Goldene Kartoffel, “Zeit”-Autopsie, Kimmels Obama-Trump-Mashup

1. “Goldene Kartoffel” für Talkshows
(taz.de, Erica Zingher)
Das Netzwerk “Neue deutsche Medienmacher*innen” (NdM) verleiht zum zweiten Mal den Negativpreis, die “Goldene Kartoffel”. In den Genuss der güldenen Erdknolle kommen die vier großen Polit-Talks der Öffentlich-Rechtlichen: “Hart aber fair” (Frank Plasberg, ARD), “Maischberger” (ARD), “Anne Will” (ARD) und “Maybrit Illner” (ZDF). In der Begründung heißt es: “Den politischen Talkshows gelingt es nicht, tiefergehend zu informieren, vielfältige Perspektiven einzubinden und Ressentiments abzubauen. Stattdessen wird hier Rassismus behandelt wie jeder andere Standpunkt auch.”

2. Autopsie: Die harsche Kritik an Relotius-Enthüller Juan Moreno
(spiegelkritik.de, Timo Rieg)
Die “Zeit” hat unlängst einen viel diskutierten Artikel veröffentlicht, der sich kritisch mit Juan Morenos Buch über den Fälscher-Skandal beim “Spiegel” beschäftigt. Anlass war ein Schreiben des Anwalts des Fälschers Claas Relotius, in dem dieser seinem ehemaligen Kollegen seinerseits Unwahrheiten und Falschdarstellungen vorwirft (die teilweise von geradezu drolliger Petitessenhaftigkeit sind). Timo Rieg hat sich angeschaut, wie die “Zeit” darüber berichtet hat, und den Text einer kritischen Analyse unterzogen.

3. Vollrausch, Tötung, Geldstrafe
(spiegel.de, Thomas Fischer)
Als ein 18-jähriger Fahranfänger im Alkoholrausch bei einem Verkehrsunfall eine Frau tötete und dafür vom Gericht mit einer Geldstrafe belegt wurde, regte sich der mediale Volkszorn. Vor allem “Bild” ließ der Empörung über das vermeintliche Fehlurteil freien Lauf. Der Jurist Thomas Fischer geht dem Fall nach, soweit dies aus der Ferne möglich ist. Dies braucht etwas und verlangt einem an der einen oder anderen Stelle etwas (juristisches) Mitdenken ab, lohnt jedoch. Oder um es mit den Worten Fischers zu sagen: “Man muss sich mit den Dingen ernsthaft befassen und die Zusammenhänge der Regeln zu verstehen versuchen, nach denen man im Ernstfall selbst behandelt werden möchte.”

4. Unter Facebooks Mitarbeitern kommt es zum Aufstand
(nzz.ch, Marie-Astrid Langer)
Facebook-Chef Mark Zuckerberg hat eine interessante Begründung, warum man Politikerinnen und Politikern gestatte, Lügen auf dem Netzwerk zu verbreiten (in Form von bezahlten Anzeigen wohlgemerkt): “Wenn Politiker lügen, soll das die Öffentlichkeit sehen”, so seine Aussage während einer Befragung durch das Repräsentantenhaus. Anders als bei anderen Anzeigen, unterziehe man diese Schaltungen keinem Faktencheck. Dagegen regt sich nun auch firmeninterner Widerspruch: Mehr als 250 Facebook-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter sollen sich mit einem Protestbrief an ihren Chef gewandt haben.

5. Die ZEIT entfernt Facebook “Pixel”
(onlinejournalismus.de, Matthias Eberl)
“Zeit Online” hat das umstrittene Tracking-Tool “Facebook Pixel” von seiner Website geschmissen. Dem vorausgegangen ist die lange vergeblich geäußerte Kritik von Datenschützern und eine Datenschutzbeschwerde eines “Zeit”-Lesers. Eine Sprecherin der “Zeit”-Verlagsgruppe habe erklärt, dass man ausschließlich wegen eines EuGH-Urteils gehandelt habe. Von einem datenschutzfreundlichen Webangebot der “Zeit” könne man leider immer noch nicht sprechen, wie Matthias Eberl erklärt.

6. We mashed up @BarackObama’s Bin Laden speech with @RealDonaldTrump’s al-Baghdadi speech
(twitter.com/jimmykimmel, Video: 1:24 Minuten)
Nachdem die USA Osama bin Laden getötet hatten, wandte sich Präsident Barack Obama in einem Video-Statement an die Öffentlichkeit. Und auch der jetzige Präsident Donald Trump verkündete den Tod von Abu Bakr al-Baghdadi vor laufenden Kameras. Der US-amerikanische Comedian und Moderator einer Late-Night-Show Jimmy Kimmel hat beide Auftritte in einem Mashup gegeneinander geschnitten. Die Wirkung könnte größer nicht sein.

