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Die kleinere Hälfte

Ein alter Schüler-Witz:

Verzweifelt steht ein Mathematiklehrer vor seiner Klasse: “Wie oft soll ich Euch noch erklären, dass es keine kleinere und keine größere Hälfte gibt?”, fragt er erbost. “Aber warum sage ich Euch das – die größere Hälfte von Euch wird es eh nie verstehen!”

Was soll diese lahme Pointe an dieser Stelle? Nun: Vor zwei Wochen berichteten wir über die irreführenden Berichte nach der Wahl eines Republikaners in den US-Senat.

Doch zumindest die kleinere Hälfte der Journalisten hat immer noch nicht verstanden, dass die Partei des US-Präsidenten Obama damals zwar einen wichtigen Sitz im Senat verloren hat, aber immer noch über die weitaus größere Hälfte der Sitze in dem Parlament verfügt. Dass Obama zwar nicht mehr mit einer strategischen 60-Prozent-Mehrheit legislative Störmanöver der politischen Gegner von vornherein unterbinden kann, aber dennoch mit 59 von 100 Sitzen über eine komfortable absolute Mehrheit im US-Senat verfügt.

tagesschau.de berichtet über ein Treffen der radikalen Rechten:

So haben sie beispielsweise Scott Brown, den republikanischen Kandidaten für das Senatorenamt in Massachussetts, unterstützt. Mit Erfolg: Die Demokraten haben seitdem ihre Mehrheit im US-Senat verloren.

Ins gleiche Horn stößt der “Tagesspiegel”, als er sich der US-Klimapolitik widmet:

Nachdem die Partei des amerikanischen Präsidenten Barack Obama bei einer Nachwahl vor kurzem ihre Mehrheit im Senat verloren hat, ist es noch schwerer geworden, dort das ohnehin nicht besonders ambitionierte Klimagesetz durchzubringen

Bei “20 Minuten” hat man sich immerhin erinnert, dass etwas Besonderes an der verlorenen Mehrheit war. Nur was das war, das hat man vergessen:

Das ist umso wichtiger, seit Barack Obama die absolute Mehrheit im Senat verloren hat.

Aber warum sagen wir das — die kleinere Hälfte wird eh schreiben, was sie will.

Mit Dank auch an David K.

Nachtrag, 6. Februar: Tagesschau.de hat den Fehler inzwischen korrigiert.

Riesige Schlamperei bei Hartz-IV-Rechnung

Nehmen wir mal für einen Moment an, 36,4 Prozent aller Fehler, die wir hier im BILDblog protokollieren, würden anschließend von den jeweiligen Medien korrigiert. Wenn dieser Sachverhalt anschließend in einem Artikel aufgegriffen und mit der Überschrift “Ein Drittel aller Berichte in deutschsprachigen Medien wird hinterher korrigiert” versehen würde — dann wäre das so falsch, dass wir schon wieder etwas zum Aufschreiben hätten.

Aber jetzt husch husch runter von dieser Meta-Ebene und hinein ins Gewühl: Das ARD-Magazin “Report Mainz” berichtet, dass “jeder dritte Widerspruch der Hartz-IV-Empfänger” erfolgreich war.

Oder, wie dpa den Sachverhalt richtig zusammenfasst:

Die Bundesagentur für Arbeit hat vergangenes Jahr rund 280 000 Hartz-IV-Bescheide nachbessern müssen. Von Januar bis November wurden bei der BA 766 700 Widersprüche bearbeitet. 36,4 Prozent davon wurden ganz oder teilweise stattgegeben, bestätigte die Nürnberger Behörde einen Bericht des ARD-Magazins “Report Mainz”.

Deutlich knackiger liest sich der Sachverhalt in der Überschrift diverser OnlineMedien:

Mindestens jeder dritte Hartz-IV-Bescheid fehlerhaft

Knackiger — aber falsch: Nicht ein Drittel der Bescheide war fehlerhaft. Ein Drittel der Bescheide, gegen die Widerspruch eingelegt wurde, war fehlerhaft. Ein gravierender Unterschied, den eine erschütternd große Zahl von Medien (anscheinend auf der Grundlage einer Meldung der Nachrichtenagentur APN*) nicht verstand:

Riesige Schlamperei bei Hartz IV: Es ist amtlich: Jeder dritte Hartz-IV-Bescheid ist falsch. Das mag kaum verwundern – sogar der Chef der Arbeitsagentur hält seine Mitarbeiter für inkompetent.
(“Focus Online”)

Jeder dritte Hartz-IV-Bescheid wurde korrigiert - Behörde: 270.000 Widerspruchsverfahren erfolgreich. Die Behörden mussten im vergangenen Jahr jeden dritten Hartz-IV-Bescheid korrigieren. Knapp 270.000 Widerspruchsverfahren waren erfolgreich. Das bestätigte die Bundesagentur für Arbeit. Grund sei die Personalsituation.
(heute.de)

Jeder dritte Hartz-IV-Bescheid fehlerhaft

(“Berliner Zeitung” vom 12. Januar, Printausgabe)

Bei “Spiegel Online” war man ebenfalls erst auf dem Holzweg, hat sich aber inzwischen korrigiert:

Anmerkung der Redaktion: Ursprünglich hieß es in der Überschrift

*) APN ist das Kürzel des Deutschen Auslands-Depeschendienstes DAPD, der früher zu AP gehörte, jetzt zum ddp, und zwischenzeitlich auch “APD” abgekürzt wurde (vgl. hier).

Mit Dank an Stephan K. und Tim N.

Nachtrag, 11.20 Uhr: Inzwischen haben heute.de und “Focus online” ihre Überschriften und Einleitungen korrigiert und auf diesen Umstand hingewiesen.

2. Nachtrag, 18.25 Uhr: Die Nachrichtenagentur DAPD, die ihre Meldungen unter der Agenturkennung APN versendet, weist den Verdacht zurück, dass der Fehler bei ihr gelegen haben könnte. Ihre Meldung trug die korrekte Überschrift “Behörden mussten knapp 280.000 Hartz-IV-Bescheide korrigieren”.

