Katastrophen-Journalismus heute – eine Anleitung

Sie sind ein deutsches Medium und fragen sich, wie Sie nach einem schweren Unglück trotz der Undurchsichtigkeit und Hektik in kurzer Zeit möglichst viele relevante Informationen liefern Klicks abstauben?

Da können wir helfen.

Wir haben uns die Berichterstattung nach dem Zugunglück in Bad Aibling genauer angeschaut und daraus ein paar hilfreiche Regeln abgeleitet. Wenn also das nächste Mal eine Katastrophe eintritt:

1. Atmen Sie auf keinen Fall tief durch. Beeilen Sie sich. Hauen Sie sofort alles raus, was Sie in die Finger kriegen. Alles. Sofort!


(maz-online.de, Dienstag)


(maz-online.de, Mittwoch)

***

2. Schildern Sie immer wieder ganz ausführlich und in riesiger Aufmachung die grausamen Details.

Wenn der Polizeisprecher sagt:


(n24.de)

… dann besorgen Sie sie woanders.


(“Focus Online”)


(n24.de)


(ovb-online.de)


(tz.de)

***

3. Sie sind ein Fachmedium, das thematisch eigentlich nichts mit der Sache zu tun hat? Egal.


(“Sport 1”)


(“Focus Money”)

***

4. Fangen Sie möglichst früh an, über die Ursachen und Hintergründe zu spekulieren. Raten Sie einfach drauflos.


(Bild.de)


(stuttgarter-zeitung.de)


(Bild.de)

***

5. Benutzen Sie die Spekulationen über die Ursache als Clickbait.

***

6. Benutzen Sie alles als Clickbait.


(“Focus Online”)


(“Huffington Post”)


(“Huffington Post”)

***

7. Ein Augenzeugenvideo vom Unglück taucht auf? Clickbait!


(Bild.de)


(abendzeitung-muenchen.de)


(express.de)

***

8. Ausschnitte! Zeigen Sie Ausschnitte!


(mopo24.de, Unkenntlichmachung von uns)


(“Tagesschau”, Unkenntlichmachung von uns)


(RTL, Unkenntlichmachung von uns)


(“Bild”, Unkenntlichmachung von uns)

Pro-Tipp: Laden Sie das Video auf ihre eigene Seite hoch und schalten Sie Werbung davor. So verdienen Sie jedes Mal mit, wenn sich jemand das Schock-Video angucken will.


(welt.de)

Um die Nörgler wegen des Videos zu besänftigen, schwurbeln Sie sich eine Rechtfertigung zusammen oder denken Sie sich irgendeinen Vorwand aus, warum Sie die Bilder zeigen.


(merkur.de, Unkenntlichmachung von uns)


(Unkenntlichmachung von uns)

***

9. Empören Sie sich über Medien, die die Bilder gezeigt haben. Ignorieren Sie die Tatsache, dass Sie sie selbst gezeigt haben.

***

10. Lassen Sie Beinahe-Opfer zu Wort kommen, die zwar überhaupt nicht dabei waren, aber fast.


(tz.de, Unkenntlichmachung von uns)

***

11. Fotografieren Sie Trauernde.


(Bild.de, Unkenntlichmachung von uns)

***

12. Wühlen Sie im Privatleben der Opfer und veröffentlichen Sie alles, was Sie finden können.


(tz.de)


(merkur.de, Unkenntlichmachung von uns)


(“Focus Online”)


(“Bild”, Unkenntlichmachung von uns)


(Bild.de, Unkenntlichmachung von uns)


(Bild.de, Unkenntlichmachung von uns)


(Bild.de, Unkenntlichmachung von uns)


(Bild.de, Unkenntlichmachung von uns)


(Bild.de, Unkenntlichmachung von uns)


(“Bild am Sonntag”, Unkenntlichmachung von uns)

***

13. Bedrängen Sie die Angehörigen, Freunde, Nachbarn und Kollegen der Opfer. Nehmen Sie keine Rücksicht.


(“Bild am Sonntag”, Unkenntlichmachung von uns)


(Bild.de, Unkenntlichmachung von uns)

***

Alles beherzigt? Glückwunsch! Damit dürften Sie Ihre Reichweite erheblich vergrößert haben. Und das Leid vieler Menschen. Aber so ist das eben.

Mit Dank auch an Matthias K. und Michael H.

Wahrheit und Lüge, Augenzeugen, USB-Infokrieg

1. Presse und Strafrecht
(zeit.de, Thomas Fischer)
Der Bundesrichter Thomas Fischer setzt seine Kolumne zum Teil “Recht und Medien” fort. Diesmal dreht sich alles um Wahrheit und Lüge. Und Fischer breitet seine Gedanken in der Art aus, die so typisch für ihn ist: In einer Mischung von juristischer Fachkenntnis, philosophischen Überlegungen und Ironie. Sein wie immer lesenswerter Beitrag endet mit den Worten: “”Wahrheit” entsteht nicht da draußen in der Kälte, wie Banane, Fruchtsorbet oder Ergebnisse von Bundesligaspielen, und hat uns gefälligst geliefert zu werden. Wahrheit und Lüge sind vielmehr ein Teil von uns selbst. Nachrichten an sich sind wie Keime in der Luft: Erst in einer Petrischale formt sich der Bakterienteppich.”

2. Die Angst der Öffentlich-Rechtlichen vor einer Klage
(rnd-news.de, Ulrike Simon)
“Möchte man als politischer Journalist wirklich für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk arbeiten?” Diese Frage stellt sich Ulrike Simon, als sie das „Redaktionelle Gesamtkonzept“ des MDR zur Landtagswahl am 13. März in Sachsen-Anhalt liest. Alles, aber auch wirklich alles sei auf diesen 41 Seiten geregelt. Die Furcht vor möglichen Klagen hätte dazu geführt, dass sich die Öffentlich-Rechtlichen juristisch hieb- und stichfest gegen alles nur Erdenkliche wappnen würden. Der MDR sei nun der erste Sender, der das öffentlich mache.

3. Im Aufwind des Shitstorms
(freitag.de, Konstantin Nowotny)
Ein Mann ruft zu einem internationalen Treffen der Vergewaltigungsbefürworter auf. Natürlich sorgt der Aufruf für netzübergreifende Empörung und breiten Widerstand. Die Aktion beschert dem Mann Gewalt- und Todesdrohungen, aber auch PR. Schließlich gibt er eine Pressekonferenz und sagt die Veranstaltung ab. Der Shitstorm hätte sich für den Mann gerechnet, er sei mit Aufmerksamkeit und Klicks belohnt worden, so der Autor des Artikels. Fraglich sei deshalb, ob man auf jede Provokation reagieren müsse: “Erinnern wir uns daran, dass sich eine Haltung auch ausdrücken lässt, indem man etwas ignoriert.”

