Geheimdienste, Neonazis, Vokabeltest

1. Agent in eigener Sache
(zeit.de, Christian Fuchs)
“Zeitmagazin”-Autor Christian Fuchs hatte das erste Mal das Gefühl, überwacht zu werden, als einer seiner Informanten plötzlich verhaftet wurde. Heute sitzt der auf der Anklagebank im NSU-Prozess. Seitdem brechen Fuchs’ Telefonate manchmal ab. Der Journalist ist inzwischen vorsichtiger, um seine Quellen zu schützen — auch wenn er nicht glaubt, aktiv abgehört zu werden. Was die Geheimdienste über ihn gespeichert haben, hat ihn trotzdem überrascht.

2. “Ich bin kein Einzelfall”
(taz.de, Claudia Hennen)
Vor einem Jahr fand der Dortmunder Journalist Peter Bandermann seinen Namen auf einer Liste im Internet. Neonazis sammelten “insgesamt zehn Personen, die potenziell geeignet sein sollten, dass man vor ihrer Haustür demonstriert.” Kurz darauf wurde seine Adresse veröffentlich, sein Haus mit schwarz-roter Farbe beworfen. Im Februar erschien eine Todesanzeige mit seinem Namen, seitdem gehören anonyme Anrufe, Nachstellungen und Nazi-Post zu Bandermanns Alltag. Davon erzählt er im Interview mit Claudia Hennen. Zum Thema: “Zapp” mit “Pegida und Co. bedrohen Journalisten

3. Der Tag, an dem mir klar wurde, wie egal die “Bild”-Zeitung ist
(rnd-news.de, Ulrike Simon)
Ulrike Simon ist “Bild” egal. Zumindest so egal, dass sie in ihrer Kolumne darüber schreibt, wie egal “Bild” ihr ist. Die Gleichgültigkeit kommt vor allem durch ein Gespräch mit dem Schauspieler Ulrich Matthes: “Sinngemäß und stark verkürzt hatte er gesagt, ‘Bild’ sei ihm zwar unsympathisch, mehr aber noch egal.” Das überzeugte Simon: “Bild” lebe “in einer Parallelwelt. Ihr Verständnis von Prominenz und Relevanz hat mit meinem rein gar nichts zu tun.”

4. Wo die Recherche der Leser an ihre Grenzen stößt
(opinion-club.com, Falk Heunemann)
Das Recherchekollektiv “Correctiv” will zwielichtige Finanzströme bei den 414 deutschen Sparkassen durchleuchten und hat dafür eine “virtuelle Redaktion” aufgebaut, um sich von seinen Lesern helfen zu lassen. Falk Heunemann hält das für ein “nicht nur überfälliges, sondern auch gleich doppelt nützliches Projekt” — sieht aber zwei Probleme und trägt “Correctiv” und der Crowd eine weitere Recherche auf. In den Kommentaren antwortet “Correctiv”-Leiter David Schraven.

5. “Ich kämpfe weiter”
(tagesspiegel.de, Sonja Álvarez)
Ali Anousla drohen wegen seiner Recherchen in seinem Heimatland Marokko bis zu 20 Jahre Haft. Einschüchtern lassen will sich der Journalist allerdings nicht. Im Interview mit Sonja Álvarez spricht er darüber, wie sich seine Texte im Netz verbreiten, wie er seine Arbeit finanziert und mit welchen Mitteln der Staat versucht, ihn verstummen zu lassen.

6. Jugendwort 2015: Hefte raus, Vokabeltest!
(ze.tt, Mark Heywinkel)
Alljährlich sucht Langenscheidt nach dem “Jugendwort des Jahres” — und genauso regelmäßig beschweren sich mittelalte Journalisten, dass junge Leute in Wahrheit doch völlig anders sprechen würden. Mark Heywinkel findet: “Welches Wort die Jury morgen zum Gewinner kürt, ist herzlich egal.” Überhaupt solle man die ganze Sache nicht so ernst nehmen. Deshalb: “Auf zum Vokabeltest: Könnt ihr in der folgenden Geschichte unsere Lieblingsworte der Long- und Shortlist aus 2015 richtig zuordnen?”

“Jede Woche eine neue Zahl”

Heinz Buschkowsky mag die Medien, und die Medien mögen Heinz Buschkowsky. Der ehemalige Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln ist oft in Talkshows, er gibt Interviews, schreibt Gastbeiträge und Bücher. Buschkowsky ist ein zuverlässiger Gast, ein bissiger, aber beherrschter „Klartext“-Redner, Schwerpunkt: Migration, oder eher: Schattenseiten der Migration. Er wirkt besonnen und erfahren, aber schön steil in seinen Thesen, ein bisschen wie Sarrazin ohne die Beklopptheiten.