Übrigens… falls Ihnen die ganze Geschichte bekannt vorkommt: Wir hatten denselben Fall schon einmal vor fünf Jahren. Damals war übrigens noch “jeder zweite Hartz-Bescheid falsch”.

AFP, Bild, dpa  

Abschreiben beim Milchmädchen

“Papier ist geduldig und Zahlen können sich nicht wehren”, hat mein Mathelehrer immer gesagt. “q.e.d.” könnte man hinzufügen. Heute auf Seite 1 der “Bild”-Zeitung:

Wegen der Krise: 1,2 Millionen Jobs in Industrie weg!

Abbau der Beschäftigten 2009“Bild”-Wirtschaftschef Oliver Santen beruft sich in der Meldung auf das statistische Bundesamt, das gestern in einer Pressemitteilung bekannt gegeben hatte, dass Ende September 2009 in den Betrieben des Verarbeitenden Gewerbes rund 233.000 Personen weniger als im September 2008 beschäftigt waren — und folgert (“siehe Tabelle”):

Seit Januar sind demnach 861.000 Jobs in der Industrie gestrichen worden.

Um auf diese imposante Zahl zu kommen, hat Santen einfach für die Monate Februar bis September 2009 die jeweilige Veränderung gegenüber dem Vorjahresmonat (also Februar bis September 2008) addiert.

Noch bevor die Zeitung heute am Kiosk lag, hatte es die Sensationsmeldung in die Newsticker der Presseagenturen geschafft. dpa etwa schrieb:

Die Wirtschaftskrise hat seit Jahresbeginn allein in der deutschen Industrie rund 1,2 Millionen Arbeitsplätze vernichtet. Das berichtet die “Bild”-Zeitung unter Berufung auf Zahlen des Statististischen Bundesamtes und der Bundesagentur für Arbeit.

Vor allem der zweite Satz ist bemerkenswert, denn natürlich hätte sich dpa selbst um 01.41 Uhr nachts nicht auf “Bild” verlassen müssen, sondern die richtigen Zahlen direkt und kostenlos beim Statistischen Bundesamt nachlesen können.

Aber auch AFP berief sich (um 03.06 Uhr) auf die erfahrungsgemäß maximal mittelseriöse Quelle “Bild”:

Durch die Wirtschaftskrise sind seit Jahresbeginn in der deutschen Industrie offenbar rund 1,2 Millionen Arbeitsplätze vernichtet worden. Wie die “Bild”-Zeitung unter Berufung auf Zahlen des Statististischen Bundesamtes und der Bundesagentur für Arbeit berichtet, sank die Zahl der Beschäftigten im verarbeitenden Gewerbe zwischen Februar und September um insgesamt 861.000.

Doch dann, um 09.18 Uhr, vermeldete AFP plötzlich:

ANNULLIERT: “Bild”: 1,2 Millionen Jobs durch Krise vernichtet
+++ Die “Bild”-Zeitung hat ihre Berechnung zurückgezogen +++

BERLIN, 17. November (AFP) – Bitte verwenden Sie die Meldung “‘Bild’: 1,2 Millionen Jobs durch Krise vernichtet” von 03.06 Uhr nicht. Die darin genannten Zahlen zu Arbeitsplatzverlusten sind nach Angaben der Zeitung nicht korrekt. “Bild” hat die Meldung deshalb zurückgezogen.

Da aber hatten schon dutzende Seiten Artikel zum Thema veröffentlicht (die inzwischen teilweise verschwunden, teilweise korrigiert sind).

Um 11.10 Uhr schließlich veröffentlichte das Statistische Bundesamt eine eigene Pressemitteilung, deren Überschrift einigermaßen eindeutig war:

Falsche Zahlen in der “Bild” zum Beschäftigungsabbau in der Industrie

[…]

In der “Bild” vom 17.11.2009 wurde auf Seite 1 – Bezug nehmend auf [unsere] Pressemitteilung – dargestellt, dass in der Industrie seit Jahresbeginn 861.000 Jobs weggefallen wären […]. Diese Zahlen sind falsch. Die “Bild”–Zeitung hat fälschlicherweise die absoluten Vorjahresveränderungen der Beschäftigtenzahl aller Monate von Januar bis September aufaddiert.
Richtig ist Folgendes: Im Januar 2009 waren in den Betrieben des Verarbeitenden Gewerbes mit 50 und mehr Beschäftigten rund 5.167.000 Personen tätig, im September 5.039.000. Daraus ergibt sich per Saldo von Januar bis September ein Beschäftigtenabbau von 128.000 Personen.
Die “Bild”-Redaktion wurde auf den Fehler hingewiesen. In der Online-Ausgabe von “Bild” wurde der falsche Artikel inzwischen gelöscht.

(Letzteres stimmt übrigens nicht: Der Artikel steht immer noch online.)

Dpa brauchte trotzdem noch bis 13.20 Uhr, um (“Eil! Achtung!”) folgende Korrektur zu veröffentlichen:

Bitte verwenden Sie die dpa 0034 (“Bild”: 1,2 Millionen Jobs in Industrie weg – Berlin/0141) nicht. Die Zahlen basieren auf einem Rechenfehler. Die “Bild”-Zeitung hat sich korrigiert. Die Meldung entfällt ersatzlos.

Vielleicht ist die lange Leitung von dpa ja demnächst kürzer — zumindest zu “Bild”.

Mit Dank an Daniel B.!

Nachtrag, 18. November: Bild.de hat den Artikel jetzt tatsächlich offline genommen und ihn durch diesen Hinweis ersetzt:

Bei der gestrigen Meldung “1,2 Mio. Jobs in der Industrie weg” ist uns ein Rechenfehler unterlaufen. Die monatlichen Veränderungen von Januar bis September der Industrie-Beschäftigungszahlen des Statistischen Bundesamts wurden versehentlich addiert. Korrekt ist, dass die Beschäftigtenzahl im September im Vergleich zum Vorjahresmonat um 233 000 sank. Seit Jahresanfang ging die Zahl der Industrie-Beschäftigten aber nur um 128 000 zurück.