Bringt Julian Reichelt die Familien der “Tatort”-Kommissare in Gefahr?

Wen hat “Bild”-Chef Julian Reichelt — nach seiner eigenen Logik — nicht schon alles in Gefahr gebracht: die Familien von Fußball-Managern, von Helene Fischer, von Handballnationalspielern und so weiter. Jetzt sind die Angehörigen der “Tatort”-Stars dran:

Screenshot Bild.de - Prahl, Liefers und Co - Was verdienen die Tatort-Stars?

Zur Erinnerung: Reichelt möchte nicht, dass sein eigenes Gehalt geschätzt wird, denn das könnte seine Familie in Gefahr bringen, so seine Argumentation, als der Branchendienst “kress” mal zu den Gehältern von Chefredakteuren recherchierte. Und wer möchte schon, dass die eigene Familie in Gefahr ist?

Das heißt natürlich nicht, dass man bei anderen Menschen und deren Familien genauso rücksichtsvoll sein und denselben Maßstab anlegen muss. Und so schreiben Reichelts Bild.de und Reichelts “Bild am Sonntag” über die “Interna”, die “Sendermitarbeiter” der Öffentlich-Rechtlichen “regelmäßig” “ausplaudern” — oder genauer: Sie nennen die Summen, die die Schauspielerinnen und Schauspieler Axel Prahl, Jan Josef Liefers, Til Schweiger, Maria Furtwängler, Axel Milberg und Ulrike Folkerts pro “Tatort”-Folge angeblich bekommen sollen.

Die genauen Zahlen erfährt man nur, wenn man ein “Bild plus”-Abo hat. Denn ein bisschen was will Julian Reichelt ja auch verdienen, wenn er und sein Team dem eigenen Verständnis nach andere Leute in Gefahr bringt.

Wen Julian Reichelt nach Julian-Reichelt-Logik sonst noch in Gefahr gebracht haben könnte:

Rechte Abmahnwellen, Bildvergleich, Zynischer Armuts-Voyeurismus

1. Abmahnwelle setzt kritische Journalisten unter Druck
(uebermedien.de, Felix Huesmann)
Über Rechtsextremismus zu berichten, muss man sich leisten können: Die Gegenseite reagiert oft mit einer oder gleich mehreren Abmahnungen, deren Abwehr beträchtliche Kosten verursacht. Oftmals handelt es sich noch nicht mal um inhaltliche Fragen, sondern um Formalitäten. Das Ziel: Kritische Journalisten und Journalistinnen einzuschüchtern und mundtot zu machen. Felix Huesmann schreibt über ein Phänomen, das kleine wie große Verlage trifft und das für die Beteiligten existenzbedrohend sein kann.

2. Bildausfall
(spiegel.de, Arno Frank)
Als die USA 2011 einen Militäreinsatz gegen Osama bin Laden durchführten, gab es ein Foto von Barack Obama und seinem engsten Team aus dem sogenannten Situation Room. Als die USA unter Donald Trump eine ähnliche Aktion gegen den Anführer des sogenannten Islamischen Staats, Abu Bakr al-Baghdadi, durchführten, veröffentlichte das Weiße Haus ebenfalls ein Bild aus dem Situation Room. Arno Frank hat beide Bilder miteinander verglichen, die Unterschiede könnten nicht größer sein.
Weiterer Lesehinweis: Bei “Newsweek” erklärt der frühere Cheffotograf des Weißen Hauses unter Barack Obama, warum das Bild mit Trump inszeniert sein könnte.
Außerdem lesenswert: der Kommentar von Bernd Graff bei Süddeutsche.de: “Wenn man Zivilisation und Kultur für einen hauchdünnen Firnis über einer kaum gebändigten, rohen Natur hält, kann man in Trumps archaischer Schmährhetorik allem Geist, Idealismus und Humanismus beim Abblättern zusehen.”

3. Axel Springer: Üppige Vorstandsboni trotz Sparkurs
(kress.de, Markus Wiegand)
Mitarbeiter rausschmeißen und gleichzeitig exorbitante Vorstandsboni ausschütten — für den Axel-Springer-Verlag anscheinend kein Problem. “kress pro”-Chefredakteur Markus Wiegand kommentiert: “Man stelle sich allerdings nur kurz vor, was die hauseigene “Bild” über ein Management schreiben würde, das im nationalen Mediengeschäft Leute rauswirft, um 50 Millionen Euro zu sparen, und gleichzeitig schon mal eine ähnlich hohe Summe als Boni erfasst. Schön wär’s nicht.”
Zu den Springer-Vorstandsgehältern auch aus unserem Archiv: Unerwähnt, was der Springer-Boss pro Jahr verdient.