4. Warum ich dieses Bild erst jetzt veröffentliche
(wuv.de, Petra Schwegler)
Ein 17-Jähriger übersteht das Zugunglück von Bad Aibling nahezu unverletzt. Seine Mutter ist erfahrene Medienjournalistin, und weil sie die Mechanismen der Branche seit Jahren kennt, befürchtet sie das Schlimmste. Und erlebt tatsächlich, wie eine aggressive Pressemeute den Überlebenden bereits wenige Stunden nach dem Unfall Interviews abpresst. Und auch der Sohn sei in seiner Rolle als “traumatisierter Augenzeuge” ein gesuchter Gesprächspartner der seriösen Medien. Mittlerweile hätte ein großer Sender für ein Gespräch angefragt. Über das ob und wie würde man nun nachdenken.

5. Folgen einer Pressekonferenz
(welt.de)
Anlässlich des Türkei-Besuchs von Angela Merkel besucht Deniz Yücel, der zuständige Korrespondent der “Welt”, die gemeinsame Pressekonferenz von Bundeskanzlerin und türkischen Ministerpräsident Ahmet Davutoglu. Dort stellt er unangenehme Fragen, zum Beispiel zur Pressefreiheit in der Türkei (lt. “Reporter ohne Grenzen” im internationalen Ranking auf Platz 149). Daraufhin muss er sich von Regierung und türkischen Medien tagelang als “Religionfeind”, “PKK-Anwalt”, “Agent Provocateur” und “anti-türkisch” beschimpfen lassen.

6. Menschenrechtler wollen Kim Jong-un mit USB-Sticks
stürzen

(wired.de)
Eine Menschenrechtsorganisation und eine Non-Profit-Organisation aus dem Silicon Valley haben sich für eine ungewöhnliche Aktion zusammengetan: Unter dem Namen “Flash Drives for Freedom” will man für diesen Zweck gespendete USB-Sticks und Speicherkarten ins abgeschottete Nordkorea schmuggeln. Die Datenträger sollen als Informationsvermittler dienen und das Tor zur sonst sorgsam abgeschotteten Welt öffnen. Deshalb wolle man sie mit südkoreanischen Fernsehsendungen, westlichen Medien und der koreanischen Version der Wikipedia bespielen.

Drehbuchautoren, Gefallsucht, Unglücksvideos

1. Eine Branche in Angststarre
(faz.net, Dominik Graf)
In der “FAZ” schreibt sich Filmregisseur Dominik Graf den Frust von der Seele. Drehbuchautoren würden wie Werkzeuge behandelt, die von den Entscheidern ausgetauscht werden würden, wenn sie nicht funktionieren. “Die Debatten-Wütigkeit über Stoffe, Dramaturgien, Hauptfiguren, über einzelne Sätze nimmt überhand. Finale Ablehnungen von Drehbüchern und Projekten werden gar nicht mehr bekanntgegeben, es ruft den Autor einfach keiner mehr an. Und wenn er nachfragt, so bekommt er gequälte Auskünfte.” Jedes Fiction-Projekt (mit Ausnahme von “Tatort” und “Polizeiruf”) sei bedroht, weil das Geld in die Bürokratie wandere. Die gesamte Branche befände sich in einer Angststarre.

2. Versteckte Furcht – Russische Medien und der Islam
(de.ejo-online.eu, Edith Luschmann & Henrike Wiemker)
Die Autorinnen beschäftigen sich mit dem Umgang russischer Medien mit dem Islam. Obwohl dieser schon immer zu Russland gehört hätte, gäbe es in der Bevölkerung zunehmend Spannungen, über die russische Medien jedoch kaum berichten würden. Im Gegenteil: In den letzten Jahren hätte es eine verstärkt islamfeindliche Berichterstattung gegeben, vor allem in Zusammenhang mit Migrationsthemen. Die Autorinnen wünschen sich zur Verständnisförderung eine bessere mediale Sichtbarkeit des Islam in Russland.

3. Weil ihnen die Darstellung nicht gefiel – Bundesbeamte änderten 5500 Wikipedia-Artikel
(aargauerzeitung.ch, Sven Altermatt)
In der Schweiz sollen Bundesbeamte Wikipedia-Artikel so oft zu ihren Gunsten abgeändert haben, dass die Online-Enzyklopädie die Bundesserver zeitweise blockierte. So habe ein Beamter beispielsweise Informationen zur Vorratsdatenspeicherung gelöscht und durch einen Allgemeinplatz ersetzt. Dies fiel den Wikipedia-Administratoren auf, und die Änderung konnte rückgängig gemacht werden. Seit 2003 sollen Bundesangestellte an mehr als 5.500 Artikeln Änderungen vorgenommen haben. Viele der Bearbeitungen seien profaner Natur, aber bei einigen Artikeln handele es sich um gezielte Schönfärberei. Ein Wikipedia-Administrator hat mittlerweile jedoch eine Gegendarstellung veröffentlicht, in der er das Geschehen relativiert.

4. «Fatale Allianz zwischen Medien und Politik»
(medienwoche.ch, Lothar Struck)
Die Medienwoche beschäftigt sich ausführlich mit dem neuen Buch des TV-Journalisten Wolfgang Herles. “Die Gefallsüchtigen: Gegen Konformismus in den Medien und Populismus in der Politik ” heißt die “längst fällige Medienkritik” (Verlagsangabe) des Autors, der noch vor wenigen Tagen selbst mit gefallsüchtigen und unzutreffenden Behauptungen über eine angeblich gelenkte Presse auffiel. Der Rezensent attestiert dem Werk trotz einiger Schwächen “trotz allem eine interessante, wenn auch emotionale Sichtweise eines Status quo des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Deutschland.”

5. Washington Post’s ‘Bandito’ Tool Optimizes Content For Clicks
(wsj.com, Jack Marshall)
Die berühmte “Washington Post” (Auflage werktags: 400.000, sonntags: 600.000) befindet sich seit 2013 im Besitz von Amazon-Gründer Jeff Bezos. Seit der Übernahme hat die Zeitung einiges in ihren digitalen Auftritt investiert. Nun hat man ein Tool installiert, das die Überschriften der Artikel optimiert. Die Redakteure verpassen ihren Artikeln unterschiedliche Überschriften, Teasertexte und Bilder. Die Software “Bandito” wertet nach der Veröffentlichung aus, welche Versionen von den Lesern bevorzugt angeklickt werden und zeigt diese dann verstärkt allen anderen Lesern an.

