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Asylstatistik, geschnitten serviert

Als wir vor ein paar Tagen darüber berichteten, wie die “Bild”-Zeitung Stimmung gegen Asylbewerber macht, schrieb uns ein Leser, dass auch andere Medien gezielt Panik verbreiten würden:

apropos Angstmache vor “Flüchtlingsflut”:
da machen auch Blätter wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung mit, indem sie bspw. Statistiken manipulativ so ausschneiden, dass die aktuellen Zahlen herausstechen.

Konkret meint er eine Infografik, die vor gut drei Wochen bei Faz.net erschienen ist:

Ein ganz ähnliches Diagramm taucht derzeit auch in anderen Medien auf, etwa im aktuellen “Spiegel”* …

(Hier sind die Zahlen insgesamt niedriger, weil der “Spiegel” nur die Erstanträge zählt, Faz.net aber Erst- und Folgeanträge.)

… auf den Webseiten der “Welt” …

… oder der “Berliner Zeitung”* …

… und auch die dpa* hat eine Grafik im Angebot:

Sie alle bilden den Zeitraum von 1995 bis heute ab. Das ist zwar nicht falsch, aber: 1992 gab es mehr als doppelt so viele Asylanträge wie 1995. Auch 1991 und 1993 war die Zahl viel größer. In der Infografik werden diese Jahre aber weggelassen, wodurch der Balken für das aktuelle Jahr im Vergleich zu den anderen deutlich höher ist.

Wenn man die Grafik aber beispielsweise um fünf Jahre nach hinten ausdehnt, sieht sie nicht mehr so aus …

… sondern so:

Und wenn man noch ein paar Jahre zurückgeht, so:


(Jeweils Erst- und Folgeanträge; Quellen: “Das Bundesamt in Zahlen” & “Aktuelle Zahlen zu Asyl” des BAMF, für 2014: Schätzung des Bundesinnenministers im Mai.)

Dass die Medien nur den Ausschnitt ab 1995 zeigen, muss natürlich nicht gleich böse Absicht sein (wir vermuten eher, dass sie einfach auf die aktuelle Statistik des BAMF zurückgegriffen haben, dort werden nämlich ebenfalls nur die Zahlen ab 1995 aufgelistet), aber mit ein bisschen mehr Recherche und ein paar zusätzlichen Zahlen hätten sie erstens eine bessere Einordnung und zweitens weniger Futter für Manipulationsvorwürfe geliefert.

Mit Dank an Christian K.

Nachtrag/Korrektur, 19.05 Uhr: Einige Leser haben uns darauf hingewiesen, dass man in diesem Zusammenhang auch den “Asylkompromiss” beachten muss. Diese im Mai 1993 beschlossene Neuregelung des Asylrechts hatte unter anderem zur Folge, dass es schwieriger wurde, sich auf das Grundrecht auf Asyl zu berufen. *Wichtig ist außerdem: Bei Infografiken, die nur die Erstanträge abbilden, können die Jahre vor 1995 nicht als Vergleich herangezogen werden. Das BAMF differenziert in seiner Statistik nämlich erst seit 1995 zwischen Erst- und Folgeanträgen.

Statistiken, Streubomben, Ghostwriter

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Yang ohne Yin”
(heise.de/tp, Reinhard Jellen)
Buchautor Jens Jürgen Korff gibt Tipps, wie man manipulierte Statistiken erkennen kann: “Schauen Sie zum Beispiel bei einer Grafik, wo die y-Achse beginnt. Wenn Sie eine Trendlinie sehen, schauen Sie nach, auf wie vielen Werten sie beruht. Liegen die Daten zur Grafik auch als Tabelle vor? Wenn nein, warum nicht?”

2. “Mensch statt Maschine”
(timklimes.de, Video, 2:44 Minuten)
Wie Redakteure von tagesschau.de zur Recherche auf Twitter gekommen sind. Und wie sie selbst twittern.

3. “BILD hetzt wieder gegen Hartzer”
(blog.atari-frosch.de)
Eine kritische Auseinandersetzung mit der Berichterstattung von “Bild” zu Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfänger: “Ich möchte mal BILD-Mitarbeiter sehen, die zum 50. Mal einen Einführungskurs in Word oder ein Bewerbertraining mitmachen sollen, ob sie nicht irgendwann mal durchdrehen und sagen, ihr könnt mich mal.”