4. Facebook-Pläne sorgen für Skepsis
(deutschlandfunk.de, Annika Schneider, Audio: 4:57 Minuten)
Facebook will demnächst ein neues Nachrichtenangebot namens “Facebook News” starten. Dort soll es “ausschließlich Newsangebote geben von Partnern, die sich ausweisen können als akkreditierte journalistische Organisationen”. Für Verlage kann dies Vor- und Nachteile bringen: Kurzfristig könnten sie von eventuellen Ausschüttungen profitieren. Langfristig könnte sich das neue Angebot als weitere Bedrohung ihres Geschäftsmodells erweisen. Von möglicher übler Nachbarschaft ganz abgesehen: In den USA habe Facebook auch das ultrarechte Newsportal “Breitbart” als Quelle aufgenommen.

5. Wer schlampt, sieht Rot?
(taz.de, Alexander Graf)
Kann man ein journalistisches Gütesiegel ernst nehmen, bei dem Bild.de einen grünen Haken für “glaubwürdigen und transparenten Journalismus” bekommen hat? Obwohl die “Bild”-Journalistinnen und -Journalisten Informationen nicht “verantwortungsbewusst recherchieren und veröffentlichen”, wie in einer Unterkategorie festgestellt wird? Das muss wohl jeder für sich selbst entscheiden. Wobei Experten wie der Kommunikationswissenschaftler Philipp Müller von der Universität Mannheim eh bezweifeln, dass viele Menschen das Gütesiegel-Tool NewsGuard installieren werden.

6. Die Darstellung von Armut ist einfach nur zynisch
(tagesspiegel.de, Bernd Gäbler)
Mit als “Sozialreportagen” verkleideten Trash-TV-Stücken machen RTL und RTL2 Quote auf Kosten von Menschen, die es eh schon schwer im Leben haben. Bernd Gäbler hat sich die verantwortungslosen und voyeuristischen Formate näher angeschaut. Darunter Sendungen wie die mit dem ehemaligen Neuköllner Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky und dem Ex-Comedy-Star Ilka Bessin (“Cindy aus Marzahn”).

Noch ist es unklar, aber Fotos kann man ja schon mal zeigen

Sie schreiben es bei Bild.de ja sogar selbst:

Noch ist unklar, ob und wenn ja, was genau, R[.] mit dem Tod der Männer zu tun hat. Die Polizei teilte bislang nur mit, dass er wahrscheinlich am Wochenende aus seinem Wohnort in Nordirland nach Purfleet in England reiste und im dortigen Hafen am Mittwoch gegen 1.30 Uhr den Lkw übernahm. Der soll zuvor samt Auflieger von Seebrügge (Belgien) über Wales nach England geschifft worden sein. Er passierte am vergangenen Samstag die Grenze zu Großbritannien.

R., das ist der Fahrer des Lkw, in dem in der Nacht zu Mittwoch im englischen Grays 39 tote Menschen gefunden wurden. Der Nordire wurde kurz nach dem Leichenfund festgenommen, gegen ihn wird wegen Mordverdachts ermittelt.

Wie die Bild.de-Redaktion treffend darlegt, weiß man bis jetzt noch nicht, “ob und wenn ja, was genau R[.] mit dem Tod der Männer zu tun hat”. Dass es sich bei den Leichen um 31 Männer und acht Frauen handelt — und nicht nur um Männer, wie Bild.de schreibt –, sei nur nebenbei erwähnt.

In einem weiteren Artikel zum selben Thema fragt Bild.de:

Wusste der Fahrer, dass sich in seinem Kühlaufleger Menschen verborgen hatten — oder war er tatsächlich völlig ahnungslos?

Darauf gibt es bisher keine klare Antwort. Und dennoch zeigte Bild.de auf der Startseite ein unverpixeltes Foto des Fahrers neben einer Überschrift, in der für die Unklarheiten dieses Falles kein Platz war:

Screenshot Bild.de - 39 Leichen in Lkw gefunden - Das ist der Fahrer des Todestrucks
(Unkenntlichmachung durch uns.)