6. Das Augenzeugenvideo aus dem Zug
(blog.tagesschau.de, Kai Gniffke)
Am praktischsten wären ja Beichtstühle mit nur einem Platz, am besten einem Drehhocker. Dort könnte man wichtigtuerisch seine moralisch-ethischen Gedankengänge und inneren Konflikte ausbreiten. Anschließend würde man dem Hocker einen Schubs in die andere Richtung geben und sich, je nach Laune, selbst applaudieren oder mit salbungsvollen Worten die Absolution erteilen. Und am tollsten wäre es, wenn das alle sehen und miterleben könnten. Der Chefredakteur der “Tagesschau” hat sich einen solchen Platz installieren lassen. Er nennt ihn “Blog”. Dort gniffkelt er über die Fragestellung, ob man private Youtube-Videos von Unglücken für Nachrichtensendungen ausschlachten darf. Um es vorwegzunehmen: Man darf es natürlich, und es ist zutiefst menschlich, wenn man als Tagesschau-Chef von sich selbst und seinen hehren Absichten (“Informationsauftrag”, “Respekt vor den Opfern” etc.) etwas gerührt ist. Und zum Schluss bedeutungsvoll und geradezu von geistlicher Gnade erfüllt, nicht über jene Person urteilen will, die das “kaum zu ertragende” Ursprungs-Unfallvideo samt erwähnter wehklagender Opfer aufgezeichnet und auf Youtube hochgeladen hat. PS: Veröffentlicht hat die “Tageschau” dann übrigens folgendes Gaga-Video mit dem Informationsgehalt einer… Ach, sehen Sie selbst.

Medien ermitteln: Es war menschliches Versagen!

Gestern Abend berichtete das „Redaktionsnetzwerk Deutschland“ (die Zentralredaktion der Madsack Mediengruppe) „exklusiv“ unter Berufung auf einen Ermittler beim Zugunglück in Bad Aibling:

Die Fehlentscheidung eines Fahrdienstleiters im Stellwerk von Bad Aibling ist offenbar der Grund für das Zugunglück mit mindestens zehn Toten. Dies berichten die Zeitungen des RedaktionsNetzwerks Deutschland, dem mehr als 30 Tageszeitungen angehören, unter Berufung auf Ermittlerkreise.

Und ruck, zuck stand es überall:



15 Minuten später twitterte „Spiegel Online“:

Demnach wies die Polizei die Berichte …

als Spekulation zurück. Die Behörden stünden am Anfang ihrer Ermittlungen. Man müsse jetzt die Auswertung der Blackboxes abwarten, sagte ein Sprecher des Polizeipräsidiums Oberbayern Süd SPIEGEL ONLINE.

Keine Stunde später:

In der Zwischenzeit hatte auch die dpa gemeldet, sie habe „aus zuverlässiger Quelle“ erfahren, dass “menschliches Versagen” die Ursache sei. Das reichte dann auch “Spiegel Online”, um auf der Titelseite zu verkünden:

Die Polizei wehrt sich unterdessen nach Kräften gegen die Gerüchte. Gestern schrieb sie in einer Pressemitteilungen:

Zur genauen Ursache können derzeit noch keine Aussagen getroffen werden, die Ermittlungen stehen hier noch am Anfang.

Dem BR sagte ein Polizeisprecher gestern Abend:

“Das sind reine Spekulationen, werfen Sie das weg, das weisen wir zurück”. Die Ermittlungen stünden noch völlig am Anfang.

Heute Morgen noch eine Pressemitteilung:

Zur genauen Ursache können derzeit noch keine Aussagen getroffen werden, die Ermittlungen stehen hier noch am Anfang.

Heute Nachmittag noch eine:

Nach der Bergung der Toten und Verletzten und des Streuguts am gestrigen Tag, stehen für Staatsanwaltschaft und Polizei jetzt die Sicherung von Beweismitteln und die rechtsmedizinischen Untersuchungen im Vordergrund. Darüber hinaus müssen natürlich alle Zeugen, vor allem die Zuginsassen, nach und nach vernommen werden und Sachverständige müssen mit der Auswertung von Beweismitteln und der Erstellung von Gutachten ihre notwendigen Beiträge liefern.

Die Ermittlungen werden kompliziert, aufwändig und zeitraubend. Aussagen zur Unglücksursache können und werden deshalb seitens der Behörden derzeit keine getroffen. Es wird deshalb gebeten, von Nachfragen hierzu bei Polizei und Staatsanwaltschaft abzusehen, zu gegebener Zeit äußern sich die Behörden dazu. 

Können sie sich sparen. Die Ursache steht ja schon fest:




Und auch der Schuldige ist schon gefunden:





Oder auch:

Viele Medien widmeten den Spekulationen (und widmen ihnen weiterhin) prominente Plätze auf der Startseite, präsentieren sie als „Ergebnisse“, obwohl die Ermittlungen immer noch laufen. Der Schuldige steht fest, und vermutlich ist es nur eine Frage der Zeit, bis wir Fotos von seinen heruntergelassenen Rollos sehen und erfahren, was eigentlich sein Lieblingspizzabäcker von der ganzen Sache hält.

Selbst wenn es stimmt, dass ein Verdacht gegen den Mann besteht — wie oft schon hat sich im weiteren Verlauf von Ermittlungen gezeigt, dass alles doch ganz anders war? So etwas braucht Zeit. Zeit, die viele Medien nicht haben sich nicht nehmen wollen.

Dabei sind Kompromisse so einfach.

„Zeit Online“ zum Beispiel stellte gestern Abend ganz unaufgeregt alle verfügbaren Informationen zusammen, auch die Gerüchte aus Ermittlerkreisen, verzichtete aber auf voreilige Schuldzuweisungen:

Auch tagesschau.de berichtete zwar über die Spekulationen und Mutmaßungen, nannte sie aber auch so:

Und einige spendierten immerhin ein Fragezeichen:

Inzwischen hat die Polizei noch einmal Stellung genommen:

“Wir wehren uns vehement gegen dieses Gerücht”, teilte ein Sprecher der Polizei am Unglücksort mit. (…) Zwar könne ein Fehler oder Vergehen des Diensthabenden nicht ausgeschlossen werden, doch stünden die Ermittlungen noch am Anfang. Der Fahrdienstleiter sei bereits unmittelbar nach dem Zusammenstoß am Dienstag befragt worden. Daraus habe sich “noch kein dringender Tatverdacht” ergeben, teilte die Polizei mit.

Mit Dank an Bernhard W. und Christian H.

Wildwechsel, Hoaxmap, Paygate am Rhein

1. Großer Wildwechsel
(faz.net, Michael Hanfeld)
Was sich zunächst wie eine Provinzposse liest, hat möglicherweise Auswirkungen auf die Pressefreiheit in Deutschland. Da soll ein Jäger wenig waidmänisch gehandelt haben, als er ein totes Reh ein paar hundert Meter weit hinter seinem fahrenden Auto über die Landstraße geschleift hat. In der Presse wird er daraufhin als “Rabauken-Jäger” bezeichnet. Der sich gekränkt fühlende Jägersmann zeigt den Journalisten wegen Beleidigung an und bekommt nun in zweiter Instanz überraschend Recht: Der Journalist wird zu einer Geldstrafe von tausend Euro verurteilt! Die in Mecklenburg-Vorpommern spielende Geschichte erinnert mit ihren Nebenhandlungen und politischen Verwicklungen an derbes Bauerntheater. Und sie ist noch lange nicht zu Ende: Die Zeitung geht in Revision, das Verfahren wird fortgesetzt.