Buschkowskys Vorteil ist seine Erfahrung, er hat in Neukölln gearbeitet, hat das Multi-Kulti jeden Tag am eigenen Leib gespürt, er hat erlebt, worüber viele andere bloß reden. Darum wird er immer wieder eingeladen, als Kronzeuge quasi, mal hier, mal dort, Heinz Buschkowsky erzählt, und die Medien hören zu. Und widersprechen ihm selten.

Gestern Abend war er zu Gast bei Anne Will im Ersten. Thema der Sendung: „Familiennachzug begrenzen – Unchristlich, aber unvermeidlich?“ Buschkowskys Metier. Für die Islamhasser von „Politically Incorrect“ war er schon vor Beginn der Sendung unter den Gästen die „einzige Hoffnung“ auf eine „kompetente Auseinandersetzung mit dem Asylirrsinn“, und er dürfte sie nicht enttäuscht haben.

Routiniert gab Buschkowsky den Auf-den-Tisch-Packer unbequemer Wahrheiten, warnte vor diesem und jenem und sagte Dinge wie (ab Minute 14:50):

Wir wissen, dass etwa 70 Prozent junge Männer unterwegs sind und kommen, dass die geschickt werden, weil sie die Stärksten sind, um zu schauen, wo es für die Familie eine Bleibe gibt, die besser ist als zu Hause. Das gilt insbesondere für Irak, für Afghanistan …

„70 Prozent junge Männer“? Da war doch was.

Das sind aber mittlerweile 38 Prozent, das verändert sich. Es kommen jetzt auch die Familien.

… erwiderte Simone Peter, Bundesvorsitzende der Grünen, die auch zu Gast war.

Buschkowsky:

Ja, öh, ich will ja gar nicht mit ihnen über Zahlen streiten, weil es gibt jede Woche eine neue Zahl.

Da hat er natürlich recht. Kurz nachdem Jan Fleischhauer und Boris Palmer die 70 Prozent verbreitet hatten, hieß es zum Beispiel in der RTL-Sendung „Guten Morgen Deutschland“:

85 Prozent der Flüchtlinge sind allein reisende junge Männer (…)

85 Prozent. Eine Quelle dafür wurde auch dort nicht genannt.

Die Zahl kam übrigens nicht von den RTL-Leuten, sondern von ihrem Studio-Gast – Heinz Buschkowsky.

85 Prozent der Flüchtlinge sind allein reisende junge Männer, da ist nicht viel Abgewogenheit, sondern sehr viel Impulsivität. Das ist ja auch das, was sehr vielen Menschen Ängste macht.

Und mit Ängstemachen kennt sich Buschkowsky aus.

Gestern bei Anne Will also wieder 70 Prozent. Und obwohl die Grünen-Vorsitzende widersprochen hatte, war heute überall nur eines zu lesen:

Der ehemalige Bürgermeister von Neukölln, Heinz Buschkowsky (SPD), rechnet vor, dass 70 Prozent der Flüchtlinge junge Männer sind.

(stern.de)

Er sagt, dass 70 Prozent der Flüchtlinge junge Männer seien.

(bz-berlin.de)

Er berichtet, dass 70 Prozent der Flüchtlinge junge Männer sind.

(Bild.de)

Doch nicht nur das:

Er berichtet, dass 70 Prozent der Flüchtlinge junge Männer sind. Diese werden zunächst nach Deutschland kommen, um die Familie im Anschluss nachzuholen. So komme man auf bis zu 10 Millionen Flüchtlinge bis 2020. „Und das ist ganz konservativ und unaufgeregt gerechnet“, fügt er hinzu.

10 Millionen Flüchtlinge. Schauen wir uns doch mal an, wie er darauf kommt und welche Belege er anführt (ab 32:30 Minuten):

Anne Will: Man ist sich ja gar nicht so sicher, wie viele Menschen denn über den sogenannten Familiennachzug nach Deutschland noch kommen werden, da hört man immer unterschiedliche Zahlen. Der Präsident des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge hat im vergangenen Jahr mal gesagt, er geht von einem Faktor 3 bis 4 aus, also mal 3 bis 4. Herr de Maizière hat heute im Bundestag gesagt, er nehme an, er wisse es auch nicht genau, dass die Zahl sich verdoppeln oder verdreifachen könnte. Wäre das eine Anzahl von Menschen, Herr Buschkowsky, die Deutschland integrieren könnte?

