Abendzeitung, Horst Seidenfaden, Lämmer

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Wo ein Mordverdacht ist, kann doch ein Videospiel nicht weit sein…”
(de.ign.com, Tino Hahn)
Ein Bericht der “Abendzeitung” über einen Mordfall, inklusive Stellungnahme der Redaktion: “Der gesamte Bericht entbehrt jeglicher Pietät, steckt voller haltloser Behauptungen und dient einzig und allein dazu, Vorurteile gegen Gamer zu schüren.”

2. “Leser fragen, Horst Seidenfaden belehrt”
(coffeeandtv.de, Lukas Heinser)
Horst Seidenfaden, Chefredakteur der “Hessischen/Niedersächsischen Allgemeinen”, beantwortet “Fragen zum Redaktionsalltag der HNA”.

3. “Don’t believe everything you read”
(x-surface.tumblr.com, englisch)
Jemand gibt sich aus als ein Mitarbeiter von Microsoft und wendet sich mit “Informationen” an verschiedene Gaming-Websites. Ein paar Stunden später sind sie als News online. “It’s all about being first. To get such news out (whether you believe it or not) before any other publication does, will guarantee you page impressions, and that all-important advertising revenue. Gaming ‘journalism’ is completely broken.”

4. “Schwächstes Glied sind die Journalisten”
(sonntagonline.ch, Christof Moser)
Christof Moser ärgert sich über über Journalisten, die “fast schon demonstrativ ihr Desinteresse an den Details des Diskurses offenbaren. Initiative studiert? Gegenvorschlag gelesen? Revision analysiert? Fehlanzeige. Es geht nur um Stimmen und Stimmung, Polit-Matchberichte.”

5. “Prüder in Waffen”
(faz.net, Claudius Seidl)
Claudius Seidl analysiert die “Stern”-Story “Der Herrenwitz”.

6. “Das Schreien der Lämmer”
(fraumeike.de)
Meike Lobo schreibt über die aktuelle Sexismus-Debatte. Siehe dazu auch “Schreiende Lämmer – Das Nachspiel” und “Arme Opfer” (cora-stephan.blogspot.de).

Bild  

Riesen-Sauerei statt Nötigung

Heute freut sich “Bild” mal auf Seite 1:

Ottfried-Fischer-Prozess: Freispruch für BILD-Redakteur!

Sieg für die Pressefreiheit!

Keine Nötigung, keine Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs, erst recht keine Erpressung:

Im Prozess um ein Sex-Video mit Ottfried Fischer (59, “Pfarrer Braun”) hat das Landgericht München den angeklagten BILD-Redakteur in allen Punkten freigesprochen.

Und das schon zum zweiten Mal!

Begründung des Richters: “Die Recherchearbeit ist grundsätzlich geschützt, unabhängig von der jeweiligen Zeitung”. Und: Eine Drohung des Angeklagten habe es nie gegeben.

Claas-Hendrik Soehring, Leiter Medienrecht Axel Springer AG: “Der Versuch der Münchener Staatsanwaltschaft und Ottfried Fischers, presserechtlich gebotene Arbeit von Journalisten zu kriminalisieren, ist gescheitert.”

Soweit die Axel Springer AG und “Bild”, Leuchtfeuer im Kampf um die Pressefreiheit.

Und nun noch einmal der Richter, zitiert von anderen Medien:

Eine persönliche Schuld des Angeklagten sei nicht feststellbar gewesen, sagte der Vorsitzende Richter Thomas Hensel. Er betonte aber: “Was da passiert ist, ist eine Riesen-Sauerei. Was der einzelne in seiner Wohnung macht, geht niemanden etwas an.”

Mit Dank auch an Jörg W.

Superlative, Übergriffe, Affen

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1. “Der kritischste Artikel über Superlative aller Zeiten”
(sportsaal.de, Derhatschongelb)
Der Sportjournalismus neigt zu Superlativen. Dabei wäre Aufmerksamkeit auch bei einer nüchternen Anpreisung sicher: “Ich würde die Videos und Geschichten auch anklicken, wenn sie einfach mit ‘Mittelfeldspieler trifft aus 78 Metern’ oder ‘Torwart schießt Abstoß ins eigene Toraus’ betitelt wären.”