4. “Letzte Fragen zu Medienkompetenz und Facebook”
(carta.info, Robin Meyer-Lucht)
An einer Diskussionsveranstaltung wird Dietrich von Klaeden vom Axel-Springer-Verlag mit dem Vorwurf konfrontiert, dass namentlich “Bild” Facebook-Fotos ohne Rechtsgrundlage verwendet. Er widerspricht und sichert Unterstützung zu: “Wer einen Rechtsverstoß geltend machen möchte, kann das gerne nachher bei mir tun. Ich leite das dann gerne alles weiter. Ich meine das ganz im Ernst. Ich werde dann dafür sorgen, dass das in Ordnung kommt.”

5. “Gadhafi’s Cluster Bombs–and Uncle Sam’s”
(fair.org, Jim Naureckas, englisch)
Wie die “New York Times” über den Einsatz von Streubomben durch die Truppen von Muammar al-Gaddafi berichtet. Und dann auch noch erwähnt, dass die USA ebenfalls solche eingesetzt hat – “in battlefield situations in Afghanistan and Iraq, and in a strike on suspected militants in Yemen in 2009”.

6. “Der Ghostwriter”
(tagesanzeiger.ch, Raffael Schuppisser)
Achim H. Pollert hat noch nie eine Universität von innen gesehen. Trotzdem schreibt er für seine Auftraggeber Seminararbeiten, Lizenziatsarbeiten, Doktorarbeiten: “Pollerts erste akademische Auftragsarbeit war gleich eine Dissertation. (…) Erstaunt hat Pollert vor allem, wie wenig fachliche Kenntnisse eigentlich nötig seien, um eine Doktorarbeit zu schreiben, aber mit wie viel formalem Aufwand das verbunden war.”

Bild  

114 Prozent aller Statistiken falsch interpretiert

Wenn in einer Umfrage 70 Prozent der befragten Ärzte angeben, dass sich Patienten häufig unnötig behandeln lassen, welche Schlussfolgerung kann man daraus nicht ziehen?

Die richtige falsche Antwort finden Sie heute groß unten auf der Seite 1 der “Bild”-Zeitung:

70 % aller Arzt-Besuche unnötig

Nachtrag, 11:10 Uhr. In späteren Druck-Ausgaben ist die Überschrift geändert. Nun heißt es bloß: “Zu viele Arzt-Besuche unnötig”.

Mit Dank an Micky!

Der statistikfreie Raum

Die Zeiten sind schwer für deutsche Verlage: Nun kann die “Bild am Sonntag” nicht einmal mehr selbst Statistiken bis an die Schmerzgrenze fehlinterpretieren, sie muss diese wichtige Aufgabe auslagern.

In dieser Woche zum Beispiel an Stefan Müller, den Parlamentarischen Geschäftsführer der CSU-Landesgruppe im Bundestag. Der Politiker räsoniert in einem Gast-Kommentar über den rechtsfreien Raum Internet, der insbesondere durch die Aussetzung der Vorratsdatenspeicherung zum Tummelplatz für Schurken aller Art geworden sei:

Schuld daran ist eine Gesetzeslücke in Deutschland. Sie führt dazu, dass sich bestens ausgestattete und vernetzte Banden und organisierte Kriminalität im Internet breitgemacht haben. Folge: 200 000 Straftaten im vergangenen Jahr. Tendenz: rasant steigend.

Auf Anfrage bestätigte uns das Büro von Stefan Müller, dass der Politiker mit der “Gesetzeslücke” die Aussetzung der Vorratsdatenspeicherung durch das Bundesverfassungsgericht am 2. März dieses Jahres meinte. Wie die 200 000 Straftaten im Jahr 2009 die Folge eines Urteils von 2010 sein sollen — das konnte uns seine Sprecherin nicht verraten.

In der Tat zeigt die Statistik das Gegenteil der von Müller getätigten Aussage: Nachdem die Vorratsdatenspeicherung 2009 in Kraft getreten war, nahm die Zahl der registrierten Internet-Straftaten unverdrossen zu, die Aufklärungsquote sank hingegen.

Mit Dank an Jens W., Michael E. und Johannes R.