Von Monstern und anderem Irren

2008 war, wenn man so will, ein gutes Jahr für “Bild”. Der Deutsche Presserat sprach nur in zwei Fällen Rügen gegen “Bild” aus:

  • Das Gremium beanstandete — aufgrund einer Beschwerde von BILDblog — die teils frei erfundene Berichterstattung über zwei Mädchen, die angeblich von ihrer Mutter nach Afrika gebracht und dort beschnitten werden sollten (BILDblog berichtete).
  • Und der Presserat rügte die “unangemessen sensationelle” Art, wie “Bild” über einen Flugzeugabsturz berichtetete, verkohlte Leichen auf der Titelseite zeigte und die Opfer im Inneren identifizierte — und so “die Gefühle der trauernden Angehörigen verletzt” habe. (Die “Bild”-Zeitung fand die Beanstandung, wie berichtet, “rätselhaft” und führte ihre Leser beim Abdruck der Rüge in die Irre, was dem Presserat aber egal ist.)

Die “Maßnahmen” des Presserates:

Hat eine Zeitung oder eine Zeitschrift gegen den Pressekodex verstoßen, kann der Presserat aussprechen:

  • einen Hinweis
  • eine Missbilligung
  • eine Rüge.

Eine “Missbilligung” ist schlimmer als ein “Hinweis”, aber genauso folgenlos. Die schärfste Sanktion ist die “Rüge”. Gerügte Presseorgane werden in der Regel vom Presserat öffentlich gemacht. Rügen müssen in der Regel von den jeweiligen Medien veröffentlicht werden. Tun sie es nicht, tun sie es nicht.

Trotzdem hatte der Presserat auch im vergangenen Jahr reichlich mit “Bild” zu tun und sprach eine Reihe von “Missbilligungen” und “Hinweisen” aus. Und wie in jedem Jahr gibt das vor kurzem erschienene “Jahrbuch” des Presserates seltene Einblicke in die Argumentationsmuster innerhalb der notorisch öffentlichkeitsscheuen Axel-Springer-AG, wenn die Rechtsabteilung gegenüber dem Presserat ausgeruht die fragwürdigen Ad-Hoc-Entscheidungen der “Bild”-Zeitung zu rechtfertigen versucht.

Eine Auswahl:

Tote Kinder ohne Rechte?

“Die toten Kinder von Darry — Von der Mutter erstickt, vom Vater wieder ausgegraben”. Unter dieser Überschrift berichtet “Bild” am 26. Juni 2008, wie drei tote Kinder von einem Berliner Friedhof nach Schleswig-Holstein umgebettet werden. Sie und zwei weitere waren von ihrer Mutter getötet worden. “Bild” zeigt ein Familienfoto, auf dem die Gesichter der Erwachsenen unkenntlich gemacht wurden, sowie Nahaufnahmen der Särge und der Gruft — und ein Notfallseelsorger aus Schleswig-Holstein, der beruflich mit dem Fall zu tun hat, beschwert sich beim Presserat, der seine Position so wiedergibt:

Die Umbettung habe unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden sollen. Mit allen Firmen und den Friedhöfen sei Stillschweigen und absolute Vertraulichkeit vereinbart worden. Zu Beginn der Exhumierung in Berlin hätten mehrere Journalisten fotografieren und filmen wollen. Die Friedhofsverwaltung habe vergeblich versucht, sie davon abzuhalten. Im Gegensatz zu anderen Medien habe das Boulevardblatt Nahaufnahmen der Särge, der Gruft und des gesamten Vorgangs veröffentlicht. Zudem sei in der Online-Ausgabe ein “abscheuliches Video” mit Nahaufnahmen abrufbar gewesen. Der Geistliche sieht einen Missbrauch der Pressefreiheit und eine Verletzung der Persönlichkeitsrechte der verstorbenen Kinder und des trauernden Vaters.

Die Antwort von “Bild” ist vor allem eine juristische: Die Vorwürfe seien unbegründet, weil das Persönlichkeitsrecht nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichtes mit dem Tod erlösche. Es müsse dann nur noch allgemein die Menschenwürde geachtet werden. “Bild” habe die Kinder aber nicht herabgewürdigt oder erniedrigt. Das (nicht mehr abrufbare) Video auf Bild.de habe allerdings religiöse Gefühle verletzen können — das habe der Chefredakteur in einem Brief an den Seelsorger bedauert. Die Reporter hätten versichert, dass sie während der Exhumierung nicht am Fotografieren gehindert worden seien.

Der Presserat sieht in der Veröffentlichung der Fotos einen Verstoß gegen Ziffer 8 des Pressekodex, der eine Identifizierung der Opfer von Unglücksfällen und Straftaten untersagt. Der “engeren juristischen Wertung” des Verlages wollte er sich nicht anschließen. Aus ethischer Sicht hätte die Redaktion auf die Persönlichkeitsrechte der verstorbenen Kinder sowie des trauernden Vaters größeres Gewicht legen müssen. Der Presserat sah darin allerdings keinen rügenswerten Verstoß, sondern “missbilligte” die Berichterstattung nur — warum auch immer.

Lea-Sophie, nackt und verhungert auf dem OP-Tisch

Am 6. April 2008 veröffentlichten “Bild am Sonntag” und Bild.de zwei Fotos der fünfjährigen Lea-Sophie, die ihre Eltern verhungern ließen. Eines zeigte das Mädchen zu Lebzeiten, eines den Leichnam, nackt auf dem Obduktionstisch. Das zweite Foto, das die Zeitung auf unbekannte Weise bekommen hatte, war, wie die “BamS” damals schrieb, ein “schreckliches” Foto. Die Redaktion, behauptete die Redaktion, habe lange diskutiert, ob sie es zeigen solle. Dass sie sich dafür entschieden habe, das tote Kind auf diese Weise vor einem Millionenpublikum auszustellen, begründete sie mit dem Satz: “Denn wir wollen, dass so etwas nie wieder in Deutschland passiert!” (BILDblog berichtete.)