2. “Qualitätsmedien im Web: Artikel werden zur Trägermasse für Klick-Fabriken”
(onlinejournalismusblog.com, Stephan Dörner)
Die Auswirkungen von Page Impressions als Währung für Werbung im Netz: “Der für mich wichtigste Schritt, Qualitätsjournalismus ins digitale Zeitalter zu holen, ist, ihn endlich auch im Onlinejournalismus stattfinden zu lassen. Sobald das passiert ist, können alle Medienhäuser auch über eine Monetarisierung beispielsweise über Paywalls nachdenken. Vorher nicht.”

3. “Analyse: Der typische Bild-Leser”
(meedia.de, Jens Schröder)
“Der typische Bild-Leser” ist “ein Mann im Alter von 40 bis 59 Jahren”, schreibt Jens Schröder. “Er ist zur Haupt- oder Realschule gegangen, arbeitet als Facharbeiter und verfügt über ein Haushalts-Nettoeinkommen von 1.500 bis 2.500 Euro.”

4. “Wahrlich, keine Sternstunde”
(saarbruecker-zeitung.de, Bernard Benrarding)
Bernard Benrarding kommentiert die Vorwürfe einer “Stern”-Journalistin gegen Rainer Brüderle: “Was für eine Heuchelei: Ausgerechnet jene, die permanent mit grellem Sex Auflage machen, schüren die Erregung über angeblichen Sexismus.” Siehe dazu auch “‘Anzügliche Blicke gibt es überall'”, ein Interview mit Wibke Bruhns (tagesspiegel.de, Sonja Pohlmann).

5. “Normal ist das nicht!”
(kleinerdrei.org, Maike)
Maike versammelt verschiedene Erlebnisse sexueller Übergriffe im Alltag: “Solche Erlebnisse prägen – dabei kann ich noch von Glück sprechen, denn mir ist keine körperliche Gewalt widerfahren. Aber die Angst bleibt und geschürt wird sie immer wieder mit alltäglichen Sexismen, die ich und viele andere Menschen – meist Frauen – auf der Straße erleben.”

6. “Bildunterschrift der Affen”
(juliane-wiedemeier.de)

Bild  

Heinos erfundener Rocker-Krieg

Es ist selbst für “Bild”-Verhältnisse eine etwas überraschende Überschrift:

Weil er DIE ÄRZTE und RAMMSTEIN nachmacht: Rocker-Krieg gegen Heino! Deutsche Rocker sauer auf Volksmusik-Star Heino: "Ich lasse mir von niemandem das Singen verbieten"

Anders als sonst geht es in diesem “Rocker-Krieg” nicht um irgendwelche Motorrad-Gangs, sondern um Rockmusiker:

Wüste Beschimpfungen, Anwälte, verbotene Videos! Die deutsche Rock-Szene ist in Aufruhr: Ausgerechnet Heino singt Hits von “Rammstein” oder “Die Ärzte” nach – obwohl die ihm KEINE Genehmigung dafür gaben.

Dass Heino gar keine, Verzeihung: gar KEINE Genehmigung gebraucht hätte, erklärt “Bild” im Artikel eigentlich sogar selbst:

Heino nutzt ein rechtliches Schlupfloch. Solange er Komposition und Text des Original-Songs nicht verändert, können die Rocker nichts machen.

Details dazu entnehmen Sie bitte einfach der Wikipedia.

Das viele Gerede von Gesetzen wirkt überhaupt sehr kalkuliert — immerhin nennt die Plattenfirma Heinos (zufälligerweise nächste Woche erscheinende) CD offiziell “Mit freundlichen Grüßen — Das verbotene Album”, obwohl nichts an dem Album “verboten” ist.

Auch sonst wirkt der “Bild”-Artikel wie genau geplante Krawall-PR:

Kein großes Plattenlabel traute sich an die Veröffentlichung, weil die Multimillionen-Rocker den Firmen mit Kündigung drohten.

… weswegen das Album jetzt bei Sony Music erscheint, einer der drei größten Plattenfirmen der Welt, wo es zuvor schon für Oktober 2012 angekündigt gewesen war.

Aber zurück zum “Rocker-Krieg”, der für “Bild” sogar ein “irrer Rocker-Krieg ist:

“Diesen Dreck muss man sofort löschen, das ist respektlos!”

“Das Letzte, dass dieser A…. unsere Lieder singt!”

“Was denkt sich dieser Schunkel-Opa, der soll seine Rentner-Schnulzen trällern!”

Reaktionen deutscher Rockstars. Die Namen sind der Redaktion bekannt.

