Wer selbst keine Ideen hat, muss sich eben bei anderen bedienen. Das haben nicht nur die “Bild”-Autoren längst erkannt, sondern auch deren Leser.
Die wurden, wie wir gestern berichtet haben, jüngst dazu aufgefordert, Rap-Texte gegen Bushido zu verfassen. Gestern druckte die “Bild”-Zeitung dann stolz ein paar dieser Zeilen ab. Darunter auch diese hier:
(Unkenntlichmachung von uns.)
Der Text kommt Ihnen bekannt vor? Nun, vielleicht, weil Sie ihn schon mal woanders gehört haben:
Und er so: Rap ist doch nur ‘ne Modedroge
So ‘ne Berg- und Talfahrt, so ‘ne Toblerone, ja
Dreh ‘n Clip mit zehn Bitches oben ohne
Und halt dazu ‘n paar homophobe Monologe
Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].
1. “Kirchenkänguru Keuschi ist Hoax” (heise.de, Peter Mühlbauer)
Die Erzdiözese Wien dementiert einen Bericht, der behauptet, die katholische Kirche wolle mit dem Känguru Keuschi Jugendliche für die Enthaltsamkeit vor der Ehe gewinnen. “Wer etwas genauer hinsah, der konnte feststellen, dass bei den Bildcredits nicht nur ‘Erzdiözese Wien’, sondern auch ‘Fotomontage’ stand. Und wer auf den etwas versteckten Link ‘Über uns’ klickte, dem wurde versichert, dass ‘ausnahmslos alle Artikel [auf dem Portal] frei erfunden’ sind. Trotzdem wurde die Meldung auf Facebook und in Tweets massenhaft für bare Münze genommen.”
2. “Der ‘Spiegel’ rafft sich nicht zu einer Aufarbeitung seiner dunklen Aids-Zeit auf” (stefan-niggemeier.de)
Wie der “Spiegel” umgeht mit Kritik an seiner Aids-Berichterstattung in den 1980er-Jahren: “Der ‘Spiegel’ tut so, als gebe er ehrlich die Kritik an sich wieder und beschönigt sie dabei. Mir fiele dazu das Wort ‘unverfroren’ ein, aber vermutlich ist es viel schlimmer: Gedankenlos.”
4. “The Inconvenient Image of Dzhokhar Tsarnaev” (newyorker.com, Ian Crouch, englisch)
Ian Crouch macht sich Gedanken über die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift “Rolling Stone” mit Dzhokhar Tsarnaev auf dem Titelbild. “What is so troubling about this image, and many of the others that have become available since April, is that Tsarnaev really does look like a rock star.”
5. “Gezielter Tabubruch” (dradio.de, Fabian Elsäßer)
Fabian Elsäßer kommentiert die Medienberichterstattung über einen neuen Song von Bushido (BILDblog berichtete): “Die größte Strafe für einen wie Bushido wäre etwas anderes: totale Ignoranz durch diejenigen, die Öffentlichkeit herstellen.”
6. “Vielleicht Dichter” (matthias-schumacher.com)
Wo ist der Dichter geblieben, fragt Matthias Schumacher: “Ja gäbe es noch Dichter, die sich als Dichter verstünden, die weit über das Sich-ins-Fernsehen-einladen-Lassen und Neues-Buch-in-die-Kamera-Halten hinausgingen, die etwas zu sagen hätten, das in noch keinem ihrer Bücher gedruckt wäre und das sie nicht aus verkaufsfördernden Gründen sagen würden. Ja wenn! Ich will daran glauben.”
Sie haben es vielleicht mitbekommen: Bushido ist zurück. Und weil er in einem neuen Song Politiker bedroht und weil gerade Sommerloch ist, drehen die Medien jetzt völlig am Rad.