Nachtrag, 23. September: Im Nachgespräch legt das Büro von Stefan Müller Wert darauf, dass nicht die 200 000 Straftaten, sondern nur die steigende Tendenz “Folge” der Aufhebung der Vorratsdatenspeicherung sei. Eine grammatikalisch bemerkenswerte Interpretation.

Doch auch die andere Zahl, auf die der Parlamentarische Geschäftsführer der CSU-Landesgruppe seine Forderung nach Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung stützt, steht auf höchst wackliger Grundlage:

Seit das Bundesverfassungsgericht im März dieses Jahres entschieden hat, dass personenbezogene Daten aus Internettransfers gelöscht und nicht mehr auf Vorrat gespeichert werden dürfen, hat sich die Aufklärungsrate von Internetkriminalität dramatisch negativ entwickelt: Von 1000 Verdächtigen werden nur noch sieben Personen ermittelt. Das bedeutet: Von 1000 Kriminellen, die im Internet Benutzernamen und Passwörter abfischen, die E-Mail-Konten knacken und bei Online-Auktionen betrügen, die Bankkonten und Kreditkarten leer räumen und die Kinder vergewaltigen und entsprechende Filme im Internet anbieten, können nur sieben identifiziert werden.

Alleine: eine solche Statistik existiert offiziell nicht. Zwar zitierte die Rheinische Post den Präsidenten des Bundeskriminalamts Jörg Ziercke am 7. September so:

Nachhaltig ermahnte Ziercke die Politik, das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung anzupacken. Derzeit könne vieles nicht aufgeklärt werden. Unter 1000 Verdächtigen hätten vor dem Stopp der Speicherung mehr als 800 ermittelt werden können, jetzt seien es noch sieben.

Auf unsere Nachfrage hat das Bundeskriminalamt diese Formulierung dementiert: der BKA-Präsident habe in einer Pressekonferenz zwar ein Ermittlungsverfahren beschrieben, bei dem von 1100 IP-Adressen nur zehn nachverfolgt werden konnten und zu acht (sic!) Verdächtigen führten. Ein allgemeines Bild der Aufklärungsquote bei Internet-Straftaten spiegelt dieser Extremfall jedoch nicht wieder. Der Zusammenhang sei eventuell missverstanden worden, erklärt das Bundeskriminalamt.

Statistik, gewürzt mit ein wenig Dramatik

Für “Spiegel Online” sind sie kaum noch zu unterscheiden: Links- und rechtsextreme Autonome bereiten den Sicherheitsbehörden wachsende Probleme…

…oh, Verzeihung, dieser Satz, den Sie gerade gelesen haben, der stand natürlich nirgens so. Richtigerweise muss es heißen:

Für die Polizei sind sie kaum noch zu unterscheiden: Links- und rechtsextreme Autonome bereiten den Sicherheitsbehörden wachsende Probleme.

So beginnt “Spiegel Online” eine Geschichte über den neuen Bericht des Verfassungsschutzes, die ein erstaunlich symmetrisches Bild zeichnet: Die Gewaltbereitschaft nehme “in beiden Lagern dramatisch zu”. Nach einigen szenischen Schilderungen von Gewaltexzessen auf beiden Seiten, die jeweils zu dem Schluss führen, es handle sich um eine “neue Qualität der Gewalt”, stellt der Text in eigenen Kapiteln die exakten Erkentnisse für die Gewalt aus verschiedenen Lagern vor. “Zunehmendes Gefahrenpotential” attestiert der Autor in einer Zwischenzeile dem linksradikalen Lager und belegt dies — mit einem Rückgang der Gewalttaten von 15,8 Prozent. Zwar sind die Straftaten insgesamt um 13 Prozent gestiegen, doch zu den Straftaten zählen auch beispielsweise Sachbeschädigungen. Ohne irgendetwas verharmlosen zu wollen: Zwischen einer Sachbeschädigung und einem Gewaltdelikt ist schon noch einmal ein Unterschied. Wie man aus einem Rückgang der Gewalttaten eine “dramatisch zunehmende Gewaltbereitschaft” und eine “neue Qualität der Gewalt” ableiten kann, ist schon erstaunlich.

Mit Dank an Daniel S.!

Lebenslängliche Statistikschwäche

Dass die “Bild”-Zeitung nicht damit einverstanden ist, dass Ex-RAF-Terroristen wie Christian Klar oder Brigitte Mohnhaupt genau die gleiche Behandlung erfahren, wie andere lebenslänglich Verurteilte, ist hinlänglich bekannt.