Ein Leser beschwerte sich beim Presserat, weil er in der Veröffentlichung des Bildes Sensationsmache und eine Verletzung der Menschenwürde der Verstorbenen sieht. Die Rechtsabteilung der “BamS” hält ihm entgegen, er habe sich mit den Überlegungen der Redaktion nicht auseinandergesetzt: Darin seien die Beweggründe, das Foto zu veröffentlichen, ausführlich dargelegt worden. Sie erinnerte an das “vermutlich eindringlichste Foto der Pressegeschichte”: fliehende, weinende, teilweise nackte und vom Napalm verletzte Kinder im Vietnam-Krieg. Wenn die Eltern von Lea-Sophie und ihr Anwalt ein falsches Bild der Ereignisse zeichneten, so die “BamS” laut Presserat, müsse dies ausnahmsweise durch ein Fotodokument korrigiert werden können.

Der Beschwerdeausschuss widersprach: Das Foto sei für eine wahrhaftige Berichterstattung über die Grausamkeit der Todesumstände nicht erforderlich gewesen — eine Beschreibung der Vorgänge hätte ausgereicht. Die “BamS” habe “unangemessen sensationell” berichtet und die Würde des Opfers verletzt — und somit gegen die Ziffern 1 und 11 des Pressekodex verstoßen. Der Presserat fand das aber offenbar lässlich genug, keine “Rüge”, sondern nur eine “Missbilligung” auszusprechen.

Ein “Kinderschänder” und sein Opfer im Bild

Zu den für “Bild” nachhaltig unbegreiflichen Realitäten gehört es, dass auch (mutmaßliche) Täter Rechte haben, sogar Persönlichkeitsrechte. Und dass die Richtlinie 8.1 des Pressekodex vorsieht, dass die Presse bei Straftaten in der Regel keine Informationen veröffentlicht, die die Beteiligten erkennbar machen. Es ist vermutlich die Richtlinie, gegen die “Bild” am häufigsten verstößt, so auch am 5. Juni 2008. Das Blatt titelte “Kinderschänder lockt 13-Jährige in Sex-Falle” und berichtete über ein Ermittlungsverfahren gegen einen Mann, der ein Mädchen, das er im Internet kennen lernte, zu sich nach Hause gelockt, dort vier Wochen lang versteckt und mit ihm einvernehmlichen Geschlechtsverkehr gehabt haben soll. “Bild” zeigt beide auf einem Foto. Der Anwalt des Beschuldigten sieht in der Bezeichnung “Kinderschänder” eine unzulässige Vorverurteilung und weist darauf hin, dass die Staatsanwaltschaft bereits nach einer Woche die Aufhebung des Haftbefehls beantragt habe. Das Foto, auf dem der Mann mit dem Mädchen zu sehen ist, sei auf unlautere Weise aus den Privaträumen des Beschwerdeführers beschafft worden. Und sowohl die Bildunterschrift “In diesem Gartenhäuschen auf dem Hotelgrundstück fanden die Ermittler Kinderpornos” als auch die Behauptung “Der Mann fiel der Polizei schon früher auf: Als 17-Jähriger soll er erstmals zwei Mädchen in einen Schuppen gelockt und gefesselt haben” seien frei erfunden.

Die Rechtsabteilung von “Bild” hingegen meint, dass die Wertung als “Kinderschänder” und der Tatbestand des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern durch die Beschreibung der beiden Betroffenen erfüllt sei. Und an der Veröffentlichung der Fotos gebe es ein öffentliches Interesse. “Wenn jemand eine 13-jährige Schülerin vier Wochen lang vor deren Eltern versteckt halte, sei das so außergewöhnlich, dass die Fotoveröffentlichung auch gegen den Willen des Abgebildeten gerechtfertigt sei”, erklärt “Bild” laut Presserat. “Die Mutter des Beschwerdeführers habe das strittige Foto zur Verfügung gestellt. Sie habe damit zeigen wollen, dass es sich um eine einvernehmliche Beziehung zwischen ihrem Sohn und dem Mädchen gehandelt habe.” Somit habe “Bild” nicht gegen Ziffer 4 des Pressekodex verstoßen, die unlautere Recherchemethoden untersagt. Schließlich beruhten die angeblich “frei erfundenen Behauptungen” auf Informationen der Ermittlungsbehörden und Aussagen der Mutter des Beschwerdeführers, die man “nicht als Tatsachen, sondern in der Soll-Form wiedergegeben” habe.

Der Presserat “missbilligte” die Berichterstattung von “Bild”. Er sah zwar keine Verletzung der Unschuldsvermutung und konnte, wie fast immer, nicht klären, ob “Bild” unlautere Methoden bei der Recherche angewandt hat. Aber “Bild” habe den mutmaßlichen Täter nicht einmal teilweise unkenntlich gemacht. Sowohl er als auch die 13-Jährige seien erkennbar. “Der Fall ist sicher von großem öffentlichem Interesse, doch ist es auch dann nicht gerechtfertigt, die Beteiligten erkennbar zu machen”, urteilte der Beschwerdeausschuss. “Diese hätten anonymisiert werden müssen.”

Ein Irak-Soldat “frisst” einen kleinen Hund

Man kann sicher darüber streiten, ob es wirklich, wie ein Beschwerdeführer meint, “abartig” ist, dass die “Bild”-Zeitung am 11. Januar 2008 auf ihrer letzten Seite zwei AFP-Fotos zeigt, auf denen ein irakischer Soldat einen Hund erst mit seinem Messer tötet und dann isst, um den Jahrestag der Übernahme der Stadt Nadschaf zu feiern. Aber die Argumente, mit denen die “Bild”-Justiziare die Veröffentlichung der drastischen Aufnahmen rechtfertigen, sind atemberaubend. Der Presserat gibt sie so wieder:

Die Rechtsabteilung der Zeitung hält das Foto mit dem irakischen Soldaten für ein über den Tag hinaus wirkendes zeitgeschichtliches Dokument. Es zeige die Verrohung des Menschen im Krieg. Das Foto dokumentiere zudem den Hass, der einen Moslem dazu bringe, genau das Tier zu verspeisen, das in seiner Religion neben dem Schwein als besonders unrein gelte. Das Foto sei aktueller Informationsträger und erfülle eine nachrichtliche Funktion. Das blutige Ritual zeige, zu welchen Taten Soldaten im Krieg — namentlich, wenn er von Glaubensgegensätzen begleitet werde — fähig seien. Dies dürfe die Berichterstattung aufgreifen. Sie solle weder verschleiern, noch verharmlosen, sondern die Wirklichkeit so abbilden, wie sie sei.