Die Berichterstattung nimmt aktuell dermaßen besorgniserregende Züge an, dass es Zeit ist, sich den Fall mal etwas näher anzuschauen. Damit wir nicht durcheinanderkommen, fangen wir am besten gleich bei der Wahrheit an:
Zuletzt inszenierte sich Bushido als braver Familienvater. Doch in einem neuen Video bepöbelt und bedroht der Rapper Politiker und Prominente. BILD am SONNTAG enthüllt die abgefeimte Marketingstrategie hinter der Hass-Attacke
Die “Bams”-Reporter sind zu der Erkenntnis gelangt, dass Bushido dieses Video vor allem deshalb veröffentlicht hat, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Und um sein Gangster-Image mal wieder ein bisschen aufzupeppen. Nach der “altbewährten Methode: ‘gut ist, was provoziert'”. Kurzum: Bushido benutze die “Morddrohungen als PR-Masche”.
Im Hause Springer sind sie sich also völlig im Klaren darüber, dass es Bushido “bei der ganzen Sache vor allem um PR geht”. Und trotzdem schenken sie ihm seit Tagen genau das, was er will: Aufmerksamkeit.
Los ging es am Freitag mit dieser Schlagzeile auf Bild.de:
Am Tag darauf legte die gedruckte “Bild” mit einer Titelgeschichte nach:
Im Innenteil sah der Artikel so aus:
Die härtesten Passagen des Songs hat “Bild” natürlich abgedruckt — stilecht samt Einschussloch.
Auch auf Bild.de werden die bösen Zitate ausführlich wiedergegeben, zum Beispiel in diesem Artikel:
(Auf Bild.de waren einige der umstrittenen “Hass-Video”-Passagen bis heute übrigens immer noch zu sehen.)
Am Wochenende schickte “Bild” dann extra zwei Reporter auf Recherchereise in eine “Dorf-Disko”. Dort hatte Bushido nämlich seinen ersten Auftritt “nach der Veröffentlichung seines Skandal-Videos”. Zurückgekommen sind die Autoren mit einem Video des Auftritts (in dem die besonders bösen Stellen säuberlich untertitelt sind), einer neunteiligen Fotostrecke (davon neun Mal Bushido in Aktion) und jeder Menge aufgeschnappter “Hassparolen”, die sie im Artikel ausführlich zitieren:
Dazu gibt’s nochmal die Szenen aus dem Video, eine Umfrage unter Jugendlichen, zwei weitere Fotos (einmal Bushido, einmal Bushido und Shindy) und die Einschätzung eines Rechtsexperten.
Am Montag folgte dann die nächste Titelgeschichte der “Bild”-Zeitung, Kategorie: Höchstform.
Und selbst Franz Josef Wagner richtete am Montag seinen Brief an die “dumme Wurst” Bushido, obwohl es seiner Meinung nach ja eigentlich mehr Sinn machen würde, “an Brüllaffen oder lärmende Frösche zu schreiben”. Das Video sei jedenfalls “so eklig, wie Ratten essen”.
Gestern musste sich Bushido zwar mit etwas weniger Platz auf der Titelseite der “Bild”-Zeitung zufrieden geben, im Innenteil spendierte ihm das Blatt aber erneut einen großen Artikel:
Und so dreht sich bei “Bild” seit Tagen und auf allen Kanälen alles nur um einen. Und Bushido selbst lacht sich währenddessen ins Fäustchen — wenn er denn eine Hand frei hat:
In einem Fernseh-Interview sagte er am Montag, das Album sei mittlerweile “in den Trends auf Platz 1”. Aus “Geschäftsmann-Perspektive” sei die Sache also “super gelaufen”.
Aber Bushido ist schon lange nicht mehr der Einzige, der den “Wirbel” um den Song als “PR-Masche” nutzt.
Die “Bild”-Zeitung macht es im Grunde genauso. Nur eben auf ihre Weise. Das ist spätestens seit dieser Aktion klar:
BILD.de veröffentlicht die besten Ideen. Zusätzlich darf sich der kreativste Kopf über eine Belohnung von 1000 Euro freuen.