Heinz Buschkowsky: Auf Sicht: ja. Aber nicht von heute auf morgen. Weil das ist doch die Diskussion, über die wir reden müssen: Sind wir in einer Situation, wo wir den Zustrom eingrenzen oder steuern müssen? Also da werden, voriges Jahr waren es 400.000, dieses Jahr eine Million, 1,4 Millionen, mit Familiennachzug sind das sofort viereinhalb bis fünf Millionen Menschen.

Will: Weil sie jetzt locker mit mal 3, mal 4 rechnen. Woher wissen Sie das denn, Herr Buschkowsky?

Buschkowsky: Das ist ganz konservativ unaufgeregt, mal 3. Es gibt andere Konfliktforscher, die nehmen mal 7! (…) Die EU hat eine offizielle Prognose für 2016: plus weitere drei Millionen Flüchtlinge. Oder: in den nächsten drei Jahren fünf Millionen. Da ist Deutschland natürlich wieder dabei. Kommt noch eine Millionen plus Familiennachzug, haben sie noch mal vier bis fünf, dann sind sie in einem sehr knappen Zeitraum bis 2020 bei zehn Millionen Menschen.

Will: Das haben sie jetzt alles überschlagen und haben dafür keinen Beleg.

Buschkowsky: Das ist ganz konservativ unaufgeregt. Aber es ist so!

Achso. Na dann:


Ganz konservativ unaufgeregt.

Mit Dank an Martin.

Bild  

Sehen alle gleich aus (11)

Für “besondere Augenblicke, die sich in unser kollektives Gedächtnis gebrannt haben, und unbekannte Foto-Schätze aus Zeitgeschichte und Popkultur” hat “Bild” den Twitter-Account “Heute vor …” ins Leben gerufen.

Da lernt man Sachen. Zum Beispiel: Vorgestern vor “46 Jahren strahlt der US-Sender National Education Television die erste Folge der Sesamstraße aus.” Oder: Gestern vor “89 Jahren wird die legendäre Autostrecke Route 66 in den USA offiziell für den Verkehr freigegeben.” Und heute vor

Das größte — und bisher völlig unterschätzte — Talent Loriots? Sich als Heinz Erhardt zu verkleiden.

Mit Dank an @PsyKater

Nachtrag, 17:32 Uhr: Das Team des Twitterkanals hat reagiert und zeigt nun den richtigen Loriot.

Recherche mit Folgen, brennende Autos, säumige Autoren

1. ARD-Doping-Doku bringt Russland unter Druck
(ndr.de, Bastian Berbner, Video, 3:18 Minuten)
Häufig ist es so: Investigativjournalisten finden tolle/erschütternde/überraschende Dinge raus, konkrete Folgen haben ihre Berichte aber nicht. Bei Hajo Seppelts Doping-Doku “Geheimsache Doping. Im Schattenreich der Leichtathletik” könnte das nun anders sein. Denn die WADA, die World Anti-Doping Agency, schlägt vor, Russlands Leichtathelten komplett von den Olympischen Spielen 2016 auszuschließen. Und das aufgrund von Seppelts Recherchen.

2. Stoff für Fremdenfeinde: die erfolgreiche Social-Media-Strategie von “Focus Online”
(stefan-niggemeier.de)
Legt man die Anzahl der Shares und Likes zugrunde, ist “Focus Online” die erfolgreichste deutsche Medienmarke — noch vor Bild.de, welt.de und “Spiegel Online”. Irgendwas müssen Burdas Social-Media-Redakteure also richtig machen. Tun sie auch, zumindest wenn man kein Problem mit digitalem Beifall von “Pegida”, AfD und NPD hat. Den Vorwurf, “Focus Online” greife gezielt “dreckige Likes aus der rechten Ecke” ab, dementiert Chefredakteur Daniel Steil: “schade, dass sie das so sehen. Dem ist aber gewiss nicht so.”

3. “Focus” übt sich als Handlanger von AfD und “Demo für alle”
(nollendorfblog.de, Johannes Kram)
An der Berliner “Schaubühne” feiert das Stück “Fear” Premiere, in dem es auch um die AfD-Europaabgeordnete Beatrix von Storch geht. In der gleichen Nacht brennt von Storchs Auto. Der “Focus” mache aus diesem “temporalen einen kausalen Zusammenhang”, kritisiert Johannes Kram.