Der Hass eines Moslems? Ein Krieg, der von Glaubensgegensätzen begleitet wird? Und all diese Informationen und Hintergründe entdecken erfahrene “Bild”-Leser zwischen den gerade einmal 20 Zeilen eines Artikels, in dem von Glauben und Religion nicht einmal die Rede ist?

Der Presserat sieht in den Fotos kein “zeitgeschichtliches Dokument”: “Es scheint sich hier um einen sehr speziellen Einzelfall zu handeln.” Das Veröffentlichen brutaler Bilder sei zwar ausnahmsweise zulässig, wenn sie zu einer politischen Debatte beitragen. Ein solches öffentliches Interesse sei aber nicht zu erkennen; die Darstellung sei unangemessen sensationell. Der Presserat sprach einen “Hinweis” aus.

Franz Josef Wagner und die “Monster” in der Psychiatrie

Und dann hatten die Mitglieder des ersten Beschwerdeausschusses des Presserates noch eine Aufgabe, um die man sie wirklich nicht beneiden kann: Sie mussten versuchen herauszufinden, was Franz Josef Wagner in einer seiner “Bild”-Kolumnen eigentlich sagen wollte. Am 26. März 2008 schrieb er an den damals noch unbekannten Täter, der einen schweren Holzklotz von einer Autobahnbrücke bei Oldenburg geworfen und damit eine Frau getötet hatte. Unter der zu seinem Markenzeichen gewordenen Umgehung von grammatischen und logischen Regeln formulierte Wagner:

Mehrere Menschen, darunter Vertreter sozialpsychiatrischer Einrichtungen und Verbände, beschwerten sich beim Presserat darüber, dass Wagner psychisch kranke Menschen als “Monster” bezeichne. Einer fühlte sich an die Nazi-Zeit erinnert, zumal schon am Beginn des Beitrages von einer Art Sippenhaft gesprochen werde; ein anderer sah in Wagners Text eine menschenverachtende Diffamierung von Personen, die psychisch krank sind und Hilfe in psychiatrischen Einrichtungen suchen.

Die Rechtsabteilung der “Bild”-Zeitung hatte für die insgesamt vier Beschwerdeführer eine überraschende Antwort: Wagner habe gerade nicht psychisch kranke Menschen, sondern Kriminelle als “Monster” bezeichnet. Die Justiziare verstiegen sich sogar zu der — vermutlich auch für Wagner selbst überraschenden — These, seine Kolumne habe einen gedanklichen “roten Faden”: Der Autor beklage, dass selbst Straftäter, die gröbste Verbrechen begehen, immer irgendwie durch “mildernde Umstände” exkulpiert würden. Erwachsene Täter, die man aufgrund ihrer Verbrechen nur noch als “Monster” bezeichnen könne, schicke man nicht ins Gefängnis, sondern zur Behandlung in die Psychiatrie. Wagners Fazit laute: Verbrechen wie die des “Holzklotzwerfers” würden nicht wirksam bekämpft; ein nächster Fall sei zu befürchten. Dass einige der Beschwerdeführer die räumliche Nähe der Begriffe “Monster” und “Psychiatrie” in dem Kommentar als Erinnerung an die Nazi-Zeit “hochschraubten”, betrachte man als polemische Übertreibung im Rahmen ihrer politischen Agitation, erklärte die Rechtsabteilung des Verlages, den man ja in Sachen “politischer Agitation” getrost als Experten betrachten darf.

Und der Presserat? Er hält den Nazi-Vorwurf für überzogen und stellt sicherheitshalber fest, dass Wagners Text mehrere Deutungsmöglichkeiten habe und man deshalb nicht zwingend davon ausgehen könne, dass Wagner alle Patienten einer Psychiatrie als “Monster” bezeichnet habe:

Eine weitere Deutungsmöglichkeit ist jedoch, dass hier nur Menschen als “Monster” bezeichnet werden, die monströse Taten begehen. Ein so monströses Verbrechen wie der Holzklotzanschlag auf eine Familie kann umgangssprachlich durchaus einem “Monster” zugeordnet werden. Die Feststellung des Autoren, “Monster werden an Händen und Füßen festgeschnallt”, ist anders zu beurteilen. Dies ist eine falsche Tatsachenbehauptung. Die Feststellung, dass Kranke in der Psychiatrie gefesselt würden, ist in dieser pauschalen Form falsch und verletzt Ziffer 2 des Pressekodex (Journalistische Sorgfaltspflicht). Sie kommt einer Schmähung der Institution Psychiatrie gleich und zieht einen Hinweis nach sich.

Der Presserat erklärt also Wagners Satz “Monster werden an Händen und Füßen festgeschnallt” für sachlich falsch und diffamierend, indem er das Wort “Monster” als Synonym für “psychisch Kranke” interpretiert, glaubt aber nicht, dass Wagner “Monster” als Synonym für “psychisch Kranke” gebraucht habe. Irre.

Lachen, nicht denken

Jedes Jahr das gleiche Schauspiel: Kurz bevor die echten Nobelpreisträger bekannt gegeben werden, versammelt sich im Sanders-Theater der Harvard-Universität ein buntes Forscher-Völkchen, um die Skurrilitäten des Wissenschaftsbetriebs mit dem Ig-Nobel-Preis zu feiern. Gewürdigt werden wissenschaftliche Arbeiten, die “zuerst zum Lachen und dann zum Denken” anregen sollen.