Doch lebenslängliche Freiheitsstrafen sind “Bild” ohnehin viel zu kurz – und sie werden, wenn man “Bild” Glauben schenkt, sogar immer kürzer:

"Lebenslängliche dürfen immer früher raus"

Lebenslange Haft – in der Praxis der deutschen Gerichte heißt das inzwischen nur noch: durchschnittlich 17 Jahre Gefängnis!

Wie “Bild” es versteht:

“Es ist ein Gesetz, das man als Bürger nicht immer verstehen kann – ein Gesetz, das offenbar immer weiter aufgeweicht wird!
LEBENSLANGE HAFT? VON WEGEN!

Gestern berichtete BILD über die brisante Studie der Kriminologischen Zentralstelle Wiesbaden: Schwerverbrecher, die zu lebenslanger Haft verurteilt worden sind, sitzen im Schnitt nur noch 17 Jahre! Bis 1975 saßen zu ‘lebenslänglich’ Verurteilte noch über 20 Jahre!”

Das schrieb “Bild” vor einer Woche auf der Titelseite und berief sich dabei auf Zahlen der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden (KrimZ). Bis 1975 hätten lebenslänglich Verurteilte im Schnitt noch “über 20 Jahre” eingesessen, ehe sie begnadigt wurden. Zwischen 1982 und 1989 sei die durchschnittliche Haftdauer jedoch “bereits auf 18 Jahre, 7 Monate” gesunken. Und 2006 eben auf 17 Jahre.

Das sieht wie ein deutlicher Trend aus.

Die “Bild”-Zeitung fand diese Zahlen so brisant, dass sie sie am Tag darauf noch einmal wiederholte (siehe Kasten), und vier Fälle dokumentierte, die “beispielhaft” für den von ihr ausgemachten Trend seien.

Vorgestern widmete Zeit.de der “Bild”-Schlagzeile einen eigenen Artikel. Der Kriminologe Arthur Kreuzer kommt darin zu dem Ergebnis, man müsse annehmen, “dass sich die wirkliche durchschnittliche Haftzeit der Lebenslänglichen inzwischen etwas erhöht hat”. Und er schreibt:

Ganz andere Schlüsse zieht “Bild” aus Daten der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden. Nur: Diese Daten belegen überhaupt nicht die Schlagzeile.

Axel Dessecker von der KrimZ sagt uns dazu auf Anfrage:

“Das sehe ich genauso.”

Er muss es wissen. Schließlich ist er der Autor der Studie (pdf), auf die “Bild” sich beruft.

Zahlenspiele:

Sowohl bei den Zahlen für 1982 bis 1989, wie auch bei den Zahlen bis 1975 seien andere Erhebungsmethoden angewandt worden als die der KrimZ, so Dessecker zu BILDblog. Die gleiche Messmethode sei jedoch Voraussetzung für die Vergleichbarkeit. Im Zeitraum bis 1975 existierte zudem der § 57a StGB (Strafaussetzung auf Bewährung) noch nicht. Der Ermittelte Wert von 20 Jahren bezieht sich auf Entlassungen wegen Begnadigungen.

Dabei geht es ihm nicht mal so sehr darum, dass “Bild” Zahlen miteinander vergleicht, die nicht miteinander vergleichbar sind (siehe Kasten). Das Hauptproblem der “Bild”-Schlagzeile liegt für Dessecker woanders:

“Das Problem ist, dass mit der Überschrift der Eindruck erweckt wird, dass die Verbüßungsdauer von lebenslänglich Verurteilten kontinuierlich gesunken sei.”

Das sei jedoch nicht der Fall.

Seit dem Jahr 2002 erhebt die KrimZ Zahlen zur Haftdauer von lebenslänglich Verurteilten, allerdings nur bei denen, deren lebenslange Freiheitsstrafe im jeweiligen Jahr beendet wird. So saßen 2006 knapp 2.000 Menschen “lebenslänglich” im Gefängnis, und nur bei 61 endete die lebenslange Freiheitsstrafe – bei 40 davon, weil die Reststrafe nach Paragraph 57a des Strafgesetzbuchs zur Bewährung ausgesetzt wurde. Nur um die Haftdauer dieser 40 geht es bei den KrimZ-Zahlen für 2006, die “Bild” zitiert.