2. Hoaxmap
(hoaxmap.org)
Bei Hoaxmap werden auf einer Deutschlandkarte Falschmeldungen und Gerüchte über Flüchtlinge regional zugeordnet und dokumentiert. Der Grund: Seit spätestens Mitte des vergangenen Jahres sei zu beobachten, dass zunehmend Gerüchte über Asylsuchende in die Welt gesetzt und viral verbreitet würden. Diese würden von gewilderten Schwänen bis zu geschändeten Gräbern reichen. In der “SZ” gibt es ein Gespräch mit der anonym bleiben wollenden Initiatorin über Hintergrund und Beweggründe der Aktion.

3. Das Bayerische Fernsehen feierte erstmal weiter
(blogmedien.de, Horst Müller)
Horst Müller beschäftigt sich auf seinem Medienblog mit der Berichterstattung über das Zugunglück bei Bad Aibling. Nach dem schweren Unfall hätte das Bayerische Fernsehen am Dienstagmorgen und am Vormittag knapp vier Stunden lang sein Programm planmäßig fortgesetzt. Besonders makaber sei, dass das öffentlich-rechtliche TV-Programm, in dessen Kernsendegebiet sich zweieinhalb Stunden zuvor ein schweres Zugunglück ereignet hätte, die Faschingssendung “Närrische Weinprobe” ausgestrahlt hätte.

4. Keine Flucht ins Privatrecht
(lto.de)
Wie ein neues, jedoch noch nicht rechtskräftiges Urteil des OLG Hamm bestätigt, haben Journalisten auch gegenüber privatrechtlich organisierten Unternehmen ein Auskunftsrecht. Im vorliegenden Fall musste ein zum Großteil in öffentlicher Hand befindliches Unternehmen Auskunft über den Abschluss und die Abwicklung von Verträgen geben und konnte sich nicht hinter dem Schutz von Geschäftsgeheimnissen verstecken.

5. Was Leser wirklich wollen
(blog.tagesanzeiger.ch, Michael Marti & Marc Fehr)
Das Schweizer Medienunternehmen “Tamedia” bietet eine App an, die jeden Tag um 12 Uhr mittags 12 ausgesuchte Geschichten aus Publikationen des Konzerns aufs Handydisplay sendet. In der App werden die Leser aufgefordert, den jeweiligen Beitrag zu bewerten, was rund 20 Prozent der Leser machen würden. Von der Auswertung des Feedbacks zeigt man sich teilweise überrascht: Die Leser wollten “lange Texte, relevante Themen, kaum Unterhaltung”. Generell würden klassische journalistische Tugenden wie Relevanz, Erzähltechnik, Ausgewogenheit und sprachliche Sorgfalt zu einer hohen Wertung führen. Die Datenlage lässt jedoch verschiedene Interpretationen zu und wird in den Kommentaren kontrovers diskutiert.

6. Ein Jahr scharfes Paygate bei Rhein-Zeitung.de: weniger Visits, größerer Umsatz
(blog.rhein-zeitung.de, Marcus Schwarze)
Die “Rhein-Zeitung” betreibt seit einem Jahr ein, wie sie es selbst nennt, “scharfes Paygate”. Wie sich das auf die Anzahl der Digital-Abos auswirkt, legt die Zeitung nun in ihrem Blog offen. Man muss den zuständigen Redakteur fast dafür bewundern, wie tapfer er den Schmerz über die ernüchternden Zahlen wegatmet und zwischendurch sogar lobende Worte für das Digital-Desaster findet. So hat die Zeitung im Januar pro Tag lediglich 23 Tageszugänge (“Tagespässe”) verkauft und gerade mal 56 Leser gönnten sich einen Monatspass. Noch trauriger wird es bei den Jahrespässen; auf jeden der 140 Redakteure kommen etwa vier Jahres-Abos. Das Tröstliche dabei: Wenn jeder Redakteur nur ein Abonnement auf den Namen seiner Tante abschließt, entsteht ein fettes Wachstum, und die “Rhein-Zeitung” kann nächstes Jahr neue Erfolgszahlen melden.

Drehbuchwunder, Sportastrologie, Roger Willemsen

1. Jürgen Werner – die Schreibmaschine
(sueddeutsche.de, Katharina Riehl)
Wir kennen die Namen vieler TV-Serien, doch welche Autoren hinter den Geschichten stecken, ist den wenigsten bekannt. Die “SZ” hat sich mit einem dieser TV-Autoren getroffen: Jürgen Werner, dem “Mann aus dem Maschinenraum des deutschen Fernsehwahnsinns”, der u.a. für die Nonnen-Soap “Um Himmels Willen” schreibt und hinter diversen Traumschiff-Episoden und unzähligen Geschichten des Halali-Epos “Forsthaus Falkenau” steckt. Doch damit nicht genug: Werner hat für “Schloss Einstein”, den “Bergdoktor” und “Schimanski” Stoffe entwickelt, in manchen Jahren verließen 20 bis 30 Drehbücher seinen Schreibtisch. Zur Zeit ist der umtriebige Autor mit dem PR-trächtigen Schwarzwald-Tatort (Hauptrolle: Harald Schmidt) beschäftigt.

2. Leute, benehmt euch wie die Deutschen!
(sueddeutsche.de, Viola Schenz)
Der WDR zeigt am Mittwoch, den 10.02.2016 um 22.55 Uhr eine Dokumentation über Flüchtlings-Schicksale. Das Besondere: Das Videomaterial kommt von den Flüchtligen selbst. “Wir sind in Flüchtlingsheime gegangen und haben die Menschen dort gefragt, ob sie Videomaterial zu ihrer Flucht haben”, so die verantwortliche WDR-Redakteurin. Die Flüchtlinge hätten bereitwillig Videomaterial beigesteuert. Die 90-minütige Doku soll Aufnahmen vom Alltagsleben in der alten Heimat, aber auch dramatische Szenen von der Flucht in überfüllten Transportern oder Schlauchbooten zeigen.