Das mit dem Lachen scheint prima zu funktionieren: Kaum eine Redaktion lässt es sich entgehen, über die skurrilen Mischung aus BH und Gasmaske zu berichten, deren Schöpferin einen Ig-Nobel-Preis verliehen bekam. Mit dem Denken hapert es dann schon eher. So findet sich auf Bild.de diese Zusammenfassung einer Studie eines weiteren Preisträger-Teams:

Preis für Physik: Den Physikpreis verdienten ein US-Forscherteam. Katherine K. Whitcome (University of Cincinnati, USA), Daniel E. Lieberman (Harvard University, USA) und Liza J. Shapiro (University of Texas, USA) untersuchten, warum schwangere Frauen nicht umkippen. Sie fanden heraus, dass schwangere Frauen deshalb nicht vornüber fallen, weil sie einen Rückenwirbel mehr haben als Männer und deshalb biegsamer sind.

Das ist natürlich Unsinn. Schwangere Frauen haben so viele Wirbel wie nicht-schwangere, und die haben so viele Wirbel wie Männer. Der Lendenwirbel-Bereich ist bei Frauen lediglich etwas anders geformt, was die geehrten Forscher untersucht hatten. Ihre Ergebnisse waren schon kurz, nachdem sie im Jahr 2007 in der Zeitschrift Nature erschienen, auch in deutschen Medien korrekt wiedergegeben worden.

Wer aber den zusätzlichen Rückenwirbel lediglich den berüchtigten Englisch-Kenntnissen von Bild.de zuordnen will, irrt. Die selbe Behauptung findet sich auch im “Hamburger Abendblatt”, bei n-tv.de, in der “Netzeitung” und sogar in der “Ärztezeitung”, die sie allesamt aus einer Meldung der Nachrichtenagentur dpa von vergangener Woche übernommen haben.

Mit Dank an Maja I. für den sachdienlichen Hinweis.

Nachtrag, 7.10.2009, 12:18 Uhr: Das “Hamburger Abendblatt”, n-tv.de und die “Ärztezeitung” haben die entsprechende Passagen inzwischen ohne weiteren Kommentar korrigiert oder ganz gestrichen.

Wir haben bei der dpa angefragt, wie es zu diesem Fehler kommen konnte. Das dpa-Büro in New York schiebt die Verantwortung auf eine fehlerhafte Pressemitteilung, kann auf Nachfrage aber keinen solchen Text vorlegen. Auch beim Veranstalter ist eine solche Pressemitteilung unbekannt.

Nachtrag 2, 18:06 Uhr : Inzwischen hat auch die “Netzeitung” den Fehler entfernt.

Nachtrag 3, 20:30 Uhr: Die dpa hat ihre Quellen nochmals überprüft und festgestellt, dass der Fehler nicht aus einer Pressemitteilung stammt. Zusätzlich hat die Presseagentur auch eine Berichtigung ihrer Meldung veröffentlicht.

Bild  

Den Falschen zum Todesschützen gemacht

Nicht weniger als drei Autorenkürzel stehen unter dem “Bild”-Artikel über das Familiendrama, bei dem ein Mann am vergangenen Samstag in Sundern seine Frau auf offener Straße erschoss. Aber es waren entweder nicht genug — oder einfach zu viele “Bild”-Autoren beteiligt, um einen gravierenden Fehler zu verhindern: Den Täter mit seinem Bruder zu verwechseln.

“Bild” hat zwar den Nachnamen der Eheleute abgekürzt, aber sich — wie üblich — keine Mühe gemacht, die Beteiligten tatsächlich zu anonymisieren. Das Blatt nennt den ungewöhnlichen Vornamen des vermeintlichen Täters, schreibt, wo er arbeitet und zeigt ein Foto des Hauses der Familie.

Das ist in diesem Fall besonders dramatisch, denn die Namen sind nicht die von Täter und Opfer, sondern vom Bruder des Täters und seiner Frau. Auch die “Hintergründe” des Artikels basieren teilweise auf dem Leben des Bruders.

Man kann sich ausmalen, wie sehr das das Leid der überlebenden Verwandten vergrößert hat, dass sie in ihrer Situation nun auch noch als Täter und Todesopfer dargestellt wurden. Und das nur, weil eine große Boulevardzeitung nicht anonymisieren will und nicht recherchieren kann.

PS: Heute korrigiert sich “Bild” am Ende eines weiteren Artikels zum Thema:

Durch eine bedauerliche Namensverwechslung war der engagierte Trainer des Fußballvereins […] bei BILD.de als Täter und seine Frau als Opfer bezeichnet worden. Beide haben mit dem Verbrechen nichts zu tun.

Prantl, Nerds, Resolutionen

1. “‘Das Internet’ gibt es nicht”

(spiegel.de, Christian Stöcker)

“Es wird viel geschimpft auf ‘das Internet’ in diesen Tagen. Es macht dumm, es ist der Feind des Geistes, es tut demokratisch, ist es aber nicht, behaupten seine Kritiker. Alles Quatsch, findet Christian Stöcker – ‘das Internet’ existiert gar nicht.”

2. “Leidenschaft statt Larmoyanz, Haltung statt Beliebigkeit”

(sueddeutsche.de, Heribert Prantl)

Der anlässlich der Jahrestagung von Netzwerk Recherche gehaltene Vortrag von Heribert Prantl (pdf, 48kb) wurde in einen lesenswerten Text gegossen. Prantl hält Zeitungen wie FAZ, Spiegel, Zeit, Welt, Frankfurter Rundschau und die taz für “systemrelevant”. Dennoch spricht er sich ausdrücklich gegen Staatsfinanzierungen aus: “Keine Solidaritätsabgabe für die Presse, keine Staatsbürgschaft, kein Hilfspaket und keinen Notgroschen. Den Zeitungen fehlte es gerade noch, dass es bei ihnen zugeht wie beim ZDF (…).”