Und vergleicht man nun diese Zahlen für 2006 mit den einzig vergleichbaren, also denen, die KrimZ seit 2002 ermittelt hat, ergibt sich folgendes Bild:

Die mittlere Haftdauer hat – gemessen mit dem Medianwert – im Zeitraum zwischen 2002 und 2005 von 17 auf 19 Jahre zugenommen; 2006 fiel sie wieder auf den Wert von 2002 zurück.
(Link von uns)

So steht es wörtlich in der KrimZ-Studie, die “Bild” so “brisant” findet. Um daraus einen Abwärtstrend ableiten zu können, muss man es schon sehr wollen.

Mit Dank an Daniela L. für den sachdienlichen Hinweis.

Statistik für Anfänger

Nehmen wir einmal an, bei “Bild” würden 100 Redakteure arbeiten. Einer davon (nennen wir ihn Günni) nimmt Kokain, und fast jeder zweite Kollege weiß es. Eines Tages kommen ein paar Studenten von der Uni Münster vorbei und machen eine Umfrage über den Drogenmissbrauch unter Boulevard-Journalisten. Sie fragen jeden einzelnen Redakteur, ob er einen Kollegen in der Redaktion kennt, der kokst. Wahrgemäß antworten 46 von ihnen: Ja. (Und denken sich: der Günni.) Die Studenten fahren nach Hause. In ihrer Studie wird korrekterweise der Satz stehen: “46 Prozent aller ‘Bild’-Redakteure kennen jemanden, der Kokain nimmt.”

Wenn diese Studie dann aber wieder in die Hände der “Bild”-Redakteure kommt, staunen die und denken sich garantiert: “Wow. Fast jeder zweite von uns nimmt Kokain?”

Soweit das Gedankenspiel, jetzt die Praxis:

Laut einer Studie der Uni Leicester behaupten 46 Prozent der englischen Profi-Kicker, einen Kollegen zu kennen, der Drogen nimmt.

Aha. Und was folgt daraus?

Womöglich — wäre aber Zufall.

Tja, wer weiß schon die Antwort darauf. Die Studie jedenfalls nicht. Und “Bild” auch nicht.

Danke an Nils P. für den sachdienlichen Hinweis.

KW 15/24: Hör- und Gucktipps zum Wochenende

Hurra, Wochenende – und damit mehr Zeit zum Hören und Sehen! In unserer Wochenendausgabe präsentieren wir Euch eine Auswahl empfehlenswerter Filme und Podcasts mit Medienbezug. Viel Spaß bei Erkenntnisgewinn und Unterhaltung!

***

1. Werbung trotz Verbot? Die Marketingtricks der Tabakindustrie
(ndr.de, Aniko Schusterius & Leon Müller, Video: 17:27 Minuten)
Jahrzehntelang haben die großen Tabakkonzerne ihre Produkte aggressiv vermarktet und über gebuchte Anzeigen riesige Summen in Medien gepumpt. Heute müssen die Unternehmen wegen des Werbeverbots subtiler vorgehen. Das Medienmagazin “Zapp” hat die aktuellen Strategien und Marketingtricks der Tabakindustrie unter die Lupe genommen.

2. Fußball: Brauchen die Vereine die Medien noch?
(br.de, Jonathan Schulenburg, Audio: 26:48 Minuten)
Fußballvereine waren viele Jahre lang auf die unabhängige Berichterstattung von Medien angewiesen, um für ihren Sport zu werben. Das hat sich inzwischen geändert: Dank der großen Reichweiten in den Sozialen Medien können die Vereine ihre Pressearbeit oft selbst steuern. Jonathan Schulenburg spricht bei “BR 24 Medien” unter anderem mit dem ehemaligen FC-Bayern-Spieler und Sportmoderator Thomas Helmer über das neue Medienzeitalter im Fußball.

3. Lage der Nation 377
(lagedernation.org, Philip Banse & Ulf Buermeyer, Audio: 1:49:52 Stunden)
Vergangenen Mittwoch haben wir in den “6 vor 9” einen Beitrag zum Umgang von Medien mit der Polizeilichen Kriminalstatistik empfohlen. Im Politik-Podcast “Lage der Nation” ist nun der Kriminologe Martin Thüne zu Gast. Philip Banse und Ulf Buermeyer sprechen mit ihm über die Frage, “warum die Polizeiliche Kriminalstatistik in die Irre führt”.