4. Der ORF Wien, die alte Gerüchteschleuder
(kobuk.at, Helge Fahrnberger)
“Wien heute”, die Lokalnachrichten des ORF, hätten “eine seit mindestens zwei Monaten im Internet kursierende Verkehrscam-Aufzeichnung eines Schlepper-LKW-Unfalls als Nachricht verkauft”, ärgert sich Helge Fahrnberger. Das Problem sei aber nicht nur das Alter des Videos, sondern auch die Dramatisierung durch den ORF: Die Redaktion habe einen “Unfall-Soundtrack” über die Bilder gelegt, die “im Original ohne Sound aufgenommenen” wurden.

5. Verkehrsdatenspeicherung
(neusprech.org, Kai Biermann)
Raider heißt jetzt Twix — und die VDS heißt jetzt VDS. Genauer gesagt: Die Vorratsdatenspeicherung, bislang auch als digitale Spurensicherung, private Vorsorgespeicherung, Speicherpflicht und Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten, Mindestspeicherfrist, Mindestspeicherdauer und Mindestdatenspeicherung bekannt, wurde von Angela Merkel nun erneut umgetauft. In Verkehrsdatenspeicherung. Das Gesetz bleibt dasselbe.

6. Leitfaden zum Umgang mit säumigen Autoren
(prinzessinnenreporter.de, Marit Hofmann)
Die Deadline — jeder freie Journalist kennt sie, fast jeder fürchtet sie. Marit Hofmann erlebt die täglichen Mini-Dramen der Abgabefristen aus der Perspektive der Gegenseite: Als Redakteurin hat sie mittlerweile langjährige Erfahrung mit den absonderlichsten Ausreden. Jetzt stellt sie acht verschiedene Abgabe-Typen vor.

Lügen über Flüchtlinge, Erika Steinbach, Magazinsammlung

1. “Wir holen dich da raus”
(sz-magazin.sueddeutsche.de, Ronja von Wurmb-Seibel und Niklas Schenck)
Als sie eine Zeit lang in Kabul leben und von dort berichten, lernen Ronja von Wurmb-Seibel und Niklas Schenck den afghanischen Jungen Hasib kennen. Plötzlich meldet sich Hasib, er sitze auf seiner Flucht in Ungarn fest. Die zwei Journalisten machen sich auf den Weg, um ihn nach Deutschland zu schmuggeln.

2. Warum es sich gut anfühlt, über Flüchtlinge Lügen zu verbreiten
(diepresse.com, Sibylle Hamann)
Warum veröffentlichen Leute in den sozialen Medien Gerüchte über Flüchtlinge, die ganze Gruppen in Verruf bringen und gleichzeitig gar nicht stimmen (hier ein aktuelles Beispiel)? Aus Bösartigkeit? Sibylle Hamann will “eine andere, kompliziertere Erklärung zur Diskussion stellen”: die Rechtfertigung für das eigene Nichtstun.

3. Der Shitstorm als Mittel der politischen Kommunikation
(lampiongarten.wordpress.com, Sebastian Baumer)
Aus gegebenem Anlass erinnert Sebastian Baumer an die Wirkungsweise von (bewusster) Provokation und (reflexhaft-empörter) Reaktion: “Es ist ein bisschen traurig (…), aber die ältere CDU-Dame versteht das Internet sehr viel besser und weiß es cleverer zu nutzen als die Leute, die sich über sie aufregen.” Und Ole Reißmann appelliert: “Erika Steinbach ist ein Internet-Troll. Die füttert man nicht, die ignoriert man.”

4. “Ich entschuldige mich!”
(sueddeutsche.de, Nadia Pantel)
Der Inhaber von Serbiens größter Tageszeitung, dem Boulevardblatt “Kurier”, entschuldigt sich auf der Titelseite seiner Sonntagsausgabe: Er habe jahrelang Selbstzensur geübt und sich bereitwillig mit den Mächtigen des Landes arrangiert. Dazu ein offener Brief, in dem er beschreibt, wie die Regierung Journalisten zu positiver Berichterstattung nötige. Der Fall sorgt in Serbien für Aufruhr — und auch die EU-Kommission warnt: “Es besteht Sorge über die sich verschlechternden Bedingungen der Meinungsfreiheit in Serbien. (…) Drohungen und Gewalt gegenüber Journalisten bleiben besorgniserregend.”