3. “Die korrigierte Resolution im Wortlaut”

(blogbar.de, Don Alphonso)

Schutz im Internet” fordern die deutschen Verleger, unter anderem Axel Springer, Bauer, Gruner + Jahr, der Spiegel- und der Zeitverlag. Don Alphonso kommentiert die einzelnen Sätze der Resolution.

4. “10 Sätze zur Zukunft des Journalismus”

(agorazein.de)

“10 Sätze zur Zukunft des Journalismus, auf die ich beim Netzwerk-Recherche-Tag 09 vergebens gehofft habe.”

5. “Schlechte Quoten für das RTL-Special zur Becker-Hochzeit”

(meedia.de, Stefan Winterbauer)

“Die Hochzeitsvorbereitungen von Ex-Tennisspieler Boris Becker und seiner Verlobten Lilly Kerssenberg interessierten am Sonntag nur 1,29 Millionen 14- bis 49-jährige Zuschauer. (…) Der Fall Becker ist ein Lehrstück für Selbstvermarktung, die an ihre Grenzen stößt.”

6. “Can Computer Nerds Save Journalism?”

(time.com, Matt Villano)

“A cadre of newly minted media whiz kids, who mix high-tech savvy with hard-nosed reporting skills, are taking a closer look at ways in which 21st century code-crunching and old-fashioned reporting can not only coexist but also thrive.”

dpa  etc.

Piratenpartei bringt Medien zum Kentern

In Schweden hat die Piratenpartei auf Anhieb einen Sitz im Europaparlament erobert. Auch in Deutschland stimmten gestern bemerkenswerte 0,9 Prozent für diese junge Partei, die von der “Bild”-Zeitung “Gaga-Verein” genannt wird.

Eigentlich war es also eine gute Idee von der deutschen Nachrichtenagentur dpa, kurz zu erklären, wer diese Piraten sind. Wenn sie es denn getan hätte. Stattdessen veröffentlichte sie gestern Abend um 21.22 Uhr und noch einmal um 22.50 Uhr folgenden Text:

Schwedische Internet-Piraten im EU-Parlament

Bei den Europawahlen in Schweden hat die für kostenlose Downloads aus dem Internet eintretende Piratenpartei aus dem Stand 7,4 Prozent der Stimmen geholt. (…) Hintergrund für die Kandidatur war die Verurteilung von vier Verantwortlichen der Internet-Tauschbörse The Pirate Bay wegen Verletzung des Urheberrechts. Die Börse ermöglicht das kostenlose Herunterladen von Musik, Filmen und Computersoftware aller Art. (…)

Richtig ist, dass die Piratenpartei für eine radikale Änderung des Urheberrechts kämpft. Das auf “kostenlose Downloads aus dem Internet” zu reduzieren, ist schon gewagt. Eindeutig falsch ist aber die Behauptung, dass das Pirate-Bay-Urteil Hintergrund der Kandidatur war. Das ist schon zeitlich unmöglich, weil es erst am 17. April 2009 fiel. Die Piratenpartei wurde am 1. Januar 2006 gegründet und hatte noch im selben Jahr angekündigt, bei der Europawahl antreten zu wollen. Piratenpartei und Pirate Bay entstammen derselben Bewegung, sind aber nicht direkt miteinander verbunden.

Weil sich die professionellen deutschen Online-Medien auf die ungeprüfte Weitergabe solcher Meldungen spezialisiert haben, stehen die Fehler von dpa heute überall: Auf den Online-Seiten von “Focus Online”, der “Frankfurter Neuen Presse”, der “Kieler Nachrichten”, der “Gießener Allgemeine”, der “Leipziger Volkszeitung”, der “Welt”, der “Süddeutschen Zeitung” und vielen anderen.

Die meisten haben auch gleich Foto und Bildtext von dpa übernommen, in dem es schlicht und falsch heißt:

Nachtrag, 15 Uhr. Um 13:21 Uhr hat dpa die Meldung teilweise korrigiert. In einer Berichtigung heißt es nun: “Hintergrund für den Erfolg der Kandidatur war die Verurteilung von vier Verantwortlichen der Internet-Tauschbörse The Pirate Bay wegen Verletzung des Urheberrechts. ”

Eine halbe Stunde später veröffentlichte die Nachrichtenagentur eine neue, differenziertere Meldung “Schwedische Piratenpartei auf Erfolgswelle”, mit der die meisten der oben genannten Online-Medien die alte Meldung ersetzt haben. “Focus Online” hat stattdessen eine etwas kryptische Korrektur veröffentlicht.

Die Online-Redaktion der “Frankfurter Neuen Presse” reagiert angesäuert auf die Kritik an der falschen Meldung:

Als ob wir diese Meldung wider besseres Wissen veröffentlicht hätten. Wie sollen Kunden von Nachrichtenagenturen, also Zeitungen, jede einzelne Meldung überprüfen? Hunderte, tausende täglich. Die Agenturen sind dazu da, dass sie uns korrekt recherchierte Meldungen und Artikel zukommen lassen. (…)

Mit Dank an David K. und Michi!

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No Son Of Mine

Im Berliner Abgeordnetenhaus ist kürzlich eine Abgeordnete gebeten worden, ihr Baby in einem Nebenraum oder doch wenigstens in einer der hinteren Reihen des Plenarsaals zu stillen.

Diese Episode nimmt “Bild” zum Anlass, um sich in der Berliner Ausgabe unter der etwas übergeigten Überschrift

Baby-Zoff im Parlament - Spielgruppe Abgeordnetenhaus. Berlins Politikerinnen stimmen zwischen Windelwechsel und Stillen ab

nicht nur über die “Krabbelgruppe Parlament” lustig zu machen, sondern auch “Abgeordnete und ihre Sprösslinge” vorzustellen.

Wie egal der Zeitung dabei die konkreten Personen waren, zeigt der Fall von Fabian, Sohn der Grünen-Abgeordneten Lisa Paus:

Krabbelgruppe Parlament. Der kleine Fabian zieht seinen Papa Olaf Reimann (Grüne) an der Nase

Die Namen der Abgebildeten stimmen, doch ein entscheidendes Detail ist falsch.