Auch in der “Bild”-Zeitung war ein unverpixeltes Foto des Mannes abgedruckt. Und bei Bild.de präsentierte die Redaktion zusätzlich das Ergebnis ihres Beutezugs durch die Sozialen Medien: zwei Fotos, auf denen R. zu sehen ist, mit der Quellenangabe “Foto: R[.]/ Facebook”. Außerdem gab es in den Artikeln Informationen aus seinem Privatleben.

Zum Zeitpunkt, als die “Bild”-Medien die Aufnahmen, die R. ohne Unkenntlichmachung zeigen, veröffentlichten, saß der Mann zwar in Untersuchungshaft, es gab aber noch keine Anklage gegen ihn. Inzwischen gibt es eine wegen 39-fachen Totschlags — verurteilt ist R. bislang allerdings nicht.

Für eine Vorverurteilung sorgen allerdings schon die “Bild”-Medien mit Sätzen wie “Sein Lkw wurde zum Grab für 39 Menschen” und “Der 25-Jährige soll von Nordirland nach Purfleet gereist sein, um dort den Truck des Grauens zu übernehmen”. Noch einmal: Ob R. tatsächlich wusste, dass es sich bei dem Kühlauflieger um einen “Truck des Grauens” handelte, ist bisher nicht bekannt. Sicherlich könnte man einem Lkw-Fahrer Fahrlässigkeit vorwerfen, wenn er kein wirkliches Interesse daran hat, was sich in seinem Anhänger befindet, den er durch die Gegend fährt.* Das ist allerdings etwas ganz anderes als der Vorwurf, für den Tod von 39 Menschen verantwortlich zu sein.

“Bild” und Bild.de sind übrigens nicht die einzigen Medien, die R. unverpixelt zeigen, zumindest wenn man nach Großbritannien schaut. Selbst die BBC und der “Guardian” veröffentlichen Fotos des Verdächtigen und nennen seinen vollen Namen. Doch nur weil andere jemanden medial hinrichten, bevor irgendetwas geklärt ist, muss man ja nicht mitmachen.

Mit Dank an @SabineSchaper und @DerKotta für die Hinweise!

*Nachtrag, 29. Oktober: Mehrere Leserinnen und Leser haben uns darauf hingewiesen, dass Auflieger häufig verplombt sind, und der Fahrer daher gar nicht die Möglichkeit hat hineinzugucken.

Schertzhafte Ambiguitäts-Taktik, Fetisch Schönheit, Kinder des Koran

1. Ambiguität der Aufmerksamkeit: Fallen Sie nicht noch mal auf Claas Relotius rein (Digitale November-Notizen)
(dirkvongehlen.de)
“Wenn es blöd läuft, sorgt ausgerechnet die Dokumentationspflicht, die manche Medien empfinden, dafür, dass Marketingpläne aufgehen und die Berichterstattung als Teil einer Kampagne genutzt wird.” Als Beispiel für die “Ambiguität der Aufmerksamkeit” führt Dirk von Gehlen die kalkulierte Vorwärts-Verteidigung der Relotius-Anwälte an: “Diese Kampagne war so offensichtlich, dass sie als Lehrbeispiel in Sachen Medienkompetenz und Krisenkommunikation gelesen werden kann.” Von Gehlen erklärt den dahinterstehenden Spin, und warum wir kein zweites Mal auf Relotius hereinfallen sollten.
Weiterer Lesehinweis: Laura Hertreiter fragt in der “Süddeutschen Zeitung”: Wie heldenhaft muss Juan Moreno eigentlich sein? “Das Bedürfnis scheint in weiten Teilen des Publikums groß zu sein, ihn entweder als Supermann oder als Gestrauchelten zu sehen. Es ist dasselbe Bedürfnis, das die Hochglanzgeschichten des Claas Relotius so erfolgreich gemacht hat: weil sie die Welt so wunderbar in richtig und falsch, gut und böse, wahr und unwahr sortieren, weil sie keine Fragen und Brüche zulassen.”

2. MDR überdenkt Zusammenarbeit mit Uwe Steimle
(spiegel.de)
Der sächsische Komiker und Kabarettist Uwe Steimle macht seit einiger Zeit durch rechtspopulistischen Äußerungen und Provokationen auf sich aufmerksam. Bislang hielt der MDR stets zu seinem Hauskabarettisten (“Steimles Welt”). Damit könnte es jedoch bald ein Ende haben. Der Sender wolle laut “Spiegel” die Zusammenarbeit überdenken: “Es ist eine Grenze überschritten, wenn uns jemand in die Nähe des Staatsfernsehens rückt”, so MDR-Intendantin Carola Wille.
Weiterer Lesetipp: Bei Tagesspiegel.de kommentiert Joachim Huber: “Uwe Steimle ist ein Kann-Fall. Ja, der MDR kann ihn beschäftigen. Seine Tragbarkeit folgt keinen festgefügten Maßstäben, sie muss stets neu verhandelt werden. Was nicht verhandelbar ist: Der MDR muss den freien Mitarbeiter rausschmeißen, wenn diese Behauptung zur Gewissheit wird: Uwe Steimle ist ein Antisemit.”