Jetzt geht sie erst richtig los, die wilde Fahrt auf dem Trittbrett: Die Leser werden dazu aufgefordert, zurückzuschlagen. Auf die Idee muss man erst mal kommen. Die “BundesRAPublik” ließ sich jedenfalls nicht lange bitten und schickte “tausende Texte, Videos und Audio-Dateien” an die Redaktion, wie “Bild” heute stolz mitteilte:
(Unkenntlichmachung von uns.)
In den veröffentlichten “Raps” findensich dann solche Zeilen:
Guten Tag Bushido, Seit wann bist du denn Salafist? Dein Gandalf-Bart ist echt der letzte Mist.
Oder solche:
Bildleser zersägen dich wie eine Fräse, und jetzt kriegst DU Löcher wie ein Schweizer Käse!
Oder solche:
[…] die Zunge dir in den Hals zu stecken, du kannst mich mal an meinem schwulen Arschloch lecken.
Den vorläufigen HöheTiefpunkt dieser irrsinnigen Geschichte lieferte aber ein ganz besonderer Pöbel-Poet:
Sprechen möchte der Kolumnist nicht mit Bushido, aber auf die Bitte von BILD hat Franz Josef Wagner den Brief vorgelesen, seine Stimme wurde mit Musik unterlegt. Wagners erster eigener Rap – im VIDEO oben!
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1. “my open letter to the daily mail” (amandapalmer.net, Video, 5:54 Minuten)
Sängerin Amanda Palmer antwortet mit einem Song auf den Artikel “Making a boob of herself! Amanda Palmer’s breast escapes her bra as she performs on stage at Glastonbury” der Boulevardzeitung “Daily Mail”. Siehe dazu auch die Übersetzung des Songtextes (fm4.orf.at).
4. “Fünf Sterne auf Bestellung” (dradio.de, Thomas Otto)
Gefälschte und gekaufte Rezensionen zu Produkten, die im Netz angeboten werden.
5. “Mit Pinocchio online Fakten checken” (de.ejo-online.eu, Federico Guerrini)
Federico Guerrini stellt verschiedene Portale vor, auf denen Fakten geprüft werden. “Auch die Art und Weise, wie Medien über Politik berichten (insbesondere über amerikanische Politik) hat sich durch die Organisationen in den vergangenen Jahren stark verändert. (…) Selbst die Politiker begannen, Faktenchecks selbst als Waffen gegen ihre Kontrahenten einzusetzen, oder als Instrument, um ihre eigenen Aussagen zu bewerben.”
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1. “Darf man Bushido ein Arschloch nennen?” (vocer.org, Ralf Höcker)
In Fällen wechselseitiger Beschimpfungen winken Staatsanwälte ab, “wenn einer der beiden Pöbler Anzeige erstattet. Die Staatsanwälte erheben keine Anklage, sondern betrachten das Verhalten der Betroffenen als milieutypische Entgleisungen, also als Unhöflichkeiten ohne ehrverletzenden Inhalt oder jedenfalls ohne ernsthafte strafrechtliche Relevanz.”
2. “‘Anzeigen werden im Laufe der nächsten zehn Jahre verschwinden'” (persoenlich.com, Edith Hollenstein)
Detlef Gürtler denkt nach über Zukunft und Finanzierung des Journalismus: “War bis anhin ein Verlag für die Weiterverbreitung von Inhalten zwingend nötig, ist die heute nicht mehr so. Die Verlage verschwinden. Die Medienbranche lässt sich heute also nicht mehr mit der Ölbranche vergleichen, sondern eher mit der Wasser-Industrie. Jeder kann daran teilnehmen. Einerseits kann jeder Einzelne eine Regentonne im Garten aufstellen und damit das eigene Wasser gewinnen. Andererseits gibt es riesige Konzerne, wie z.B. Néstle, die das Geschäft mit dem Wasser professionalisiert haben.”
3. “Fall Snowden und die US-Medien: Gleichschritt der Mitläufer” (spiegel.de, Marc Pitzke)
Vermehrt kritisieren US-Medien nicht die Enthüllungen zum NSA , sondern die Enthüller. “Snowden in Moskau, Greenwald in Rio: Nicht die immer neuen Details dieses scheinbar endlosen Skandals beherrschen die US-Schlagzeilen – sondern ihre Überbringer.”