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4. Kommt der Bundeskanzler zu spät zur TikTok-Party?
(uebermedien.de, Holger Klein, Audio: 24:28 Minuten)
Im “Übermedien”-Podcast spricht Holger Klein mit Marcus Bösch, der zu TikTok und politischer Kommunikation forscht, über die Nachricht, dass Bundeskanzler Olaf Scholz nun auch auf der Videoplattform vertreten ist: “Was sagt er zu Scholz’ spätem TikTok-Debüt? Wie funktioniert die Plattform eigentlich? Was macht sie so erfolgreich? Und haben die Medien die Plattform eigentlich schon verstanden?”

5. Anne Will (2024) – Was ist heute anders?
(hotelmatze.podigee.io, Matze Hielscher, Audio: 2:18:14 Stunden)
Im Podcast “Hotel Matze” ist Journalistin und Moderatorin Anne Will zu Gast. Nach längerer Zeit mal wieder, muss man sagen – Wills letzter “Hotel”-Besuch war im Juni 2017. In der aktuellen Folge geht es vor allem um die Frage, wie es Anne Will nach ihrem Abschied als ARD-Sonntagstalkerin geht: “Es geht um Neuanfänge, um Karriere und Persönlichkeitsentwicklung, wir sprechen über die Kunst des Gesprächs vor laufender Kamera, über das Leben als öffentliche Person und über die aktuelle politische Lage.”

6. Rocko Schamoni Supershow
(ardmediathek.de, Rocko Schamoni & Gereon Klug, Video: vier Folgen je circa 30 Minuten)
Zum Schluss noch eine etwas andere Empfehlung: Die vierteilige ARD-Mockumentary “Rocko Schamoni Supershow”, in der auch verschiedene Mediengrößen eine Rolle spielen, beispielsweise Linda Zervakis, Klaas Heufer-Umlauf und Caren Miosga. Im “Hamburger Abendblatt” fasst Maike Schiller die ungewöhnliche, unterhaltsame Produktion so zusammen: “Die hohe ‘Fraktus’-Schule, der ‘Discounter’-Spott, bisschen Dada, bisschen Parodie, bisschen demaskiertes ‘echtes’ Leben. Bisschen Loriot womöglich sogar, noch mehr ‘Last Exit Schinkenstraße’. Entlarvend und schmerzbefreit. Quatsch mit Anspruch. Und besonders gern auch ohne.”

So viele Menschen könnten arbeiten und arbeiten auch schon

Kommen wir noch einmal zum Bürgergeld und der Frage, wie die “Bild”-Redaktion mit einseitiger und/oder unvollständiger und/oder verzerrter Berichterstattung versucht, Stimmung zu dem Thema zu machen.

Und zwar so:

Screenshot Bild.de - Neue Zahlen zum Bürgergeld - So viele Menschen könnten arbeiten, kriegen aber Stütze

Neue Daten der Bundesagentur für Arbeit (BA) belegen: Hunderttausende Menschen könnten in Deutschland arbeiten, bekommen aber Stütze vom Staat.

Im April 2023 zählte die BA rund 3,9 Millionen “erwerbsfähige Regelleistungsberechtigte”. Sprich: Menschen, die arbeiten könnten, aber Bürgergeld erhalten.

Mehrfach schreibt “Bild” im Artikel (und ja auch schon in der Überschrift), dass sogenannte erwerbsfähige Leistungsberechtigte arbeiten könnten, stattdessen aber Bürgergeld beziehen:

Der Anteil “erwerbsfähiger Leistungsberechtigter” – also Menschen, die arbeiten können, aber Bürgergeld erhalten – lag im April …

Nirgendwo im Text steht es explizit, aber es schwingt an vielen Stellen mit: Schaut euch nur diese Faulen an. Die könnten arbeiten, lassen sich aber lieber vom Staat aushalten.

Doch schon die statistische Grundannahme der “Bild”-Redaktion ist falsch.