3. Verzerrungen und Vorurteile – eine kritische Rezension zu Constantin Schreibers “Kinder des Koran”
(disorient.de, Jan Altaner)
Auf “dis:orient” schreiben unabhängige Journalistinnen und Journalisten, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Aktivistinnen und Aktivisten über die Geschehnisse und Entwicklungen in den Ländern Westasiens und Nordafrikas. In der aktuellen Rezension des Buchs “Kinder des Koran. Was muslimische Schüler lernen” (Autor des Buchs: Constantin Schreiber) werden schwere Vorwürfe erhoben: Schreibers Analyse sei “ungenau, verzerrend und bisweilen faktisch falsch und verbreite xeno- und islamophobe Positionen, Stereotype und Diskurse”. Rezensent Jan Altaner hat viel Mühe für die Beweisführung aufgewandt und eine weitere, noch ausführlichere Langversion verfasst. 
PS: Sollte ein Statement bzw. eine Antwort von Constantin Schreiber vorliegen, werden wir es hier verlinken.

4. Worte, die vergiften
(sueddeutsche.de, Carolin Emcke)
Carolin Emcke beschäftigt sich in ihrer Kolumne mit dem oft verwendeten Begriff der “politischen Korrektheit”. Dabei handele es sich um “das Morsezeichen der Denkfaulen, mit dem sich reflexhaft alles abwehren lässt, was eingeübte Überzeugungen oder Habitus infrage stellen könnte.” Emcke lenkt den Blick auf die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen Sonntagsreden und gelebtem Alltag: “All die vollmundigen Erklärungen und Maßnahmen gegen rechtsradikale, völkische Fanatiker nützen nichts, wenn gleichzeitig all jene Bürgerinnen und Bürger herablassend bespöttelt werden, für die Respekt vor anderen keine elitäre Zumutung, sondern eine soziale Selbstverständlichkeit bedeutet.”

5. Die verrückte Sucht nach Schönheit
(rnd.de, Julia Rathcke & Imre Grimm)
Im Selfie-Zeitalter von Instagram und Co. geht es um das Ausstellen der eigenen Schönheit und die mitunter unschönen Folgen: Immer mehr junge Menschen wollen sich Schönheits-OPs unterziehen. In den Sozialen Medien machen Influencerinnen und Influencer mal mehr und mal weniger direkt Werbung für Eingriffe und Kliniken. Julia Rathcke und Imre Grimm schreiben über den Schönheitswahn der Ära Instagram, erzählen, was alles schiefgehen kann, und diskutieren die bestehende und geplante Gesetzeslage.
Weiterer Lesetipp: Imre Grimm hat mit dem Mediziner Burkard Jäger (Fachgebiet Essstörungen) über den “Fetisch Schönheit” gesprochen, der auch im Fernsehen allgegenwärtig sei: “Was sicher nicht hilft, sind Sendungen wie “Germany’s Next Topmodel”, wo Essstörungen direkt promotet werden. Das ist eine Katastrophe. Da macht sich Heidi Klum schuldig, ohne jeden Zweifel.”

6. Der Flat White unter Deutschlands trüben Showtassen
(dwdl.de, Hans Hoff)
Hans Hoff hält den Entertainer und Comedian Luke Mockridge für zu nett: “Möglicherweise braucht es aber ein bisschen mehr, wenn man herausfallen will aus der Riege der Durchschnittlichen. Bei Tante Ursulas Geburtstag wäre er bestimmt eine Stimmungsbombe, denn er kann gut risikofreies Entertainment, glutenfrei, vegan und auch für laktoseintolerante tolerabel. Man ahnt bei ihm immer, was kommt, und das kommt dann auch. Unter den trüben Showtassen in Deutschland ist er der Flat White, schön warm, aber nicht geschäumt.”
Zusätzlicher Gucktipp: Stefan Niggemeier hat sich die erste “Abendshow” von Ingmar Stadelmann im rbb angeschaut. Ein Akt der Aufopferung, den Niggemeier zu einem unterhaltsamen, wenn auch etwas schmerzhaften Video zusammengeschnitten hat: “Sieben Humor-Hacks von Ingmar Stadelmann” (uebermedien.de, Video: 3:46 Minuten).