3. Die undurchsichtigen Verbindungen zwischen einem „Welt“-Redakteur und der AfD
(uebermedien.de, Boris Rosenkranz)
Die Geschichte hat das Zeug zu einem Politik-Krimi: Ein hochrangiger AfD-Politiker behauptet, ein zweifelhaftes Angebot eines “Welt”-Redakteurs erhalten zu haben. Dieser hätte sich als Berater angedient. Für ein monatliches Salär von 4.000 Euro und über Umwege zahlbar… Boris Rosenkranz hat versucht, Licht ins Dunkel zu bekommen und die Konfliktparteien um Auskunft gebeten. Die beteiligten Parteien reagierten jedoch merkwürdig schweigsam. Deshalb hat er weiter recherchiert und sich das privat betriebene Portal des Redakteurs bzw. das der Ehefrau näher angeschaut, über das es einige Merkwürdigkeiten zu berichten gibt. (teilw. Bezahlinhalt)

4. Landesverweis wegen investigativer Recherche
(medienwoche.ch, Dominique Strebel)
In der Schweiz sind neue Regelungen im Gespräch, die zu erheblichen Einschränkungen der Pressefreiheit führen und eine Gefahr für den Journalismus darstellen. Wird Ende Februar die sogenannte “Durchsetzungsinitiative” der rechtskonservativen SVP angenommen, können Journalisten ohne Schweizer Pass des Landes verwiesen werden. Als Strafe für Delikte, die sie als Teil ihrer Arbeit und des Berufsrisikos in Kauf nehmen müssen wie z.B. investigativen Recherchen. Würde die Neuregelung realisiert, würden ausländische Ressortleiter und Chefredakteure zudem für Rechtsbrüche von Untergebenen (egal, ob Schweizer oder Ausländer) haften und könnten ebenfalls ausgewiesen werden.

5. Stirb und Werde, auf und nieder, Astro-Blödsinn immer wieder – in den Nürnberger Nachrichten
(blog.gwup.net, Bernd Harder)
In der “Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften e.V.” (oder abgekürzt: “GWUP”) engagieren sich etwa 1.400 Mitglieder für Wissenschaft und kritisches Denken. Pressesprecher Bernd Harder betreut den Blog der Skeptiker-Organisation und berichtet dort über einen Fall von unkritischer Übernahme von Astro-Mumpitz: Die “Nürnberger Nachrichten” räumen einem “Sportastrologen” eine ganze Seite für seine Humbug-Analyse über die sportliche Zukunft des “Clubs” ein. Darunter befinden sich Weissagungs-Perlen im Der-Ball-ist-rund-Stil wie: “Ich würde schon sagen, dass der FCN gewinnt, es könnte aber auch ein Unentschieden werden. Das ist jetzt kein total eindeutiges Spiel. Aber das Wochenende darauf, da müsste es mit einem Sieg klappen.”

6. Roger Willemsen.

Der Autor, Publizist und Fernseh-Moderator Roger Willemsen war nicht nur ein gebildeter und charmanter Universalgelehrter, sondern auch ein wegen seiner Schlagfertigkeit und geistreichen Art geschätzer Interviewer. Anlässlich seines Tods sind viele sehr persönlich gehaltene Nachrufe von Wegbegleitern und Kollegen erschienen, die deutlich machen, welch hohes Maß an Anerkennung er genoss. Eine kleine und höchst unvollständige Auswahl sei hier vorgestellt. Auf “Spiegel Online” schreibt mit Nils Minkmar ein ehemaliges Mitglied von Willemsens-TV-Sendung derart anschaulich und zugewandt über Roger Willemsen, dass man sich ein ganzes Buch davon wünschte. Im “Zeit Magazin” erschien Willemsens “Jahreszeitenkolumne”. Sein langjähriger Redakteur Matthias Kalle erinnert sich an die Zusammenarbeit mit dem Kolumnisten, der es verstand, “mit dem Ernsten zu unterhalten und das Unterhaltende ernst zu nehmen”. Die “SZ” publiziert noch einmal seinen Artikel zum Dschungelcamp aus dem vorletzten Jahr, in dem er über die Protagonisten und Wirkmechanismen der Sendung philosophiert. Die Zeitschrift “Konkret” erinnert ihm zu Ehren an seinen ersten journalistischen Beitrag, der sich um die Sprache des früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker dreht. Der “Tagesspiegel” veröffentlicht erneut ein langes Interview über den “Zustand der deutschen Politiker”. (Willemsen hatte sich gerade ein Jahr lang Parlamentsdebatten in Berlin angehört und darüber ein Buch geschrieben.) Im “Deutschlandradio” gibt es ein Interview mit dem Leiter des Hamburger Literaturhauses Rainer Moritz, in dem dieser sich an die Zusammenarbeit mit Willemsen erinnert. Der Blogger und Journalist Lukas Heinser erzählt, wie die Sendung “Willemsens Woche” dazu beigetragen hat, auch “was mit Medien” machen zu wollen. Der Aktivist Raul Krauthausen (sozialhelden.de, wheelmap.org, leidmedien.de) erinnert an Willemsen, der ihm Mentor und Ideengeber war und der sein Interesse an gesellschaftskritischen Themen geweckt hat. Und “SPON”-Kolumnist Sascha Lobo findet auf seinem privaten Facebook-Account berührende Worte über den Mann, der ihm ein Vorbild an Bildung und Herzensbildung war.

So viel Klartext muss sein

„Klartext“. Das heißt: Hier traut sich jemand, die Fakten auszusprechen, die Wahrheit, auch wenn sie unbequem ist. Keine Schönrederei, keine political correctness. Nur Klartext, damit sich der mündige Bürger sein eigenes Bild machen kann.

Und “Hier” ist natürlich der Ort, wo Menschen noch unzensiert Klartext reden dürfen: in der “Bild”-Zeitung.

Er will, dass Flüchtlinge aus Nordafrika schnell abgeschoben werden: Sachsens Innenminister Markus Ulbig (51, CDU) klagt über hohe Kriminalität bei Asylbewerbern aus der Region.

BILD: Gibt es einen Zusammenhang zwischen Flüchtlingszahlen und Kriminalitätsentwicklung?

Markus Ulbig: „Bis zum 30. September 2015 hat Sachsen mehr als 45 000 Zuwanderer aufgenommen. Zugleich wurden in der Polizeilichen Kriminalstatistik Sachsen für die ersten neun Monate 4695 Zuwanderer als Tatverdächtige erfasst. Durch diese wurden 10 397 Straftaten (ohne ausländerrechtliche Verstöße) verübt. Im Vergleichszeitraum 2014 waren 3104 Zuwanderer als Tatverdächtige mit 7029 Straftaten registriert.“

BILD: Um welche Delikte geht es?

Ulbig: „Schwerpunkte der durch Zuwanderer begangenen Straftaten waren Diebstahlsdelikte mit 40 Prozent. Dabei ist …

Und so redet Ulbig weiter über kriminelle Flüchtlinge. „Bild“ hört geduldig zu, fragt hin und wieder „Wer ist noch auffällig?“ oder „Warum wird nicht abgeschoben, welche Hindernisse gibt es?“

Und keiner will bemerken, dass er die erste Frage gar nicht richtig beantwortet hat. Schauen wir noch mal rein.

BILD: Gibt es einen Zusammenhang zwischen Flüchtlingszahlen und Kriminalitätsentwicklung?