Nun würde man ja von einem “Krieg” irgendwie erwarten, dass beide Seiten öffentlich auftreten und die eine nicht so seltsam von der “Bild”-Redaktion gedeckt wird.

Andererseits nennt die Zeitung ja dann doch noch Ross und Rocker:

Aus dem “Rammstein”-Umfeld heißt es, die Band fände das “zum Erbrechen!” Und: “Wir könnten kotzen.”

Wobei “Bild” da offensichtlich aufs falsche Pferd gesetzt hat. Die Band Rammstein sah sich nämlich auf ihrer Website und bei Facebook zu einer Richtigstellung verpflichtet:

Rammstein haben mit Befremden die heutige Berichterstattung der Bild-Zeitung zur Kenntnis genommen, die Band befände sich in einer Auseinandersetzung mit Heino zu seiner Coverversion des Rammstein Titels “Sonne”.

Das ist nicht der Fall. Rammstein hat sich hierzu nicht geäussert. Die im Text genannten Zitate, die der Band in den Mund gelegt werden, spiegeln ausdrücklich nicht das Meinungsbild von Rammstein wieder.

Auch eine andere Band wusste offenbar noch nichts von ihrer Verwicklung in den “Rocker-Krieg”, wie dpa schreibt:

Auch die Plattenfirma der Ärzte, Hot Action Records in Berlin, widersprach dem Artikel. Dass Heino auf der Platte den Ärzte-Hit “Junge” zum Besten gibt, habe bei den Punk-Rockern nicht für Aufregung gesorgt, hieß es am Donnerstag. Die Band habe Heino auch nicht mit rechtlichen Schritten gedroht, sollte er ein Video seiner “Junge”-Version herausbringen, wie die Zeitung berichtet hatte.

“Bild”-Reporter Mark Pittelkau hatte geschrieben:

Heino-Manager Jan Mewes: “‘Die Ärzte’ drohten Heino mit einer sechsstelligen Schadenersatz-Klage, falls er sein bereits produziertes Musik-Video ‘Junge’ veröffentlicht.”

Ein solches Video können Sie natürlich bei Bild.de sehen.

Mit Dank auch an die vielen, vielen Hinweisgeber!

Rieplsches Gesetz, Günther Jauch, Pennies

6 vor 9

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1. “100 Jahre Riepl’sches Gesetz”
(journal21.ch, Urs Meier)
“Etliche Veränderungen in der Medienwelt” setzen das Rieplsche Gesetz ins Unrecht, findet Urs Meier, der sich mit dem 1913 erschienenen Werk “Das Nachrichtenwesen des Altertums” (digitalis.uni-koeln.de, PDF-Dateien) von Wolfgang Riepl beschäftigt. “So gibt es (ausser in folkloristischem Gebrauch) keine Boten und Ausrufer mehr, Telegraphen haben ausgedient, die frühen Online-Medien Videotex/Bildschirmtext/Minitel sind verschwunden. Die hoch gegriffene Bezeichnung ‘Gesetz’ ist eigentlich nicht zu halten.”

2. “Warum ich blogge”
(blog.zeit.de/joerglau)
Als Blog-Betreiber ist man sehr exponiert, schreibt Jörg Lau. “Fehler, Meinungsumschwünge, Inkonsistenzen werden einem gnadenlos vorgehalten. Ist schon in Ordnung: Es schärft die Selbstwahrnehmung. Man muss sich dann öfter entscheiden, auch gegen den Mainstream bei einer Position zu bleiben. Oder aber einzuräumen, dass man sich getäuscht hat, oder von einem Eindruck aus der Kurve getragen wurde. Lernen auf offener Bühne ist schmerzhaft und greift die natürliche Eitelkeit an, ohne die sich niemand derart exponieren würde.”

3. “Wie lausig sind die Pennies eigentlich?”
(lousypennies.de, Karsten Lohmeyer)
Karsten Lohmeyer fragt einige Internetpublizisten nach ihrem Einkommen.

4. “Im Namen von BILD.de ergeht folgendes Urteil: Die Privatsphäre des Axt-Killers von Michelau wird aufgehoben!”
(mediensalat.info, Ralf Marder)
“Ihre Privatspähre ist uns sehr wichtig” ist neben einem Bild.de-Foto zu lesen, das einen aus der Ferne fotografierten Rentner zeigt, der in ein Wohnheim eingeliefert wird.