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Gibt es eine Korrelation zwischen Arbeitsplatz und Tweetidiotie?

Beim ständig laufenden Wettbewerb “Welcher “Bild”-Mitarbeiter bietet die traurigste Performance bei Twitter?” hat es Chefreporter Michael Sauerbier gestern am späten Abend mit dieser Einsendung versucht:

Screenshot eines Tweets von Bild-Chefreporter Michael Sauerbier - Jan Böhmermann und eine sehr dicke Frau erzählen uns heute, Medizin und Forschung würden Frauen vernachlässigen. Kurz vor der Empörung fällt mir ein: Frauen leben fünf Jahre länger als Männer! Erwähnen beide nicht. P.S. Es gibt eine Korrelation zwischen Lebenserwartung und Übergewicht

Sauerbier bezieht sich auf einen Beitrag in der neuen Folge des “Neo Magazin Royale”. Jan Böhmermann und Giulia Becker sprechen dort über das Thema “geschlechtsspezifische Medizin”. Und das ist tatsächlich ganz informativ: Man erfährt etwa, dass Medikamente bei Männern und Frauen unterschiedlich wirken, und dass das ein Problem sein kann, weil Medikamente häufig nur an männlichen Mäusen oder männlichen Menschen getestet werden; dass beispielsweise ein häufig verschriebenes Herzmedikament laut einer Studie das Leben der herzkranken Frauen verkürzte, das der Männer aber nicht; und dass neben der Wirksamkeit auch die Verträglichkeit von Medikamenten bei Männern und Frauen sehr unterschiedlich sein kann, was wegen der starken Fokussierung der Forschung auf Männer wiederum zum Problem von Frauen werden kann.

Und was fällt “Bild”-Chefreporter Michael Sauerbier dazu ein? Er zieht über “eine sehr dicke Frau” her und bekommt es nicht mal hin, den Namen der lustigen und erfolgreichen Giulia Becker zu nennen. Aber auch inhaltlich ist sein Tweet ziemlich schief: Soll das also heißen, dass man nur mit einem bestimmten Körpergewicht über ein gesellschaftlich relevantes medizinisches Thema sprechen darf? Und ist es laut Sauerbier nicht so schlimm, dass “Medizin und Forschung” “Frauen vernachlässigen”, weil Frauen ja eh “fünf Jahre länger” leben als Männer? Dass Frauen trotz dieser Vernachlässigung eine höhere (oder andersrum: Männer eine niedrigere) Lebenserwartung haben, hat auch nichts mit dem zu tun, was Böhmermann und Becker in ihrem Beitrag ansprechen — Sauerbier wirft diesen scheinbaren Zusammenhang einfach mal so hin. Für die verschiedenen Lebenserwartung sorgen stattdessen biologische Faktoren und unterschiedliche Verhaltensmuster.

Nach mehreren Hundert Antworten hat Michael Sauerbier seinen Tweet kommentarlos gelöscht.

Mit Dank an die vielen Hinweisgeber!

Rezo bei “Zeit Online”, Höcke will Bürgerkrieg, Die Methode Trump

1. Horst Seehofer ist kein drolliges Kleinkind
(zeit.de, Rezo)
“Ein Nazi tötet, ein Innenminister labert Scheiße und der Rest der Bevölkerung lässt sich vom Wesentlichen ablenken.” Das sind die ersten Worte der neuen “Zeit Online”-Kolumne von Youtuber Rezo (bekannt aus “Die Zerstörung der CDU”). In seinem Text erklärt Rezo, “wieso wir in Zukunft die Äußerungen von Politikern häufiger als Bullshit bezeichnen sollten, um ein konstruktiveres Umfeld zu schaffen für die Diskussionen, die ja geführt werden müssen.” Rezos Kolumne erreicht damit Platz 1 der Social-Media-News-Charts, wie Daten-Analyst Jens Schröder in seiner #trending-Kolumne bei Meedia feststellt.
Es sind allerdings wahrlich nicht alle begeistert von Rezos Beitrag: Jana Wolf findet ihn beispielsweise inhaltlich “daneben” und im Ton “überheblich” und “selbstgefällig”.