4. “Beim Krimi-Gucken Spannungen abbauen” (dradio.de, Thomas Hauschild)
Ethnologe Thomas Hauschild beschäftigt sich mit dem Abbau von aggressiven Spannungen durch den Konsum von TV-Krimis: “Viele Leute mögen das ja, wenn zum Beispiel reiche Leute dann als besonders verwerflich erscheinen, letztendlich sehr hinterhältig, oder manche werfen auch gerne einen Blick in das Rotlichtmilieu und wenden sich dann belehrt, aber auch doch wieder angewidert ab – also, da gibt es ganz viele Spielzüge, die man machen kann in diesen Fällen.”
5. “Journalisten und Geschenke: Jeder ist käuflich!” (deutsche-startups.de, Thomas Keup)
Thomas Keup, “langjähriger PR- und Social-Media-Specialist”, glaubt, dass jeder Blogger und Journalist käuflich ist: “Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft. Und dafür gibt es einen ganzen Katalog von Aufmerksamkeiten in der Pressearbeit – von legal bis … egal.”
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1. “Das unfassbare Leben einer Kriegsreporterin” (welt.de, Francesca Borri)
“Die Welt” übersetzt einen Artikel von Kriegsreporterin Francesca Borri: “In der Welt wird das Geschehen in Syrien instinktiv als ‘dieses Chaos’ beschrieben, denn niemand hat den Konflikt verstanden – nur Blut, Blut, Blut. Deswegen können die Syrer uns nicht mehr ertragen. Denn wir zeigen der Welt Bilder wie das eines siebenjährigen Mädchens mit einer Zigarette und einer Kalaschnikow. Es ist eindeutig, dass es ein arrangiertes Foto ist, aber es tauchte im März in Zeitungen und auf Webseiten auf, und jeder schrie: ‘Diese Syrer, diese Araber, was sind das für Barbaren!'”
2. “Halle Berry und der Wunsch nach Ruhe” (sueddeutsche.de, Jürgen Schmieder)
Ein Gesetzvorschlag will in Kalifornien Kinder davor schützen, “aufgrund der Tätigkeit ihrer Eltern belästigt zu werden”.
3. “Bereit, aber nicht gebraucht” (jan.twoday.net)
Jan Söfier vergleicht Studienzeit und Alltag im Journalismus: “Im Studium hatten wir sehr viele sehr tolle Sachen gemacht. Nur: Mit dem Arbeitsalltag in den meisten Online-Redaktionen hatte das wenig zu tun. Da gab es nur den Content-Drill. Möglichst schnell, möglichst viel Content durchschleusen – und für diesen Nachrichten-Stress war ich dann doch nicht vorbereitet.”
4. “Relevanz – online darstellen” (swissreporter.ch)
Peter Sennhauser beschäftigt sich mit der Frage, welche Nähe und welcher Betrachtungszeitraum für die Platzierung der Meldungen auf Newssites maßgebend ist: “Den Redaktionen ist bei der Einschätzung die Dimension ‘Betrachtungzeitraum’ abhanden gekommen: Sie haben keinen Redaktionsschluss und damit keine Publikationspanne mehr. Also behelfen sie sich mit dem neuen Schlagwort der Echtzeit.”
5. “Vorgestellt: Top-Themen 2013” (derblindefleck.de)
Die Jury der Initiative Nachrichtenaufklärung (INA) wählt zehn “von den Medien vernachlässigte Themen und Nachrichten im Jahr 2013”.
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1. “The man behind the great Dickens and Dostoevsky hoax” (guardian.co.uk, Stephen Moss, englisch)
Stephen Moss besucht AD Harvey, der ein angebliches Treffen zwischen Charles Dickens und Fjodor Michailowitsch Dostojewski im Jahr 1862 erfunden hatte. Siehe dazu den sehr ausführlichen Artikel “When Dickens met Dostoevsky” (the-tls.co.uk, Eric Naiman, 10. April, englisch).