Markus Ulbig: „Bis zum 30. September 2015 hat Sachsen mehr als 45 000 Zuwanderer aufgenommen. Zugleich wurden in der Polizeilichen Kriminalstatistik Sachsen für die ersten neun Monate 4695 Zuwanderer als Tatverdächtige erfasst. Durch diese wurden 10 397 Straftaten (ohne ausländerrechtliche Verstöße) verübt. Im Vergleichszeitraum 2014 waren 3104 Zuwanderer als Tatverdächtige mit 7029 Straftaten registriert.

Und was sagt uns das? Genau: nix. Weil die Vergleichsgröße fehlt — die Gesamtzahl der Zuwanderer 2014.

Um den „Zusammenhang zwischen Flüchtlingszahlen und Kriminalitätsentwicklung“ zu untersuchen, muss man die Flüchtlingszahlen erst mal kennen. Ulbig aber liefert nur die für die Kriminalitätsentwicklung. Und „Bild“ belässt es dabei.

Allerdings hätte ein Blick in die Statistik den „Klartext“ auch deutlich getrübt. Laut der Sächsischen Staatskanzlei lebten zum Stichtag 31. Oktober 2014 (die Zahl für den Zeitraum bis September liefern wir nach, sobald wir sie haben) in Sachsen insgesamt 13.747 Asylbewerber.

Nimmt man die Zahlen von Ulbig hinzu …

… lässt sich vereinfacht sagen: 2014 ist jeder fünfte, fast jeder vierte Zuwanderer als Tatverdächtiger erfasst worden, davon hat jeder 2,3 Straftaten begangen. Ein Jahr später war es nur noch jeder zehnte. Mit jeweils 2,2 Straftaten. Die Kriminalitätsrate ist also gesunken.

Aber um bequeme Wahrheiten geht’s hier ja nicht.

***

Und dann war da noch die „Welt“.

Ulbig sagt in dem „Bild“-Interview, „Zuwanderer aus den sogenannten Maghreb-Staaten“ seien in Sachsen besonders auffällig, sie seien „für rund 43 Prozent aller Straftaten von Zuwanderern verantwortlich“.

Daraus macht die “Welt”:

… und suggeriert damit, 43 Prozent aller Straftaten in Sachsen würden von Nordafrikanern begangen.

Auch wenn es keine Absicht gewesen sein sollte — dass die Überschrift mindestens missverständlich ist, dürfte auch die “Welt” inzwischen mitbekommen haben, trotzdem macht sie keine Anstalten, die Überschrift zu ändern. Und sammelt weiter die Klicks, während die besorgten Leser immer besorgter werden.



Mit Dank an @diet_mar.

Gegenlesen, Autorisierung, VR-Reportagen

1. Gegenlesen? Nein danke!
(meta-magazin.org, Alexander Mäder)
Der Wissenschaftsjournalist Alexander Mäder (“Stuttgarter Zeitung”) schreibt in einem längeren Fachbeitrag über das “Gegenlesen”. Ist es ein Verstoß gegen die Berufsehre, oder dient es der Qualitätssicherung, wenn man als Journalist seinen Artikel der Gegenseite zur Kontrolle vorlegt? Zu diesem Thema hat Mäder eine nicht-repräsentative Umfrage unter Wissenschaftlern, Pressesprechern und Journalisten gestartet und berichtet von den Ergebnissen. Am Ende spricht er sich für die Errichtung von “Rechercheclubs” aus, die eine neue Form von gesellschaftlich relevantem Wissen hervorbringen könnten.

2. “Im Zweifel nicht drucken”
(djv.de, Hendrik Zörner)
Der “Deutsche Journalisten-Verband” hat einen aktuellen Fall (Konflikt zwischen Frauke Petry, AfD und dem “Mannheimer Morgen”) zum Anlass genommen, auf die von ihm beschlossenen Leitlinien zur Autorisierung von Interviews hinzuweisen. Nachträgliche Änderungen des Interviewten seien nur in beschränktem Rahmen möglich. Änderungen, die die Authentizität des Interviews oder einen wesentlichen Aussagengehalt konterkarieren würden, könnten von der Redaktion abgelehnt werden. Der DJV rät den Journalistinnen und Journalisten, standhaft zu bleiben und im Zweifelsfall auf die Veröffentlichung eines Interviews zu verzichten.

3. Als Zuschauer mittendrin: Der 360-Grad-Journalismus
(boris-haenssler.de)
Hinter “StoryUp” verbirgt sich ein Team von Virtual-Reality-Reportern, die beeindruckende Videoreportagen in 360-Grad-Technik erstellen. Gründerin Sarah Hill erzählt im Interview von ihren Reportage-Ausflügen in die virtuelle Realität und spricht über den technischen Wandel und die Besonderheiten und Risiken (zum Beispiel drohende Übelkeit bei empfindlichen Zuschauern). Im Beitrag verlinkt sind faszinierende Beispiele, in denen man sich bei laufendem Video via Maus um die eigene Achse drehen kann, und das gesamte Umfeld zu Gesicht bekommt.

4. Funkturm: „Soll jetzt Lutz Bachmann ein Praktikum bei uns machen?“
(flurfunk-dresden.de, Nicole Kirchner & Peter Stawowy)
Langfassung eines Gesprächs, in dem drei Medien-Fachleute aus Sachsen nach Lösungen ringen, wie man das Bild der Presse in der Bevölkerung verbessern kann und mit der Wut auf die Medien umgehen soll. Man merkt den Gesprächspartnern das Bemühen an, die “Lügenpresse”-Rufer zu erreichen. Andererseits wird die komplizierte und verfahrene gesellschaftspolitische Gemengelage deutlich, und an manchen Stellen schimmern Hilf- und Ratlosigkeit durch. Ein Gespräch, das auch außerhalb von Sachsen seine Bedeutung hat.

5. Die Journalisten-Rausbilder
(blog-cj.de, Christian Jakubetz)
Christian Jakubetz kennt den Medienbetrieb aus vielen Blickwinkeln. Er bekleidete führende Positionen bei Presse und Fernsehen, ist Autor verschiedener Fachpublikationen und war lange Zeit an der privatwirtschaftlichen und universitären Ausbildung von Journalisten beteiligt. Im Sommer geht nun sein Lehrauftrag in Passau zu Ende; ein Anlass, ein paar deutliche Worte über die Journalistenausbildung an den deutschen Hochschulen zu verlieren. Interessant für alle, die etwas über den Beruf als solches erfahren oder gar selbst Journalismus studieren wollen.

6. Man darf grundsätzlich alle Fragen stellen.
(planet-interview.de, Kaspar Heinrich)
Katrin Müller-Hohenstein moderiert seit zehn Jahren “Das aktuelle Sportstudio” (ZDF). Im Interview erzählt sie von ihren Anfängen als “Quotenfrau” und was sich im Lauf der letzten zehn Jahre alles geändert hat. Zum Beispiel das Verhalten der Gesprächspartner, die im Verlauf der Zeit vorsichtiger geworden seien: “Den Profi-Fußballern, die heute ja einen unglaublichen Kultstatus genießen, fliegt ein falscher Nebensatz innerhalb kürzester Zeit so dermaßen um die Ohren, dass sie gut beraten sind, sich zurückzuhalten.” Auf die Einbindung von Social Media in ihrer Sendung angesprochen, äußert sie sich eher lakonisch. Und: Sie selbst “mache da nicht mit”.