5. “Hiddensee – Drohungen gegen Reporter”
(ndr.de, Video, 5:18 Minuten)
Eine 16-jährige Journalistin einer Schülerzeitung wird telefonisch bedroht, nachdem sie ein Interview mit einem Bürgermeister veröffentlicht.

6. “Günther Jauch setzt die 6-Tage-Regel durch”
(daniel-bouhs.de)
Wer entscheidet, wie lange die Talkshow “Günther Jauch” in der ARD-Mediathek zu sehen ist? Günther Jauch.

Die nächste Zarah Neander

Es ist eine Geschichte epischer Tragweite, daran ließ der “Spiegel” in seiner Ausgabe vom 14. Januar gar keine Zweifel. Schon in der Ankündigung auf Seite 5 fährt das Nachrichtenmagazin die ganz großen Geschütze auf:

Ein Biologe spielt Gott — Seite 110

Mit Hilfe der synthetischen Biologie will George Church Neandertaler klonen und virusresistente Menschen schaffen. “Die Technik schreitet so rasant voran wie noch nie”, sagt der amerikanische Genforscher im SPIEGEL-Gespräch.

Das Gespräch beginnt dann auch direkt mit der spannenden Frage nach der Rückkehr der Neanderthaler:

SPIEGEL: Herr Church, Sie kündigen an, schon bald werde es möglich sein, Neandertaler zu erschaffen. Was heißt “bald”? Werden Sie es noch erleben, dass ein Neandertaler-Baby geboren wird?

Church: Das hängt von verdammt vielem ab, aber ich denke trotzdem, die Antwort lautet: “Ja”. Denn die Technik schreitet so rasant voran wie noch nie. Vor allem kostet das Lesen und Schreiben von DNA heute nur noch ein Millionstel dessen, was es noch vor sieben, acht Jahren gekostet hat. Allerdings müssten wir, um die Ausrottung des Neandertalers rückgängig zu machen, das Klonen von Menschen erproben. Technisch dürfte das möglich sein. Wir können lauter Säugetiere klonen, warum also nicht auch den Menschen?

Im Folgenden werden die Fragen verhandelt, ob es überhaupt wünschenswert sei, den Neandertaler wiederauferstehen zu lassen (“Nur wenn sich ein gesellschaftlicher Konsens darüber herstellen lässt”), worin der Nutzen liegen könnte (“Vielleicht denken die Neandertaler völlig anders als wir”) und ob die “Wiedergeburt von Neandertalern” technisch überhaupt möglich sei (anscheinend schon).

Dann kommt die entscheidende Frage:

SPIEGEL: Und als Leihmutter suchen Sie sich einen “besonders abenteuerlustigen weiblichen Menschen”, wie Sie in Ihrem Buch schreiben?

Church: Ganz genau – vorausgesetzt natürlich, dass das Klonen von Menschen von der Gesellschaft akzeptiert würde.

Was diese dünnen Worte im Zeitalter von Castingshows in Journalistengehirnen anrichten können, zeigte sich alsbald: Die britische “Daily Mail” schrieb am Sonntag, der Forscher “sucht eine Mutter für ein geklontes Höhlenmenschenbaby” und führte aus:

Man hält sie normalerweise für eine brutale, primitive Spezies.

Welche Frau würde also ein Neanderthaler-Baby zur Welt bringen wollen?

Und dennoch ist dieses Szenario der Plan von einem der weltweit führenden Genetiker, der eine Freiwillige sucht, die ihm dabei hilft, diesen lange ausgestorbenen nahen Verwandten des Menschen wieder zum Leben zu erwecken.

Professor George Church von der Harvard Medical School glaubt, er könne die Neanderthaler-DNA rekonstruieren und die Spezies wiederauferstehen lassen, die vor 33.000 Jahren ausgestorben ist.

(Übersetzung von uns.)

Und weiter:

Er sagt: “Nun brauche ich einen abenteuerlustigen weiblichen Menschen.

Es hängt von verdammt vielen Dingen ab, aber ich denke, man kann das machen.”

(Übersetzung von uns.)

Damit war die Geschichte natürlich noch einmal bedeutend spannender, als sie im “Spiegel” und in der Zusammenfassung bei “Spiegel Online” gewesen war, wo sie – trotz der reißerischen und irreführenden Titelzeile “Genforscher George Church will Neandertaler klonen” – von deutschen Boulevard-Journalisten noch ignoriert worden war.