5. “Im Magazinmachen steckt die Sehnsucht, unsterblich zu werden”
(buchalsmagazin.tumblr.com, Peter Wagner)
Beruflich macht Horst Moser Magazine, privat sammelt er sie — mittlerweile braucht es zum Lagern eine ganze Halle: “Wieviele haben Sie beisammen?” — “Keine Ahnung, es sind viele Regalkilometer.” Peter Wagner hat sich mit ihm über seine Leidenschaft unterhalten.

6. Berliner Drehtüreffekt: Vom Journalisten zum Regierungssprachrohr
(youtube.com, Tilo Jung, Video, 1:53 Minuten)
Hier ein Wechsel aus der Wirtschaft in die Politik (oder andersrum), dort ein Wechsel aus dem Journalismus in die Wirtschaft. Nun ist mal wieder ein Wechsel aus dem Journalismus in die Politik dran: Sibylle Quenett, zuletzt stellvertretende Chefredakteurin der “Mitteldeutschen Zeitung”, arbeitet jetzt im Pressereferat des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Tilo Jung zu ihrer Vorstellung in der Bundespressekonferenz: “Der ganz normale, andere Drehtüreffekt im Berliner Regierungsviertel”.

Der Hofnarr des Kaisers

Eins muss man Alfred Draxler lassen: So langsam erkennt der Chefredakteur der “Sport Bild” den Mist, den er selbst gebaut hat:

So viel mehr, als sich beim “Spiegel” und dessen Chefredakteur Brinkbäumer für den Hitler-Tagebücher-Vergleich, den Polterauftritt beim “Sport1”-Fußballtalk “Doppelpass” und all die anderen Sticheleien zu entschuldigen, blieb ihm allerdings auch nicht übrig. Denn inzwischen scheint recht klar, dass Draxlers Kumpel Franz Beckenbauer, den er stets verteidigt hat, bei der Vergabe der Fußball-WM einen Bestechungsversuch zumindest geplant hat. Ein Vertragsentwurf mit Beckenbauers Unterschrift lässt das vermuten.

Das sieht seit heute auch Alfred Draxler ein:

Er klingt zerknirscht:

Ich hätte es mir nie vorstellen können. Ich habe immer daran geglaubt, dass wir die WM 2006 auf saubere Art bekommen haben.

Heute früh musste ich aber bei BILD.de berichten, dass beim DFB ein Vertragsentwurf aufgetaucht ist, der möglicherweise als Bestechungs-Versuch benutzt werden sollte. Schon das Datum sagt viel aus: Vier Tage vor der WM-Vergabe am 6. Juli 2000!

Unterschrieben hat dieses Papier mein langjähriger Freund FRANZ BECKENBAUER!!

Bisher dachten wir, Draxlers “Intensivrecherche” fuße einzig auf langen und intensiven Gesprächen mit guten und sehr guten Freunden, die gleichzeitig auch die Beschuldigten in der Affäre sind, zu der Draxler recherchiert hat. Es ist aber noch viel trauriger: Sie fußt vor allem auf Glauben und Nicht-Vorstellen-Können.

Dafür war Draxlers Caps-lock-Ankündigung in seinem “Das Sommermärchen war nicht gekauft”-Kommentar vom 22. Oktober ausgesprochen mutig:

ICH BIN MIR BEWUSST, DASS ICH MIT DIESEM ARTIKEL MEINE REPUTATION ALS JOURNALIST UND REPORTER AUFS SPIEL SETZE.

Höchstwahrscheinlich wird dieses Ausdemfensterlehnen keine beruflichen Konsequenzen für Alfred Draxler haben. Es wird nur heiße Luft gewesen sein, die er in diese Zeilen gepackt hat. Nächste Woche wird er vermutlich schon wieder irgendwo “Nachgehakt” haben und mit seiner “Sport Bild” über den “Lohnzettel eines Schalke-Stars” oder die “Fehler-Schiris” sinnieren, als hätte seine “REPUTATION ALS JOURNALIST UND REPORTER” keinen Schaden genommen.

Hätte sich Alfred Draxler nicht freiwillig mit vollem Anlauf und Radschlag-Flickflack-Salto laut flatschend in den selbst aufgestellten Fettnapf geschmissen, könnte man fast Mitleid mit ihm haben. Wenn es tatsächlich so war, dass Franz Beckenbauer Draxler vesichert hat, bei der WM-Vergabe sei alles mit rechten Dingen zugegangen, wurde er von seinem langjährigen Freund belogen.