2. Werben wie Donald Trump
(netzpolitik.org, Alexander Fanta)
Bekanntermaßen gibt es für Posten wie den des Möchtegern-Autokraten Donald Trump keinen Ausbildungsgang. Alexander Fanta hat daher auf netzpolitik.org die wichtigsten Tipps und Tricks zusammengetragen, wie sich mit Hilfe von Facebook Menschen und Wahlen manipulieren lassen: “Schritt eins: Frage Fragen und bitte um Geld. Schritt zwei: Erzähle Märchen über deine Gegner. Schritt drei: Stifte mit Troll-Armeen Verwirrung. Schritt vier: Lasse Sockenpuppen für dich sprechen.” Was sich vielleicht etwas lustig anhört, hat einen ernsten Hintergrund und ist mit unzähligen Links zum Weiterlesen gespickt.
Weiterer Lesetipp: US-Präsident Trump hat angekündigt, die “New York Times” und die “Washington Post” im Weißen Haus abbestellen zu wollen. Die Bundeseinrichtungen sollen ebenfalls ihre Abos kündigen: Trumps neues Aufbäumen gegen kritische Medien (sueddeutsche.de, Anna Ernst).
Und wer sich darüber informieren will, wie es hierzulande um den Online-Wahlkampf bestellt ist: Wahlwerbung via Social Media: CDU gab am meisten für Microtargeting aus (heise.de).

3. Höcke will den Bürgerkrieg
(zeit.de, Hajo Funke)
Die Sprache des Thüringer AfD-Politikers Björn Höcke offenbare seine Gefährlichkeit, so der Rechtsextremismusforscher Hajo Funke in seinem Gastbeitrag auf “Zeit Online”: “Wenn wir Höcke also an seiner Sprache messen, so geht es ihm um eine nicht nur ethnische, sondern auch politische “Säuberung” und um das Einsetzen staatlicher Gewalt gegen beliebig definierte Feinde. Er suggeriert mit dieser Sprache auch einen künftigen Kampf zwischen denen, die anders denken und seinen Anhängern, er will offensichtlich den Bürgerkrieg in Dörfern und Städten in Deutschland. Es ist eine Strategie der Entfesselung und der Aufschaukelung von Ressentiments und Gewalt.”
Weiterer Lesetipp: Höcke scheitert mit Eilantrag gegen Verfassungsschutz (spiegel.de, Wolf Wiedmann-Schmidt).

4. Datenschutzbeschwerde gegen Zeit Online eingereicht
(onlinejournalismus.de, Matthias Eberl)
Matthias Eberl kritisiert seit Langem die Trackingpraxis und Datenweitergabe deutscher Medienhäuser. Nachdem die Redaktion von “Zeit Online” (von der in dieser “6 vor 9”-Ausgabe auch zwei Beiträge verlinkt sind) bereits im Sommer mit dem Negativpreis Big-Brother-Award bedacht wurde, hat nun ein Leser eine Datenschutzbeschwerde eingereicht. Eberl hat mit dem Beschwerdeführer über dessen Beweggründe gesprochen: “Ich finde es frech, dass Zeit-Online meine Daten an Facebook gibt, obwohl ich zahle”.

5. 70 Jahre FAZ: Wo die Herausgeber regieren wie «Kurfürsten»
(medienwoche.ch, Adrian Lobe)
Zum 70. Geburtstag der “FAZ” hat der Historiker Peter Hoeres ein über 500-seitiges Buch über die Geschichte der Zeitung vorgelegt. Adrian Lobe stellt das Werk vor und erzählt dabei von den verschiedenen Epochen und Machtkämpfen des berühmten Medienhauses. Lobe sieht in der Geschichte der “FAZ” auch den Bedeutungsverlust der gedruckten Zeitung: “Im Rückspiegel der Geschichte sieht man die aktuellen Entwicklungen klarer. Insofern leistet das Buch — wohl etwas unfreiwillig — auch einen Beitrag zum Verständnis des Medienwandels.”

6. “Lachen bedeutet Freiheit”
(taz.de, Erica Zingher)
Seit ihrem Start 2017 wurde die rbb-“Abendshow” von Britta Steffenhagen und Marco Seiffert moderiert. Nun hat der Sender das Moderatoren-Duo abgelöst und durch den Komiker Ingmar Stadelmann ersetzt. Im Interview mit der “taz” spricht Stadelmann über seine Pläne, die Grenzen der Freiheit und darüber, warum er Dieter Nuhr verteidigt, ohne seinen Verteidiger spielen zu wollen.
Weiterer Lesetipp: Markus Ehrenberg hat sich für den “Tagesspiegel” die erste Sendung der Stadelmannschen “Abendshow” angeschaut. Sein Befund: “Noch viel Luft nach oben”.
Und noch ein Lesetipp: Cordula Nitsch und Dennis Lichtenstein schreiben in der “Medienwoche” über Satire als “Einstiegsdroge”.