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Angst ist das Zauberwort.

Die „Bild“-Zeitung weiß das. Angst ist ihr Geschäft, sie weiß, wie man sie einsetzt und lenkt und möglichst lange von ihr profitiert. Krebsangst, Rentenangst, Griechenangst, Angst vor Wölfen, vor Seuchen, vor Flüchtlingen.

Dafür greift sie auf die üblichen Mittel zurück. Sie überspitzt, verdreht oder erfindet Dinge, reißt Aussagen, Zahlen und Dokumente aus dem Zusammenhang, bildet nur die Ausschnitte ab, die genug Panikpotenzial haben, und verschweigt den Rest.

Wenn es um Flüchtlinge geht, ist das nicht immer so. Tatsächlich bringt „Bild“ manchmal informative, gut recherchierte, unaufgeregte Texte, die für Übersicht und Aufklärung sorgen. Doch das sind seltene Ausnahmen; die meiste Zeit über ist die Berichterstattung dominiert von düsterer Hysterie, von bedrohlichen Geschichten, die mit der Realität oft nur wenig zu tun haben und den Lesern in größtmöglichen Buchstaben einen Skandal nach dem anderen um die Ohren hauen.

Es ist der Beweis, dass die Polizei vor Flüchtlingskriminalität kapituliert! Polizisten in Kiel wurden im Oktober 2015 von offizieller Stelle ermächtigt, Flüchtlinge, deren Identität nicht bekannt ist, nach kleineren Straftaten wie Diebstahl und Sachbeschädigung nicht zu verfolgen. Der Grund: Die Identität der Täter festzustellen sei zu aufwendig und oft erfolglos.

Allein der erste Satz.

„Dieses Polizei-Papier setzt ein Stück Rechtsstaat außer Kraft“, kreischte auch “Bild”-Online: Dieses Dokument sei ein „Freibrief für kriminelle Flüchtlinge“.

Noch am selben Tag gab die Kieler Polizei eine Pressekonferenz. Dort wies ihr Leiter die Vorwürfe entschieden zurück:

In Teilen der aktuellen Presseberichterstattung wird behauptet, dass Flüchtlinge ohne Ausweispapiere und behördliche Registrierung bei einfachen und niedrigschwelligen Straftaten, wie zum Beispiel Ladendiebstählen, regelmäßig nicht strafrechtlich verfolgt werden.

Diese Behauptung entbehrt jeglicher Grundlage und ist falsch. Und ist überdies gefährlich, weil sie das zu Recht bestehende Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Strafverfolgungsorgane untergräbt und ihre schwierige und vielfach sehr gute Arbeit diskreditiert.

Die Anweisung (PDF) stamme aus einer Zeit, in der die Polizei „mit einem massiven Zuzug von Flüchtlingen“ rechnete und sich die Frage stellte, wie man mit dem zu erwartenden Anstieg von kleinen Straftaten umgehen solle. Daraufhin sei beschlossen worden, die — und das ist die entscheidende Stelle — die erkennungsdienstliche Behandlung, das heißt: Fotos, Fingerabdrücke und so weiter, von Kleinkriminellen ohne Ausweispapiere vorerst auszusetzen. In ungefähr 20 Fällen sei so verfahren worden. Inzwischen sei die Anweisung nicht mehr gültig.

Der Leiter betonte mehrfach:

In keinem Fall ist [bei Flüchtlingen] eine andere Behandlung zur Maßgabe erklärt worden, als bei deutschen Tatverdächtigen. Und ich betone ausdrücklich, aus-drücklich: In jedem Einzelfall ist eine Strafanzeige erstattet worden.

Wer also bewusst oder fahrlässig den Eindruck erweckt, es seien Straftaten durch die Polizei nicht weiter verfolgt worden, oder das Strafverfahren sei sogar gar nicht betrieben worden, der schürt hier aus meiner Sicht eine gefährliche Emotion.

Natürlich ist es eine wichtige Aufgabe von Journalisten, das Verhalten der Ermittlungsbehörden zu hinterfragen. Eine Demokratie braucht solche Diskussionen. Aber solche Diskussionen brauchen eine vernünftige Grundlage, sie brauchen echte Fakten, differenzierte Darstellungen und Geduld, keine aus Halbwahrheiten zusammengezimmerten Holzweggeschichten.

Nicht, dass wir uns falsch verstehen: Auch im Fall der Kieler Anweisung sind kritische Fragen durchaus angebracht, denn auch wenn „nur“ die erkennungsdienstliche Behandlung wegfällt: Ohne Registrierung und Identifizierung gibt es, wie auch Heribert Prantl schreibt, bei Mehrfachtätern „keine Chance, in Zukunft härter zuzugreifen“. Solche Dinge müssen angesprochen werden. “Bild” aber macht das größtmögliche Fass auf und lässt all die relevanten Feinheiten unter dem tösenden Sensationslärm verschwinden.

Dass es bei der Kieler Anweisung „nur“ um die erkennungsdienstliche Behandlung ging und laut Polizei trotzdem in jedem Fall Anzeige erstattet wurde, erfuhren die „Bild“-Leser immerhin am nächsten Tag, wobei sich das Blatt bemühte, diese Details gut zu verstecken:

Der Piraten-Politiker Patrick Beyer hat hier einige Fakten, Fragen und Dokumente zu dem Fall gesammelt. Auch die “Süddeutsche” hat sich die Sache in Ruhe angesehen. Wer sich genauer mit dem Fall befassen will, sollte lieber dort beginnen.

Nun ist das Misstrauen gegenüber der Polizei die eine Sache, Angst vor Flüchtlingen die andere. Aber bei “Bild” bekommt man sie auch im praktischen Doppelpack.

Neben dem ersten Artikel zum Kieler „Polizei-Skandal“ hat “Bild” Auszüge aus dem kürzlich erschienenen Buch „Soko Asyl“ abgedruckt. Darin schildert der Leiter der Braunschweiger Kripo seine Erfahrungen mit kriminellen Flüchtlingen.