2. “Sehnsucht nach dem guten König” (begleitschreiben.net, Gregor Keuschnig)
Was passiert eigentlich, wenn der Intellektuelle überrascht, fragt Gregor Keuschnig. “Klopfen dann nicht die gleichen, die das Engagement des Intellektuellen mit Verve gefordert haben, die entsprechenden Äußerungen auf ihre eigene Meinung ab? Und was passiert, wenn dies dann nicht mit dem längst vorgebildeten Urteil der Redaktion, der Partei, der NGO übereinstimmt? Mindestens winkt dann das Etikett ‘umstritten’, wenn nicht gar noch Schlimmeres: Der Ausstoß aus dem mehr oder weniger exklusiven Club der gutmeinenden Welterklärer.”
3. “‘Kate: Das Baby ist da!'” (tagesspiegel.de, Fritz Habekuß)
Schlagzeilen der deutschsprachigen Regenbogenpresse: “Als ‘der neue Mann an Heidi Klums Seite’ wurde Ralf Höcker Lesern einmal vorgestellt. Was daran stimmte: Höcker ist ein Mann. Und neu an der Seite der Moderatorin. Unterschlagen wurde: Er war nur ihr neuer Medienanwalt.”
4. “movie2k-Aus: Diese Portale protifieren” (meedia.de, Jens Schröder)
Die Streaming-Website Movie2k.to hatte etwa so viele Besucher wie Bild.de oder Spiegel.de. Jens Schröder versucht herauszufinden, wer davon profitierte, als die Plattform im Mai offline ging. “Die Fans der illegalen Portale werden im Umkehrschluss nicht auf legale Plattformen wechseln, so lang es dort eben nicht die neuesten Filme gibt.”
5. “Endlich raus aus dem Sachsensumpf” (taz.de, Michael Bartsch)
Thomas Datt und Arndt Ginzel werden rechtskräftig freigesprochen: “Beide Journalisten waren 2008 wegen übler Nachrede angeklagt worden. Es ging um zwei Beiträge in Spiegel und in Zeit online, in denen in Frageform die möglichen Verstrickungen sächsischer Justizbeamter in Leipziger Korruptionsnetzwerke beleuchtet wurde.”
6. “protestwahl” (wirres.net, Felix Schwenzel)
Die Bundestagswahl 2013: Felix Schwenzel hat sich entschieden, “das erste mal in meinem leben nicht wählen zu gehen”. “dann habe ich aber weiter drüber nachgedacht und mich erinnert, dass die enthaltung meistens genau die falschen stärkt. (…) deshalb wähle ich am 22. september die piratenpartei. nicht weil ich ihnen zutraue wirklich etwas zu ändern oder zu entern, nicht weil ich glaube, dass sie bald zu sinnen kommen und sich nicht mehr selbst oder gegenseitig zerreiben, sondern weil sie ein symbol dafür sind, dass sich etwas ändern muss und wir uns auf unsere demokratischen wurzel zurückbesinnen sollten. wer glaubt dass das naiv ist hat möglicherweise recht.”
Die Online-Redakteure des “Hamburger Abendblatts” sind entsetzt, als sie diese Zeilen schreiben.
Die Mitglieder des Kulturvereins “MaLiMu” sind entsetzt, als sie vor dem Glashütter Kulturhaus […] stehen. Auf der gerade im vergangenen Jahr frisch gestrichenen Wand neben dem Eingang prangt in mannshohen schwarzen Lettern eine hässliche Nazi-Schmiererei. “Hools 1887”.
Mutmaßlich sind die Täter Hooligans – Menschen, deren Freizeitbeschäftigung darin besteht, sich mit Gleichgesinnten zu prügeln oder anderweitig Randale zu machen. Mit den Ziffern “1887” geben die schlichten Gesellen ihrer Nazi-Gesinnung Ausdruck. Die Ziffern stehen für die Buchstaben im Alphabet. Mit diesem Code lassen sich aus “1887” zum Beispiel die Initialen von Adolf Hitler, Heinrich Himmler und Hermann Göring bilden.