Fabians Mutter Lisa Paus zu BILDblog:

Olaf Reimann ist unser Mitarbeiter für IT-Fragen — aber mitnichten der Vater des Kindes. Der tatsächliche Vater will trotz dieser “Enthüllungen” auf einen Vaterschaftstest verzichten. Sein Name ist Dietmar Lingemann.

Nachtrag, 31. Mai: Während Fabian bei Bild.de immer noch einen falschen Vater hat, hat “Bild” den Fehler in der Berliner Printausgabe inzwischen ausführlich korrigiert:

Reimann nicht Vater vom kleinen Fabian (4 Monate).

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Wie man das meiste aus Hartz IV rausholt

Am Montag stellte “Bild” den Lesern Familie Fesselmann aus Gelsenkirchen vor. Die fünfköpfige Familie lebt von Hartz IV, konnte aber über 100.000 Euro Schulden abbauen und noch was auf die hohe Kante legen. Das schreibt zumindest “Bild”:

"Ich verstehe dieses Gejammer nicht. Hartz IV reicht!" Das sagt nicht etwa ein Politiker, sondern der ALG-II-Empfänger Wilfried Fesselmann (49) aus Gelsenkirchen. Der gelernte Kaufmann ist seit 2001 arbeitslos. Seit 2004 leben er, Ehefrau Marion (44) und ihre drei Kinder von Hartz IV. Insgesamt bekommt die Familie 1335 Euro (Regelleistung) plus 700 Euro für Miete und Nebenkosten.

Dass die Familie seit 2004 von Hartz IV leben soll, das es erst seit 2005 gibt, ist eher zweitrangig — und in der Online-Version des Artikels auch stillschweigend korrigiert worden.

Auch der Umstand, dass die Fesselmanns freimütig erklären, fast die Hälfte des Lebensmittelgeldes sparen zu können, indem sie zu einer “Tafel” gehen, soll uns an dieser Stelle nicht weiter stören.

Viel interessanter ist das, was “Bild” nicht schreibt: Bei den Fesselmanns handelt es sich nämlich nicht um eine gewöhnliche Hartz-IV-Familie — sie sind eine Art Vorzeige-Hartz-IV-Familie auf großer Medientournee.

Beim Videoportal MyVideo standen bis vor kurzem mehr als 50 Videos online, die meisten unter dem Benutzernamen “FamilieFesselmann” hochgeladen. Und da sah man dann: Familie Fesselmann bei “Surprise, Surprise” mit Oliver Geissen auf RTL, Familie Fesselmann bei “We Are Family” auf ProSieben, Vater Fesselmann in der RTL2-Quizshow “Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit” (wo er nichts gewann) oder die eigene Familie-Fesselmann-“Wochenserie” auf Sat.1.

Videos von und mit Familie Fesselmann bei MyVideo.de

Die Videos sind inzwischen fast alle bei MyVideo verschwunden, aber über die Video-Suchmaschine Truveo noch auffindbar. Im Blog “Notatio” hat sich der Autor Kurt die Mühe gemacht, einen Teil der Videos anzusehen und stellte dabei unter anderem fest, dass Vater Fesselmann je nach Fernsehsendung früher ganz unterschiedliche Berufe gehabt haben soll (bei “Bild” ist er einfach ein “gelernter Kaufmann”).

Auf ihrer eigenen Website stellt sich Familie Fesselmann nicht nur selbst vor (und offenbart dabei erstaunliche Inkonsistenzen etwa bei der Anzahl der eigenen Kinder), sie geht auch recht offensiv mit den eigenen Medienauftritten (die bis ins Jahr 1997 zurückreichen) um:

Selbstdarstellung der Familie Fesselmann

Es gibt Ankündigungen für den Auftritt bei “Teenieterror im Kinderzimmer” auf ProSieben, für das eigene Buch “Besser leben mit Hartz IV” (“Es ist ein Buch mit vielen Spar-Tipps für alle. Berichte in den Medien folgen”), Fotos von Dreharbeiten zu “Alarm für Cobra 11” und mit Toto & Harry und eher kryptische Hinweise wie diese:

15.März 08 : Streit mit RTL endlich beigelegt. Hier kam ein tolles Überraschungs-Paket und ein 2-seitiger Entschuldigungsbrief des Senders an. Drehverbot wurde aufgehoben.

(…)

30.April : Anfrage von RTL zur neuen TalkShow Natasha Zuraw haben wir abgelehnt. Zum Glück Talkshow wird mangels schlechter Quoten noch Ende Mai eingestellt.

Auf der Startseite findet sich über dem großen “Bild”-Artikel der folgende aktuelle Hinweis:

Liebe Besucher
selbstverständlich haben wir nicht mit der Regelleistung die Schulden bezahlt. Diese haben wir durch Vergleiche gemindert und zahlen kleine Raten. Besser leben mit Hartz4, bedeutet einfach nur sich das Geld besser einzuteilen. Es wird auch niemandem etwas abgezogen, im Juli gibt es für jeden HartzIV-Empfänger 8 € mehr. Auch die Geschäftsführung der ARGE weiss darüber Bescheid.
Alle Einkommen aus dem Buch werden ordnungsgemäß versteuert und der ARGE gemeldet.

Es wäre natürlich hilfreich und weit weniger irreführend und manipulativ gewesen, wenn “Bild” auf die eine oder andere Besonderheit dieser Familie eingegangen wäre und nicht so getan hätte, als wenn man mit Hartz IV nicht nur ganz okay leben, sondern auch noch innerhalb von 52 Monaten (die im Fall der Fesselmanns 69.420 Euro Arbeitslosengeld II bedeuten) mehr als 100.000 Euro Schulden abbezahlen kann.

Und auch die Überschrift hätte irgendwie anders lauten müssen:

Jammern gilt nicht - Wir leben von Hartz IV und können sogar noch sparen

Mit Dank an die vielen Hinweisgeber.

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