Das Buch ist in den letzten Tagen von vielen Medien besprochen worden, meist klingen die Überschriften dazu so:


(ndr.de)


(deutschlandradiokultur.de)


(n24.de)

In der “Bild”-Zeitung so:

Zur Erinnerung: Der Artikel stand direkt neben dem zum “Polizei-Skandal”, die Seite sah also so aus:

Nichts weniger als “Die Wahrheit über Flüchtlingskriminalität in Deutschland” kündigt “Bild” in der Besprechung an und zitiert dann einige Passagen aus dem Buch. Ein Punkt lautet:

KRIMINALITÄT IN FLÜCHTLINGSUNTERKÜNFTEN
„Jeder Kriminologie- oder Psychologiestudent im ersten Semester weiß, dass es zu (…) Vorfällen (…) kommt, wenn Menschen in Massen über einen längeren Zeitraum auf engstem Raum zusammengepfercht untergebracht sind – zudem noch ohne jegliche Privatsphäre.“

Im Buch geht der Absatz noch weiter.

… untergebracht sind – zudem noch ohne jegliche Privatsphäre. Dass da irgendwann jemand austickt, das ist fast unausweichlich, und das würde auch jedem Einheimischen so gehen. Das hat nichts mit Ausländertum oder Migrantentum zu tun. Würde man uns Deutsche in Massen in einen Hangar sperren, würde es wohl kaum länger als 14 Tage dauern, bis wir anfangen, uns die Köpfe einzuhauen.

Den letzten Teil hat “Bild” weggelassen, aber sicher nur aus Platzgründen.

An einer anderen Stelle im Buch schreibt der Polizist:

Habe ich jemanden vor mir, der Ausländer ist – egal ob EU-Bürger oder aus einem anderen Staat –, muss ich einfach wissen, dass es immer auch ein Mensch mit einer in Grenzen anderen Mentalität ist.

Syrer zum Beispiel sind in der Regel sehr ruhige Menschen. Sie sind ruhig, sie sind oft gebildet. Haben wir es mit Schwarzafrikanern zu tun, sind auch die sehr ruhig, wenn sie bei der Polizei sind. Haben sie aber Alkohol getrunken, ist häufig Schluss mit der Ruhe und es kommt zu Prügeleien. Sie sind dann aufbrausend, doch sobald die Polizei ins Spiel kommt, sind sie wieder ruhig und im Grunde lammfromm.

Nordafrikaner wiederum treten sehr unterschiedlich auf. Vielfach haben wir darunter Personen, die man neudeutsch als Poser bezeichnen würde. Menschen also, die sich gerne präsentieren und einen auf »dicke Hose« machen. Gehen sie durch die Stadt, sind sie meist nicht allein, sondern in Gruppen unterwegs, und treten sehr dominant auf. All das sind nur Nuancen, die man aber erst einmal erleben und kennenlernen muss. Die Erfahrungen, die wir mit der Soko machen, drehen sich also auch um das Verstehen. Und zwar gar nicht mal rein rechtlich, sondern das Verstehen von Menschen, von Mentalitäten und von Staatsangehörigkeiten.

In die „Bild“-Zeitung hat es nur das hier geschafft:

ANGEBLICHE ROLLENBILDER VON NORDAFRIKANERN
„Vielfach haben wir darunter Personen, die man neudeutsch als Poser bezeichnen würde. Menschen also, die sich gerne präsentieren und einen auf ,dicke Hose‘ machen. Gehen sie durch die Stadt, sind sie meist nicht allein, sondern in Gruppen unterwegs, und treten sehr dominant auf.“

So picken sich die Leute von „Bild“ sorgfältig die passenden Fetzen heraus — aus Mitteilungen, Statistiken, Pressekonferenzen oder Büchern –, sie erfassen und überdrehen nur den Teil der Realität, den sie brauchen, um ihre “unbequemen” “Wahrheiten“ zu konstruieren.

Diese “Wahrheiten” werden in kürzester Zeit von vielen Menschen gelesen und von vielen bösartigen Menschen instrumentalisiert, und selbst wenn sie sich im Nachhinein als übertrieben oder falsch herausstellen, ist es so gut wie unmöglich, sie wieder aus der Welt zu kriegen.

Was dabei zählt, ist die Überschrift, da kann sich die Redaktion im Text noch so sehr um Ausgewogenheit bemühen, die Überschrift zählt. Sie reicht als Argument und ist das, was haften bleibt, egal, wie viele Korrekturen nachgereicht werden. Überschriften wie diese hier:

Eine Kölnerin (22) ist in der Weiberfastnacht mitten in Köln niedergeschlagen und vergewaltigt worden! Unter dringendem Tatverdacht: Ein Flüchtling (17) aus Afghanistan. (…)

„Schließlich haben wir in einer Flüchtlingsunterkunft einen 17-Jährigen Tatverdächtigen festgenommen. Er wird zur Stunde vernommen. Die Spurenlage wird geprüft“, so der Polizeisprecher weiter.

Die Ermittlungen waren also noch voll im Gange, geklärt war noch gar nichts. Es stand weder fest, ob es überhaupt eine Straftat gegeben hatte, noch, ob der Flüchtling irgendwie darin verwickelt war. Trotzdem ließ sich Bild.de nicht von der Überschrift abbringen und schrie weiter:

Erst Stunden später, nachdem auch der Oberstaatsanwalt gegenüber „Bild“ bekräftigt hatte, dass die Spuren noch ausgewertet würden und „zurzeit geprüft“ werde, „ob eine Vergewaltigung vollzogen wurde oder nicht“, änderte das Portal die Überschrift:

Gestern kam raus: Die Polizei hat den Flüchtling wieder auf freien Fuß gesetzt. “Im Zuge der weiteren Ermittlungen”, teilte sie mit, habe sich der Verdacht “nicht erhärten” lassen. Festgenommen wurde stattdessen sein Mitbewohner. Weiterhin jemand aus der Flüchtlingsunterkunft — aber eben eine völlig andere Person als die, die “Bild” schon zum Täter gemacht hatte.

All das ist den Hetzern herzlich egal. Ihre Überschrift, ihr Argument haben sie ja schon.




In den Facebook-Kommentaren schreibt eine Frau:

Mal ganz davon abgesehen das noch garnichts bestätigt wurde ausser von der bild…*wem wunderts* muss ich dazu sagen das ich mal gesagt habe man traut sich nicht mehr raus…ich dann beleidigt wurde wie bescheuert ich denn sei…tja was sag ich nun…ich glaube meine Angst ist begründet denn man traut sich nicht mehr raus und seltsamer weise sind es immer diese Afghanen die Frauen vergewaltigen

Ja, sie helfen, die „Bild“-Medien. Sie helfen den Hetzern und sie helfen, das Land in Angst zu halten.

Das ist nichts Besonderes, so funktioniert Boulevard, so funktioniert „Bild“. Das Besondere und das Schlimme in diesen Tagen ist, dass diese Angst vor allem den rechten Rand stärkt, dass sie viel tiefer in den Alltag einsickert und sich wie ein trüber Schleier über alle Diskussionen legt. Dass sie die Gedanken erhitzt, obwohl gerade jetzt kühle Köpfe so wichtig wären. Und: Dass Angst vor Menschen geschürt wird, vor denen man eigentlich gar keine haben muss.

Mit Dank auch an Volker S. und Thomas N.

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