sie trotzdem. Und sogar ein bisschen peinlich.

Gut, das mit den 279 Wörtern der Zehn Gebote kommt noch so einigermaßen hin. Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung hingegen ist nicht 300, sondern mindestens 1.300 Wörter lang. Okay, kann passieren.

Die “EU-Verordnung über den Import von Karamellbonbons” aber, die umfasst deutlich weniger als 25.911 Wörter – um genau zu sein: exakt 25.911 weniger. Es gibt sie nämlich gar nicht.

Die kuriose, aber frei erfundene Verordnung geht auf den Unternehmer Alwin Münchmeyer zurück und wird (gemeinsam mit den angeblichen Wörterzahlen für die Zehn Geboten und der Unabhängigkeitserklärung) so oft zitiert, dass sie es sogar schon zu einem eigenen Wikipedia-Artikel gebracht hat. Nur echt ist sie eben nicht.

Schon bei der Vorstellung des Sommersemesterprogramms der Münchener Volkshochschule (!) hatte die “Süddeutsche Zeitung” im Januar 2010 geschrieben:

“Die zehn Gebote Gottes enthalten 172 Wörter, die amerikanische Unabhängigkeitserklärung enthält 300 Wörter, die Verordnung der Europäischen Gemeinschaft über den Import von Karamellbonbons aber exakt 25 911 Wörter”, soll sich einst Ministerpräsident Franz Josef Strauß beschwert haben.

In einem Punkt muss man der Zeitung also tatsächlich recht geben:

Was wirklich wichtig ist, lässt sich prägnant zusammenfassen. Die Realität sieht in vielen Unternehmen und Behörden meist anders aus.

In Redaktionen auch.

Mit Dank an Theo M.

Nachtrag, 23.30 Uhr: Auf sueddeutsche.de steht nun eine geänderte Version des Artikels. Mit folgender “Anmerkung der Redaktion”:

Eine frühere Version dieses Artikels enthielt Zahlen zum Inhalt einer angeblichen EU-Verordnung. Diese Verordnung existiert allerdings nicht, sondern geht auf ein lediglich ironisch gemeintes Zitat zurück. Wir haben diesen Fehler korrigiert und bitten, ihn zu entschuldigen.

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