Und wer richtig clever ist, der kann aus den Ziffern “1887” sogar das Gründungsjahr des Hamburger SV bilden. Aber das ist nichts für schlichte Gesellen.
Mit Dank an Seppl und Till.
Nachtrag/Korrektur, 12. Juli: Gar nicht mal so clever muss man hingegen sein, um zu erkennen, dass der Artikel schon 2008 veröffentlicht wurde. Wir haben’s trotzdem übersehen und kommen deshalb leider einige Jahre zu spät. Wir bitten, diesen Fehler zu entschuldigen.
“Sei cool, fang’ an zu rauchen” wäre im Jahr 2013 in der Tat ein durchaus gewagter Slogan.
Stellt sich dann aber raus, dass “Sei cool, fang’ an zu rauchen” gar nicht der Claim einer “aktuellen Kampagne” ist.
Otmar Wiestler sagt im Interview:
Eine Auswertung der Don’t-Be-A-Maybe-Kampagne von Philip Morris zeigt, dass sie junge Menschen anspricht. Nach dem Motto: sei cool, verhalte dich nicht wie die anderen und fang’ an zu rauchen!
Die Bedeutung von Anführungszeichen ist Journalisten offenbar nicht mehr ganz so geläufig.
“Spiegel Online” hat sich aber auch schon korrigiert.
Also: Nicht wegen der Slogan-Nummer, aber wegen eines anderen Fehlers.
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Interviews stand fälschlicherweise, dass es den Philip-Morris-Forschungspreis der Philip Morris Stiftung noch immer gibt. Tatsächlich gibt es ihn seit 2008 nicht mehr. Wohl aber die Philip Morris Stiftung, die jährlich mit 100.000 Euro ausgewählte wissenschaftliche Projekte finanziert. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.
Nachtrag, 12. Juli: “Spiegel Online” hat eine weitere Anmerkung der Redaktion ans Ende gesetzt:
In einer früheren Version des Teasers hieß es, mit den Worten “Sei cool, fang’ an zu rauchen” animiere eine aktuelle Kampagne junge Leute zum Griff zur Zigarette. Das ist falsch, es gibt keine Kampagne, die diese Worte verwendet. Vielmehr sollte das Zitat sinngemäß eine Aussage des Interviewpartners wiedergeben, der eine aktuelle Kampagne interpretiert hat. Wir haben beide Fehler korrigiert und bitten, sie zu entschuldigen.
Der Vorspann beginnt jetzt so:
Rauchen ist cool – so die sinngemäße Aussage einer aktuellen Kampagne, die auf junge Leute abzielt.
Wir werden angegriffen. Eine grausame Splittergruppe von Extremistinnen mit perversen Fantasien und gewaltigem Manipulationsvermögen ist auf dem besten Wege, die Weltherrschaft an sich zu reißen. Und wir lassen es ahnungs- und tatenlos geschehen.
So in etwa kann man den Text von Bettina Röhl zusammenfassen, der am Dienstag auf der Internetseite der “Wirtschaftswoche”erschienen ist. Er heißt:
Es geht um jenen Kreis von Menschen, den Bettina Röhl die “Gender-Mafia” nennt. Wahlweise auch die “Gender-Fanatiker”, die “Gender-Fighterinnen” oder die “Kreuzritterinnen der Gender-Ideologie”.
Zwar weiß die Autorin selbst nicht so genau, was dieses “Gender” überhaupt bedeutet, aber eines weiß sie umso besser: Dass es böse ist. Verdammt böse.
Was Gender wirklich ist, weiß Niemand so ganz genau. Dass Gender eine unwissenschaftliche, die Realität ganz offensichtlich auf den Kopf stellende, fanatische Ideologie einer Minderheit ist, die die Mehrheit in ihren Zangengriff genommen hat, aus dem es kein Entrinnen mehr gibt, steht fest.