Wir hatten Alfred Draxler vor zwei Wochen als “DFB-Außenverteidiger” bezeichnet. Das gefiel ihm irgendwie:

Inzwischen zeigt sich: Er war nicht mal das. Draxler war offenkundig nur eine willige Marionette, die Wolfgang Niersbach und Franz Beckenbauer benutzen konnten, um über “Bild”, Bild.de und “Sport Bild” ihr eigenes Narrativ des Skandals unter die Leute zu bringen und so ihre persönlichen Positionen zu stärken. In diesem “Sommermärchen” wirkt Alfred Draxler wie der Hofnarr des Kaisers.

Ähnlich närrisch wie Draxlers Verhalten rund um die WM-Affäre waren die Reaktionen seiner Kollegen aus dem Axel-Springer-Verlag. Die ganze “Bild”-Bande hatte dem “Sport Bild”-Chef auf die Schulter geklopft, als der vor zweineinhalb Wochen verkündete: Alles in Ordnung bei der WM-Vergabe. Es schien, als hielten sie Draxlers Artikel tatsächlich für das Ergebnis einer ordentlichen Recherche. Sie feierten ihn als großen Enthüller und taten so, als wäre die ungefilterte Wiedergabe von Aussagen der Beschuldigten Journalismus.

Marion Horn zum Beispiel, Chefredakteurin der “Bild am Sonntag”, hatte zu der Zeit die Hoheit über den Twitteraccount der “Zeit”. Und nutzte die Gelegenheit, um mitzuteilen, dass sie keinen Grund sehe, an Draxlers Recherche zu zweifeln:

Matthias Müller, stellvertretender “Bild”-Sportchef, verbreitete Draxlers Kolumne ebenfalls:

Tobias Holtkamp, Chefredakteur von Springers Fußballportal transfermarkt.de, lobte Alfred Draxlers “Fakten”:

Und “Bild”-Chef Kai Diekmann musste gleich doppelt twittern:

Heute twitterte Diekmann wieder über eine Enthüllung Draxlers:

So kann man natürlich auch versuchen, aus der Nummer rauszukommen.

Reporter in Haft, Zahlen übers Netz, gemeine Fragen

1. Militärermittlungen gegen Investigativjournalist
(reporter-ohne-grenzen.de)
Hossam Bahgat ist vermutlich der bekannteste Investigativjournalist Ägyptens, einer der wenigen Reporter des Landes, die nicht vor Kritik an Präsident Abdel Fattah al-Sisi und dessen Regierung zurückschrecken. Jetzt sitzt Bahgat in Untersuchungshaft. Grund dürfte ein Bericht über “die Hintergründe eines Militärurteils gegen 26 Armeeoffiziere wegen Umsturzplänen” sein. “Reporter ohne Grenzen” verurteilt die Verhaftung Bahgats und gibt einen Überblick über weitere inhaftierte ägyptische Journalisten. Dazu auch: Sueddeutsche.de über Bahgats Fall.

2. Flüchtlingsforschung gegen Mythen
(fluechtlingsforschung.net)
Der ehemalige BND-Chef August Hanning fordert die Beschränkung des Familiennachzugs und die sofortige Schließung der Grenzen, Angela Merkel sagt, dass “wir bei den Abschiebungen noch nicht gut genug sind”, und Joachim Herrmann zweifelt, “ob sich der deutsche Sozialstaat die jetzige Großzügigkeit noch leisten kann”. Was sagen eigentlich Wissenschaftler zu solchen populistischen Parolen, die meist über die Medien verbreitet werden? Sechs Forderungen und Behauptungen im Faktencheck.

3. Hat Frankfurt wirklich ein Problem mit sogenannter “Ausländerkriminalität”?
(vice.com, Ben Kilb)
Natürlich gebe es kriminelle Ausländer in Frankfurt, doch 1.) sinke die Zahl der jugendlichen Intensivtäter mit Migrationshintergrund und 2.) gebe es derzeit offensichtlich deutlich mehr Gewalt gegen Ausländer, schreibt Ben Kilb. Ein Kriminologe bestätigt ihm, dass eine unausgewogene Presseberichterstattung zur Kriminalität existiere, zum Nachteil von Menschen mit Migrationshintergrund. So zeige sich: “Die Stadtpolitik hat Probleme mit der Wohnungsnot, fehlenden Hortplätzen, maroden Schulen und seit Jüngstem mit der Unterbringung von Flüchtlingen, nicht wirklich mit ‘Ausländerkriminalität’.”