Der “Berliner Kurier” titelte gestern:

Leihmutter soll Neanderthaler gebären

Dem Kölner “Kurier”-Schwesterblatt “Express” gelang es wie üblich, das Thema auf eine lokale Ebene herunterzubrechen:

Leihmutter für Neanderthaler-Baby gesucht! Harvard-Professor will Steinzeit-Rheinländer züchten

Beide Zeitungen berichten übereinstimmend, George Church glaube, “dass er Neandertaler wieder zum Leben erwecken kann”. Das hatten zwar die “Daily Mail” und nach ihr viele andere Medien in aller Welt behauptet, Professor Church jedoch offensichtlich nie.

Der Wissenschaftler sah sich also genötigt, via “Boston Herald” klarzustellen, dass er persönlich keinerlei Ambitionen hege, einen Neanderthaler zu klonen:

“Ich befürworte das sicherlich nicht”, sagte Church. “Ich sage nur, wenn es eines Tages technisch möglich ist, müssen wir heute anfangen, darüber zu reden.”

Church sagte, er sei nicht einmal an der Sequenzierung von Neanderthaler-DNA beteiligt — einem Projekt, von dem Wissenschaftler sagen, dass es geholfen habe, festzustellen, dass moderne Menschen tatsächlich Spuren ihrer entfernten, menschenähnlichen Vorfahren tragen.

[…]

Church sagte, er habe in mehr als 20 Jahren vermutlich 500 Interviews geführt und dies sei das erste, das derart aus dem Ruder gelaufen sei.

(Übersetzung von uns.)

Stunden, nachdem Professor Churchs Richtigstellung für Jedermann lesbar im Internet erschienen war, nahm sich endlich auch Bild.de des Themas an:

LEIHMUTTER FÜR IRRES EXPERIMENT GESUCHT: US-Genforscher will Neandertaler züchten!

Die Bild.de-Autoren zitieren zwar ausgiebig aus dem “Spiegel”-Interview, scheinen aber nicht bemerkt zu haben, dass Church dort gar nicht behauptet, er selbst wolle “einen Menschen erschaffen, der gegen alle bekannten Krankheiten immun ist – indem er einen Neandertaler klont!”

Der “Berliner Kurier” hat für seine heutige Aufgabe indes sogar richtiggehend recherchiert und mehrere Wissenschaftler aufgetan, die Churchs “Pläne” scharf kritisieren. Nur Churchs eigener Widerspruch bleibt unerwähnt.

Mit Dank an Erwin P., Christian P. und Basti.

VDZ, Konvergenz, @russian_market

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1. “Gerücht über Weidmann-Rücktritt lässt Eurokurs fallen”
(faz.net, Stefan Ruhkamp)
Ein vom Twitter-Konto @russian_market verbreitetes Gerücht, der Präsident der deutschen Bundesbank, Jens Weidmann, sei zurückgetreten, führt zu einem zwischenzeitlichen Einbruch des Euro. “Der Euro sackte am Morgen gegen zehn Uhr für kurze Zeit um einen Cent auf 1,3250 Dollar je Euro ab.”

2. “Konvergenz ist keine Strategie”
(blogs.tageswoche.ch, Peter Sennhauser)
Konvergenz sei in Medienhäusern “nicht viel mehr als eine organisatorische Anpassung, welche die eilends geschaffenen zusätzlichen Online-Redaktionen mit der traditionellen, dominanten und prestigeträchtigeren Print-Redaktion verheiraten soll”, schreibt Peter Sennhauser. “Diese Massnahme greift aber genau deswegen zu kurz, weil sie die Tradition des behäbigen Print-Journalismus mit all seinen Abläufen und Gewichtungen auf eine neue Plattform hievt (was sich nicht zuletzt darin zeigt, dass NZZ, Tages-Anzeiger und 20Minuten alle den Print-Chefredaktor zum Chefredaktor der konvergenten Redaktion erkoren haben).”

3. “‘geschwätz’ ins netz stellen”
(wirres.net, Felix Schwenzel)
Felix Schwenzel schreibt über den “Spiegel-Online”-Artikel “Familie Schmidt in Nordkorea: Alles sehr merkwürdig”, der sich seinerseits mit einem Text der 19-jährigen Sophie Schmidt befasst.