“Die Gender-Ideologie” sei “in Wahrheit ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit”, ihre Ziele seien “größenwahnsinnig”, “grausam” und “unmenschlich”, zuweilen gar “widernatürlich, verfassungsbrechend und kriminell”. Sie sei “die schmutzige Phantasie von einer kleinen Clique von Extremistinnen, die von der Frauenweltherrschaft, gemeint ist ihre persönliche Weltherrschaft, träumen.”
Es geht noch ewig so weiter. Ein 19.000 Zeichen langes Thesenfeuerwerk, das uns von zwei Dingen überzeugen soll.
Punkt 1, wie gesagt: Gender sei böse, denn die Gesellschaft werde entmännlicht. Im Übrigen kein neues Thema für Bettina Röhl: Schon vor acht Jahren befürchtete sie, der Mann könne vom “lautlos heranrollende[n] Tsunami namens ‘Gender Mainstreaming'” fortgespült werden.
Punkt 2: Gender gewinne an Macht.
“Gender Mainstreaming”, schreibt Röhl, sei “geistige Brandstiftung” und “eine menschenverachtende Fiktion, die nicht trotz dieser Tatsache, sondern mutmaßlich wegen ihres Irrsinns so grausam erfolgreich ist”.
Diesen grausamen Erfolg, diese “Machteroberung durch die Gender-Ideologie” macht Bettina Röhl an einem ganz bestimmten Ereignis fest. Ohnehin ist dieses Ereignis das einzige konkrete Beispiel im gesamten Artikel, der einzige Beleg, den Bettina Röhl anführt, um ihre wilde These von der “Entmännlichung unserer Gesellschaft” zu untermauern.
Und dieses Ereignis liest sich so:
An der Universität Leipzig wird seit kurzem ein (männlicher) Professor mit Herr Professorin angesprochen. Die Gender-Ideologen blasen zum Angriff auf die Sprache und leiten damit einen neuen Orbitalsprung bei der Durchgenderung der Gesellschaft ein.
Das ist er also, der große Erfolg der “Gender-Mafia”, der Meilenstein des Extremfeminismus: Herr Professorin!
Der Herr Professorin, die neue Anrede von Professoren an der Universität Leipzig und nun auch Potsdam, ist kein Scherz, keine Satire. Ironie ist Ideologen unbekannt, das gehört förmlich zur Definition von Ideologie dazu. Es handelt sich auch nicht um einen bloße Volte des Schicksals. Vielmehr wird hier ein Orbitalsprung im Wachstum der Genderkrake exemplarisch sichtbar.
Der Angriff auf die Sprache zwecks Manipulation der Realität ist nicht nur eine strategische Variante, sondern wird jetzt mit Macht getestet und voran getrieben. Herr Bundespräsidentin ist nicht mehr so weit entfernt. Und die Erzwingung der Akzeptanz, dass Männerunterdrückung keine Diskriminierung ist, sondern schlimmstenfalls berechtigte Strafe für 20 000 Jahre Männerdominanz […].
Die Professoren, die sich fröhlich Professorin nennen lassen, wissen nicht ganz genau, was sie mit dieser “Akzeptanz” tun und bewirken. Hier geht es ja nicht um einen Gag machen wir es doch zur Abwechslung einfach mal anders herum und machen die weibliche Form zum Gattungsbegriff für beide Geschlechter, sondern es geht im Kontext um die Machteroberung durch die Gender-Ideologie.
So. Und jetzt nochmal für alle. Die Anrede “Herr Professorin”ist ein Märchen! Fiktion! Reine Fantasie! Eine Erfindung der Medien! Sie hat nichts, aber auch gar nichts mit der tatsächlichen Entscheidung der Uni Leipzig zu tun. Und mit der an der Uni Potsdam genauso wenig.
Wenn am “Herrn Professorin” überhaupt irgendetwas “exemplarisch sichtbar” wird, dann ist es ein Orbitalsprung im Wachstum der Recherchefaulheit mancher Journalisten. Und Journalistinnen.
Mit Dank an Kai, Eberhart L. und NaturalBornKieler.