Die Definition der Bundesagentur für Arbeit (BA) für erwerbsfähige Leistungsberechtigte lautet:

Als erwerbsfähige Leistungsberechtigte (ELB) gelten gem. § 7 SGB II Personen, die

• das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben,
• erwerbsfähig sind,
• hilfebedürftig sind und
• ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben.

3.938.055 ELB gab es im April dieses Jahres, der aktuellste Monat, für den aufgeschlüsselte Daten von der BA vorliegen (Excel-Datei). Während die “Bild”-Redaktion ihrer Leserschaft einhämmert, dass sie alle arbeiten könnten, ist es tatsächlich anders – ein beachtlicher Teil von ihnen arbeitet bereits: 779.801 Personen führt die BA als erwerbstätige erwerbsfähige Leistungsberechtigte. Das sind 19,8 Prozent aller ELB. Manche von ihnen sind Selbstständige, die meisten aber sind abhängig erwerbstätig: Manche in Vollzeit, mehr in Teilzeit oder ausschließlich geringfügig beschäftigt, auch Auszubildende sind dabei. Sie alle arbeiten – und beziehen Bürgergeld als ELB. Häufig werden sie als “Aufstocker” bezeichnet.

Von ihnen ist im “Bild”-Artikel nichts zu lesen. Dort liest man nur platte Parolen wie: “Stütze statt Schuften”.

Und auch einen anderen Aspekt lässt die “Bild”-Redaktion völlig unerwähnt: Von den 3.938.055 ELB führt die Bundesagentur für Arbeit in ihrer Statistik nur 1.683.023 als arbeitslos (42,7 Prozent). Die anderen 2.255.032, also die Mehrheit (57,3 Prozent), sind “nicht arbeitslose ELB”. Und dafür gibt es ganz gute Gründe. Die BA schreibt in ihrem “Monatsbericht zum Arbeits- und Ausbildungsmarkt” (PDF) für den Monat August (der auf die aufgeschlüsselten Daten vom April zurückgreift) über die “Gründe für die Nicht-Arbeitslosigkeit erwerbsfähiger Leistungsberechtigter”:

Es sind vor allem drei Gründe, derentwegen erwerbsfähige Leistungsberechtigte nicht arbeitslos sind. Für 701.000 erwerbsfähige Leistungsberechtigte war eine Arbeit derzeit nicht zumutbar, weil sie entweder kleine Kinder betreuten bzw. Angehörige pflegten oder noch zur Schule gingen bzw. studierten. 441.000 Personen waren nicht arbeitslos, weil sie einer ungeförderten Erwerbstätigkeit von mindestens 15 Wochenstunden nachgingen. 523.000 Personen haben an einer arbeitsmarktpolitischen Maßnahme oder an einem Integrationskurs teilgenommen.

Über diese Gruppen hinaus zählten 253.000 erwerbsfähige Leistungsberechtigte nicht als arbeitslos, weil sie arbeitsunfähig erkrankt waren. Und schließlich galten für 139.000 erwerbsfähige Leistungsberechtigte Sonderregelungen für Ältere.

Auch von diesen Personen, die “Leistungen aus der Grundsicherung für Arbeitsuchende [erhalten], ohne arbeitslos zu sein”, wie die BA schreibt, liest man im “Bild”-Artikel nichts. Es handelt sich dabei natürlich auch um eine definitorische Frage, die die Zahlen für die Bundesagentur für Arbeit besser aussehen lassen kann. Aber dass “Bild” beispielsweise Schülerinnen und Schüler oder arbeitsunfähig Erkrankte als Menschen präsentiert, “die arbeiten könnten, aber Bürgergeld erhalten”, ist grotesk und eine stark verzerrte Wiedergabe der Statistik.

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“Bild” verlegt Vergewaltigungen in den Görlitzer Park

Im Görlitzer Park in Berlin soll es eine Gruppenvergewaltigung gegeben haben. Die Ermittlungen dazu laufen, die Polizei hat bisher zwei Verdächtige festgenommen. Die mutmaßliche Tat soll sich bereits im Juni dieses Jahres ereignet haben, öffentlich bekannt wurde sie erst vergangene Woche. Die “Bild”-Redaktion erklärte den Görlitzer Park jedenfalls vor wenigen Tagen zu:

Screenshot Bild.de - Allein dieses Jahr acht Vergewaltigungen! Deutschlands Park der Angst

Dass die Dachzeile “ALLEIN DIESES JAHR ACHT VERGEWALTIGUNGEN!” so nicht stimmt, wird bereits beim Lesen des ersten Absatzes desselben Artikels klar:

Er ist Berlins Horror-Park: Allein acht Vergewaltigungen und sexuelle Übergriffe gab es von Januar bis Ende Juni im Görlitzer Park.