4. “Verleger gegen EU-Überwachung: ‘Mit freier Presse nicht vereinbar'”
(faz-community.faz.net, Jan Hauser)
Deutsche Verlegerverbände wenden sich gegen Vorschläge zu einer Medienüberwachung: “Für den Zeitschriftenverlegerverband VDZ lässt die Sicht des Berichts auf Pressefreiheit aufhorchen: Man beklage politische Einflussnahme und übe sie gleichzeitig aus. Man setze auf staatliche Co-Regulierung statt auf Selbstregulierung. ‘Seit wann braucht freie Presse eine Zulassung, die entzogen werden könnte?’, sagte ein Verbandssprecher dieser Zeitung. Wer Lizenzen vergeben möchte, übe Kontrolle aus, teilte der BDZV mit. ‘Der Weg zu staatlicher Zensur ist dann nicht mehr allzu weit.'”

5. “Lügen fürs Leistungsschutzrecht (3)”
(stefan-niggemeier.de)
Der Verband der Zeitschriftenverleger (VDZ) “erfindet im Kampf für ihr eigenes Gesetz ein parlamentarisches Votum, das es nicht gibt, um die angeblichen Unwahrheiten und die Demokratiefeindlichkeit von Google anzuprangern” (und korrigiert sich nach Kritik daran).

6. “Commenters, We Want You Back”
(techcrunch.com, englisch)
Vor rund zwei Jahren lagerte TechCrunch seine Kommentare an Facebook aus. “Now (…) we’ve decided we’re going to try out Livefyre instead of Facebook Comments.”

Ataroids

Es gibt keinen Zweifel: Die Marke Atari ist eine Legende. Und so ist es kein Wunder, dass sich am Montag viele Medien der Nachricht widmeten, dass — mal wieder — ein Unternehmen mit dem Namen Atari in finanzielle Schieflage geraten ist. Doch wie bei vielen Legenden ist es nicht einfach den wahren Kern zu erblicken.

Zum Beispiel bei Welt Online

Der Computerspiele-Pionier Atari hat einen Insolvenzantrag für sein Geschäft in den USA gestellt. Das mehr als 30 Jahre alte Unternehmen, dass mit Spielen wie Pong oder Asteroids einst an den Anfängen der Computerspiele-Industrie stand, will sich unter Schutz vor seinen Gläubigern sanieren.

Und bei Spiegel Online:

Mit “Pong” und “Asteroids” wurde er berühmt, jetzt hat der legendäre Computerspielhersteller Atari für sein US-Geschäft Insolvenz angemeldet. Die Firma soll nun mithilfe neuer Investoren saniert werden und hofft auf eine Zukunft mit mobilen Spielen.

Alleine: Mit dem Hersteller von Pong und Asteroids hat das jetzt in die Insolvenz gegangene Unternehmen wenig zu tun. Wie auch Spiegel Online zum 40. Jubiläum der Marke selbst feststellte: Das eigentliche Unternehmen Atari existiert schon lange nicht mehr.

Markenname und andere Bestandteile der Spielelegende wurden mehrfach weiterverkauft. Was sich heute Atari nennt, stammt von der Firma GT Interactive ab, die nach einer Reinkarnation als Infogrames schließlich die Namensrechte an Atari kaufte und sich umbenannte.

Den Vogel 8-Bit-Gorilla schoss aber mal wieder Bild.de ab. Der Witschaftsticker titelte hier so:

Screenshot: Bild.de

Donkey Kong ist in der Tat ein Spiele-Klassiker — er stammt aber von Nintendo.

Mit Dank an Alexander A., Tobias T. und Matthew L.

Nachtrag, 23. Januar: Bild.de hat die Bildunterschrift geändert in “‘Donkey Kong’ – der Spiele-Klassiker von Nintendo auf der Atari-2600-Konsole.”

Hohlspiegel, Ökozid, EU-Berater

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1. “Hinter den Kulissen des Hohlspiegels”
(spiegel.de, Hohlspiegel-Team)
Die meisten Hinweise für die 65 Jahre alte Rubrik “Hohlspiegel”, zu finden jeweils auf der letzten Seite des “Spiegel”, kommen von Lesern: “Über hundert Vorschläge erreichen uns jede Woche als E-Mail, Fax oder ganz traditionell als Brief, die betreffende Passage liebevoll ausgeschnitten und mit handschriftlichen Markierungen und Hinweisen versehen.”