4. Hashtags, Unique User und Suchtrends: schlaue Zahlen übers Netz
(torial.com, Stefan Mey)
Agof und IVW, Unique User und Visits, Similar Web und Google Trends, 10000 Flies und die Deutschen Blogcharts. Bei all diesen Abkürzungen und Rankings kann man schon mal den Überblick verlieren. Stefan Mey erklärt, wer da eigentlich was misst — und wie aussagekräftig diese Zahlen sind.

5. We need a Data Journalism Archive. Before it becomes just another 404 error.
(vox.com, Simon Rogers)
Obwohl so viele Daten wie nie im Internet zur Verfügung stehen, befürchtet Simon Rogers ein dunkles Zeitalter des Datenjournalismus. Denn: Kaum jemand archiviere ordentlich, dadurch verschwänden eigentlich ambitionierte Web-Projekte oder seien eingefroren. Rogers stellt einige vor und fordert ein Datenarchiv. “Before we forget everything we know.”

6. Man kann gemeine Fragen auch mit einem Lächeln stellen.
(planet-interview.de, Adrian Arab)
Lutz van der Horst jagt als Außenreporter der “heute show” von Parteitag zu Parteitag und bekommt auf seine satirischen Fragen oft entlarvende Antworten. Mit Adrian Arab spricht er über all seine Stationen und Rollen: von Jimmy Breuer über den “TV Total”-Blasehase bis zum Einsatz fürs ZDF.

Thomas de Maizière, Verschwörungsparanoikerin, Zensur

1. Wie de Maizière sich verkalkulierte
(n-tv.de, Christoph Herwartz)
Kein Familiennachzug mehr für syrische Flüchtlinge? Oder doch? Bundesinnenminsiter Thomas de Maizière hat mit Aussagen während seines Albanienbesuchs für Verwirrung gesorgt. Christoph Herwartz hat de Maizière bei der Reise begleitet und rekonstruiert dessen Vorpreschen und Zurückrudern aus medialer Sicht. Sein ernüchterndes Fazit für die eigene Arbeit: “Das Interview de Maizières mit n-tv.de, das an diesem Samstag erscheinen sollte, ist damit schon veraltet, bevor es autorisiert wurde.”

2. Eine Nacht im Notlager
(faz.net, Timo Frasch, Jens Gyarmaty, Georg-Wilhelm König)
Über die Zustände in deutschen Flüchtlingsunterkünften wird derzeit viel geschrieben. Doch die wenigsten Journalisten sind wirklich vor Ort, und wenn überhaupt, dann ist es meist nur eine kurze Stippvisite unter Aufsicht eines Ministers oder anderer Offizieller. “Ein bisschen helfen dürfte aber, wenn man längere Zeit am Stück in einer Unterkunft verbringen könnte, vielleicht sogar dort übernachten.” Genau das haben Timo Frasch, Jens Gyarmaty und Georg-Wilhelm König getan.

3. Was darf ein Interviewer im ORF?
(facebook.com, Armin Wolf)
Susanne Winter ist aus der FPÖ geflogen, ihren Job im österreichischen Parlament will sie aber behalten. Armin Wolf spricht mit ihr im ORF und nennt Winter unter anderem “eine islamfeindliche, rassistische Verschwörungsparanoikerin”. Darf er das? Manche meinen: nein. Armin Wolf hat sich bei Facebook ausführlich zu seinem Interview geäußert.

4. Trollhaus
(profil.at, Ingrid Brodnig)
“Jede Form von Kritik, Gegenrede oder Moderation wird gern als ‘Zensur’ verunglimpft, weil die ‘Meinungsfreiheit’ dadurch abgeschafft werde.” Und das sei, so Ingrid Brodnig, natürlich Unsinn. Sie fordert, sich Begriffe wie “Zensur” für echte Beschneidungen der Meinungsfreiheit aufzuheben — etwa das Urteil gegen den Blogger Raif Badawi in Saudi Arabien. Das entscheidende Missverständnis: “Viele glauben, die Meinungsfreiheit gebe ihnen auch das Recht, immer und überall Gehör finden zu müssen.”

5. Facebooks Instant Articles sind nicht so erfolgreich, wie du glaubst
(mrtnh.de, Martin Hoffmann)
Facebook will Verlage dazu bringen, vollständige Texte auf dem sozialen Netzwerk zu posten, statt mit einem Link auf die eigene Webseite zu verweisen. Diese “Instant Articles” werden wahlweise als Rettung oder als Untergang der Medienbranche gesehen. Martin Hoffmann hat die bislang öffentlich zugänglichen Daten analysiert: “Auf den ersten Blick sorgen die Instant Articles wider Erwarten NICHT für ein höheres Engagement bei den einzelnen Link-Posts.” Er hält die Funktion deshalb nicht für “die großen Heilsbringer”. (Anmerkung: Es ist allerdings durchaus möglich, dass Facebook noch gar nicht begonnen hat, Instant Articles bevorzugt zu behandeln. Sobald der Algorithmus ihnen eine erhöhte native Reichweite zugesteht, wie das etwa bei direkt hochgeladenen Videos der Fall ist, könnten die Interaktionen schnell ansteigen.)