Also: bisher “acht Vergewaltigungen und sexuelle Übergriffe” im Görlitzer Park im Jahr 2023 laut “Bild”. Diese Zahl taucht in aktuellen Berichten der Redaktion immer wieder auf:

Allein von Januar bis Ende Juni gab es im Görlitzer Park acht schwere Taten unter dem Stichwort “Vergewaltigung/sexuelle Nötigung/sexueller Übergriff”

Laut einer aktuellen Polizeistatistik gab es von Januar bis Ende Juni im Görlitzer Park acht schwere Taten unter dem Stichwort “Vergewaltigung/sexuelle Nötigung/sexueller Übergriff”.

Doch auch das ist falsch.

Die Polizeistatistik, die die “Bild”-Redaktion erwähnt, findet man in einer Antwort der Berliner Senatsverwaltung für Inneres und Sport (PDF) auf eine Anfrage der Linken-Politiker Niklas Schrader und Ferat Koçak. Darin geht es um “Neue Entwicklungen am sogenannten kriminalitätsbelasteten Ort ‘Görlitzer Park/Wrangelkiez'”. Tatsächlich findet man in der Statistik die acht Fälle von “Vergewaltigung/sexuelle Nötigung/sexueller Übergriff”, die sich von Januar bis einschließlich 26. Juni ereignet haben sollen. Aber längst nicht alle im Görlitzer Park.

Die Bezeichnung “kriminalitätsbelasteter Ort” (“kbO”) geht auf eine Einordnung der Berliner Polizei zurück, die in der Stadt insgesamt sieben solcher Gebiete als Kriminalitäts-Hotspots sieht. Dort gelten für die Beamten besondere Befugnisse. Sie können beispielsweise verdachtsunabhängige Kontrollen durchführen. Der Name “kbO Görlitzer Park/Wrangelkiez” deutet ja schon an, dass das Gebiet, um das es in der Polizeistatistik geht, nicht nur den Görlitzer Park umfasst. Dieser ist etwa 140.000 Quadratmeter groß; die gesamte von der Polizei Berlin als “kbO Görlitzer Park/Wrangelkiez” deklarierte Fläche umfasst aber mehr als 300.000 Quadratmeter. Wo genau die Grenzen verlaufen, verrät die Berliner Polizei aus taktischen Gründen nicht. Auf jeden Fall gehört aber ein beachtlicher Teil des belebten Wrangelkiezes, in dem es viele Wohnhäuser, Hostels und Firmen gibt, zum “kbO”.

Unter den acht Fällen von “Vergewaltigung/sexuelle Nötigung/sexueller Übergriff” befinden sich laut Polizeistatistik sechs Vergewaltigungen oder versuchte Vergewaltigungen. Dazu hat “taz”-Redakteur Erik Peter bei der Polizei genauer nachgefragt. Mit dem Ergebnis:

Einzig die mutmaßliche Gruppenvergewaltigung aus dem Juni fand tatsächlich im Görlitzer Park statt. Sie ist zudem die einzige der registrierten Vergewaltigungen, die im öffentlichen Raum geschah.

In den fünf anderen Fällen vergewaltigten die mutmaßlichen Täter demnach in Privaträumen im umliegenden Kiez: Laut der Polizei kam es demnach zu einer versuchten Vergewaltigung in einem Gewerbebetrieb, zwei Vergewaltigungen in Hostels sowie zwei Vergewaltigungen in Wohnhäusern. Nähere Auskünfte zu den Ermittlungsständen gab die Polizei mit Verweis auf laufende Ermittlungsverfahren nicht.

Natürlich macht der Ort einer Vergewaltigung diese nicht weniger schrecklich. Aber wenn die “Bild”-Redaktion schreibt: “Allein acht Vergewaltigungen und sexuelle Übergriffe gab es von Januar bis Ende Juni im Görlitzer Park”, ist das grob falsch. Sie heizt damit eine eh schon hitzige Debatte mit falschen Behauptungen weiter an.

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