2. “Anatomy of a cock-up: how the People’s fake Roger Moore interview made it to New Zealand”
(newstatesman.com, Alex Hern, englisch)
Ein Interview mit Roger Moore, das nie stattgefunden hat, verbreitet sich über die “Daily Mail” und die “Australian Associated Press” bis nach Neuseeland.

3. “Made a mistake? Advice for journalists on online corrections”
(journalism.co.uk, Rachel McAthy, englisch)
Greg Brock, Steve Buttry und Craig Silverman geben Tipps zur Korrektur von Fehlern.

4. “Die tragische Bluttat von Michelau aus der Sicht von BILD.de”
(mediensalat.info, Ralf Marder)
Bild.de berichtet über einen Prozess vor dem Landgericht Coburg: “Doch wie ist es eigentlich um eine mögliche Schuldunfähigkeit des Angeklagten bestellt? Bei BILD.de erfährt der Leser darüber nichts.”

5. “EU-Berater wollen Medien stärker überwachen”
(faz.net, Nikolas Busse)
Der Bericht “A free and pluralistic media to sustain European democracy” (ec.europa.eu, PDF-Datei) gibt eine Reihe von Empfehlungen zur europäischen Medienlandschaft ab und will damit eine Debatte eröffnen. Auf Seite 7 heißt es beispielsweise: “Media councils should have real enforcement powers, such as the imposition of fines, orders for printed or broadcast apologies, or removal of journalistic status. The national media councils should follow a set of European-wide standards and be monitored by the Commission to ensure that they comply with European values.”

6. “Ahnungslose Journalisten in der Ökokrise”
(swr.de, Sonja Striegl)
Für das Buch “Die vierte Macht” führte Dirk Fleck 25 Interviews mit deutschen Top-Journalisten, um “eine Debatte über den Umgang mit dem drohenden Ökozid” anzuregen. Doch: “Die Medien, und insbesondere die, in denen die Leute arbeiten, haben dieses Buch totgeschwiegen.”

taz, taz.de  

Alte Kotze, neu erbrochen

Deniz Yücel hat bei der “taz” ungefähr den Posten inne, den bei “Bild” Franz Josef Wagner, beim “Tagesspiegel” Harald Martenstein und bei der “Welt” Henryk M. Broder bekleiden: Er pfeift als Kolumnist auf Politische Korrektheit, Logik oder auch einfach nur Fakten, bricht mit Konventionen und in die Tastatur und gefällt sich als Mischung aus Wutbürger, Stammtischgänger und ADHS-Grundschüler.

Vom Deutschen Presserat bekam Yücel im Dezember eine “Missbilligung”, weil er über Thilo Sarrazin geschrieben hatte:

So etwa die oberkruden Ansichten des leider erfolgreichen Buchautors Thilo S., den man, und das nur in Klammern, auch dann eine lispelnde, stotternde, zuckende Menschenkarikatur nennen darf, wenn man weiß, dass dieser infolge eines Schlaganfalls derart verunstaltet wurde und dem man nur wünschen kann, der nächste Schlaganfall möge sein Werk gründlicher verrichten.

(Das mit dem “Schlaganfall” war auch noch sachlich falsch.)

Nach der Landtagswahl in Niedersachsen schreibt Yücel heute einen Abgesang auf den vermutlich scheidenden Innenminister Uwe Schünemann, den er, wie es so seine Art ist, mit “Tschüss, Kotzbrocken!” überschrieben hat.

Yücel bezeichnet Schünemann als “beste[n], weil dümmste[n] Innenminister der westlichen Welt” und führt aus:

Ob Handyverbote für Terroristen, Bundeswehreinsätze gegen Killerspiele oder Fußfesseln für Schulschwänzer, ob Nachtischverbot für Stützeempfänger, Arbeitsdienst für Fünfjährige oder Hymnenpflicht für Blogger – keine Forderung, die zu absonderlich oder zu faschistoid gewesen wäre, als dass Schünemann im Laufe seiner zehnjährigen Amtszeit sie nicht erhoben hätte oder bei der man hätte sicher sein können, dass er sie nicht noch irgendwann erheben würde.

Wer das zweifelhafte Vergnügen hatte, Anfang Juli 2012 Yücels Kolumne über den niedersächsichen Innenminister Uwe Schünemann lesen zu müssen, könnte an dieser Stelle ein Déjà-vu erlitten haben, denn damals hatte Yücel geschrieben:

Ob Handyverbote für Terroristen, Bundeswehreinsätze gegen Killerspiele, Fußfesseln für Schulschwänzer, Knast für Fünfjährige, Nachtischverbot für Stützeempfänger – keine Forderung, die nicht zu abwegig oder autoritär wäre, als dass Schünemann sie nicht schon erhoben hätte oder sie nicht noch erheben würde.