6. Jetzt spricht der Youtuber, den niemand kennt – ja, genau der
(rp-online.de, Sebastian Dalkowski)
Gronkh, Bibi mit ihrem “Beauty Palace” und LeFloid haben ein Millionenpublikum bei Youtube. Aber was sagt eigentlich ein Youtuber, der eher 600 als 600.000 Views pro Video hat? Sebastian Dalkowski hat einen interviewt. Zum Thema: Dalkowskis Gespräch mit Millionen-Youtuber Sami Slimani.

Adblock, Tanit Koch und Kai Diekmann, syrischer Kellner

1. Adblock Plus: Porno-Seiten und Gewinnspiel-Scam als Akzeptable Anzeigen
(mobilegeeks.de, Bernd Rubel)
Hinter den beiden populärsten Werbeblockern “Adblock Plus” und “Adblock” steckt die Kölner Firma Eyeo. “Mobile Geeks” hat deren Geschäftsmodell ausführlich durchleuchtet. Anstelle des (zum Scheitern verurteilten) Versuchs einer Zusammenfassung: Artikel lesen, danach alle Produkte von Eyeo deinstallieren und gegebenenfalls auf Alternativen wie “Ghostery” oder “uBlock Origin” ausweichen (und Webseiten, die man unterstützen will, auf die Whitelist setzen).

2. Von Diekmanns Gnaden
(taz.de, Jürn Kruse)
Kai Diekmann geht, Tanit Koch wird ab 1. Januar 2016 neue “Bild”-Chefredakteurin. Doch Diekmann bleibe Herausgeber, kümmere sich als Oberchef um die “großen Linien” der “Bild”-Marken und throne als “König Kai I.” sowieso über allen, schreibt Jürn Kruse. Dazu auch: Hans Leyendecker über Kai Diekmann, Birgit Baumann und Anne Fromm über Tanit Koch.

3. Gegen Griechenland-Klischees
(wdr5.de, Sabine Brandi, Audio, 27:45 Minuten)
Michalis Pantelouris ist Journalist und Publizist, halb Deutscher, halb Grieche, kennt beide Länder und insbesondere die jeweilige Medienszene. Wenn Pantelouris also das Griechenland-Bild in Politik und Medien als “von hanebüchenen Vorurteilen und von unglaublichem Unwissen geprägt” bezeichnet, dann sollte man diese Einschätzung ernst nehmen.

4. Sorry, New York Times: Your Big China Story is “Old News.”
(motherjones.com, James West, englisch)
Am Dienstag sorgte eine Recherche der “New York Times” für mittelgroße Aufregung in China und den USA, auch deutsche Medien griffen die Meldung auf. Demnach beschönige China seine CO2-Statistik und verbrenne deutlich mehr Kohle als angegeben. Das Problem laut “Mother Jones”: Diese Informationen sind bereits seit Februar bekannt und längst nicht so überraschend, wie es die “New York Times” darstellt.

5. Der Jochen-Breyer-Arbeitsnachweis
(fussballmachtspass.de)
Er hat es schon wieder getan: “Gut ein Jahr nach dem ‘Das Ding ist durch, oder?’-Debakel im Gespräch mit Jürgen Klopp tappte Breyer diesmal im Talk mit Guardiola und Mertesacker gleich in mehrere Fettnäpfchen”, urteilt das Fußballportal “FUMS” und wertet den Abend als “bittere 0:3-Klatsche” gegen ZDF-Mann Jochen Breyer.

6. Medien aus aller Welt übernehmen Meldung des Satire-Portals “Der Postillon”
(watson.ch)
Am Montag meldete “Der Postillon”: “Einziger anwesender Syrer auf Syrien-Friedens­konferenz in Wien serviert Häppchen”. Dass es sich dabei um Satire handelt, war manchen Nachrichtenportalen offenbar nicht klar, schreibt watson.ch: “Internationale Medien haben die Story nun dummerweise ein bisschen zu ernst genommen — und als wahre Meldung weiterverbreitet.”

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