Wenig später fährt Yücel heute fort:

“Lieber ein harter Hund als ein Warmduscher”, sagte er über sich und bekannte sich, um auch mal so etwas wie eine menschliche Seite zu zeigen, zu seiner “Leidenschaft für Gummibärchen”.

Vor einem halben Jahr klang das bei ihm so:

“Lieber ein harter Hund als ein Warmduscher”, sagt er über sich. Und um sich auch mal von einer menschlichen Seite zu zeigen, bekennt er sich auf seiner Homepage zu seiner “Leidenschaft für Gummibärchen” – und spätestens jetzt weiß man, dass die einzige Leidenschaft, zu der so einer fähig ist, der präfaschistische Furor des entfesselten Kleinbürgers ist.

Heute witzelt Yücel vor sich hin:

Doch während andere niedersächsische Politiker später Karriere machten und Bundesminister (Trittin, von der Leyen), Bundesvorsitzende (Rösler, Gabriel), Bundeskanzler (Schröder) oder Wulff (Wulff) wurden, blieb Schünemann in Niedersachsen.

Im Sommer hatte er geschrieben:

Er hadert damit, dass andere niedersächsische Politiker später Karriere machten. Sie wurden Bundesminister (Trittin), Bundeskanzler (Schröder) oder Wulff (Wulff). Nur Schünemann blieb, was er immer war. Und seit dort eine Frau Ö. oder Ü. am Kabinettstisch sitzt, ist er nicht einmal mehr der bekannteste niedersächsische Minister der Welt.

Sogar den – auf Aygül Özkan bezogenen – Umlaut-Kalauer hat er heute an anderer Stelle noch einmal aufgewärmt:

Denn der war kein Dutzendminister in der deutschen Provinz; er ist auch nicht so leicht zu ersetzen wie die andere (zumindest in Fachkreisen) halbwegs bekannte niedersächsische Ministerin, für die sich gewiss eine andere Frau Ö. oder ein Herr Ü. finden lassen wird.

Nun ist es nicht so, dass Deniz Yücel seine gesamte Kolumne aus dem Juli 2012 recycelt hätte: Ein paar Passagen hat er nicht wiederholt — vielleicht, weil er sie zuvor schon einmal wiederholt hatte.

So schrieb er vor einem halben Jahr:

Doch Schünemann genügt sein toller Job in Niedersachsen und die Freizeit, die er im Sportschützen-Club Holzminden vielleicht auch mit ein paar Betriebsräten von VW verbringt, nicht.

Also ziemlich genau das, was er schon im Januar 2006 in der “Jungle World” in einem Text über Schünemann geschrieben hatte:

Doch Uwe Schünemann (CDU) genügen sein toller Job in Niedersachsen und die Freizeit, die er im Sportschützen-Club Holzminden, vielleicht auch mit ein paar Betriebsräten von VW verbringt, nicht.

“taz”, 2012:

Vielleicht wird seiner Ehefrau Ines im Supermarkt hinterhergetuschelt: “Die Ärmste, ihr Mann ist schon bald 50 und immer noch nur Landesminister!” – “Wie sie das bloß aushält?” – “Wenn meiner immer nur so was bliebe, würde ich die Kinder nehmen und gehen.”

Darum gibt Schünemann alles, damit sich seine Frau Ines (47) und die Kinder Milena (17) und Timo (13) nicht für den Papi (sie dürften ihn alle drei so nennen) schämen müssen.

“Jungle World”, 2006:

Mög­lichweise wird im Supermarkt hinter seiner Ehefrau getuschelt: “Die Ärmste, ihr Mann ist nur Landesminister!” – “Wie sie das aushält?” – “Wenn meiner immer nur sowas bliebe, würde ich die Kinder nehmen und gehen.”

Doch Schünemann gibt alles, damit sich seine Ehefrau Ines (40) und die Kinder Timo (6) und Milena (10) für den Papa (vermutlich werden alle drei ihn so nennen) nicht schämen müssen.

So gesehen ist Deniz Yücel doch nicht der Broder oder Wagner, sondern nur der Wolfram Weimer der Linken.

Mit Dank an Michael F. und ungeruehrt.

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