Bild.de verrät nicht, wo die Kanzlerin wohnt, dafür aber, wo sie wohnt

Manchmal — also wirklich nur manchmal — finden wir, dass selbst die “Bild”-Redaktion auf ganz gute Ideen kommt. Wenn sie zum Beispiel bei Bild.de dieses Foto …

Screenshot Bild.de - Hatte der Weihnachtsmarkt-Attentäter auch die Kanzlerin im Visier? Dieses Selfie vor Merkels Wohnhaus fand das BKA auf Amris Handy
(Unkenntlichmachung des Gesichts durch uns, Verfremdung des Foto-Hintergrunds durch Bild.de.)

… extra verfremdet und im Artikel in einer Bildunterschrift dazu erklärt:

Dieses Selfie von Anis Amri fanden die BKA-Ermittler auf dem Handy des Terroristen. Es zeigt den späteren Weihnachtsmarkt-Attentäter vor dem Berliner Wohnhaus von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Das Foto entstand am 23. Oktober 2016, wenige Wochen vor dem Anschlag. BILD hat das Foto verfremdet, um keine Rückschlüsse auf den Wohnort von Angela Merkel zuzulassen

Das klingt ja erstmal so, als hätte sich jemand richtig Gedanken gemacht. Blöd nur, wenn im selben Artikel ein paar Absätze weiter unten steht:

Wenige Minuten zuvor hatte der Terrorist sich auch vor dem Wohnhaus von Merkel abgelichtet. Die Ermittler des BKA erwähnen in ihrer Auswertung jedoch nur das benachbarte […]-Haus, seit Jahren Sitz der […] Gesellschaft.

Viel mehr konkrete Hinweise, die “Rückschlüsse auf den Wohnort von Angela Merkel zulassen”, kann man kaum geben. Google braucht nicht mal eine Sekunde und spuckt einem dann aus, wo genau sich dieses “Haus” und diese “Gesellschaft” befinden.

Mit Dank an Chris B. für den Hinweis!

Nachtrag, 25. Oktober: Mehrere Leserinnen und Leser haben uns geschrieben, dass die Adresse von Angela Merkels Wohnhaus in Berlin durchaus bekannt ist, bei Stadtrundfahrten gern auf das Haus hingewiesen wird, und selbst bei Wikipedia die Information zu finden ist, wo genau die Bundeskanzlerin wohnt.

Uns ging es in diesem Beitrag auch gar nicht so sehr darum, dass Bild.de ein großes Geheimnis verraten haben könnte — wir fanden einfach die Widersprüchlichkeit innerhalb eines Artikels ganz amüsant. Und wir fanden die Scheinheiligkeit interessant, denn in anderen Fällen ist die Redaktion nicht so rücksichtsvoll. Daher fänden wir es gut, wenn die “Bild”-Redaktion mit den Wohnadressen der Personen, über die sie berichtet, generell vorsichtiger umginge.

Relotius vs. Moreno, AfD-Sprech analysiert, Tränen-lach-Emoji

1. Juan Moreno und der Fluch der fast perfekten Pointe
(uebermedien.de, Stefan Niggemeier)
“Spiegel”-Fälscher Claas Relotius wirft seinem Ex-Kollegen und Fälschungsaufdecker Juan Moreno per Anwaltsschreiben “erhebliche Unwahrheiten und Falschdarstellungen” vor. Neben allerlei Petitessen geht es um eine Anekdote in Morenos Buch, die als wirkungsvolle Schlusspointe dient. Ließe diese sich nicht beweisen, sei dies ärgerlich, so Medienkritiker Stefan Niggemeier. Trotzdem sei es wichtig, “den Maßstab nicht aus den Augen zu verlieren. Moreno ist kein Relotius, in keiner Hinsicht.”
Weiterer Lesetipp: Der “6 vor 9”-Kurator erklärt seinem Vater auf Twitter “die aktuellen Vorgänge in Sachen #Relotius und #Moreno”. Dabei geht es um goldene Armbanduhren, einen Zweireiher und ein Halteverbot.

2. Twitter-Krach um rechtspopulistische Äußerungen
(sueddeutsche.de, Sandra Lohse)
Es ist schon verwirrend, was sich teilweise beim Deutschen Journalisten-Verband abspielt: Ein Landesverband (Berlin-Brandenburg) macht durch fragwürdige und mit rechtspopulistischen Vokabeln gespickte Stellungnahmen auf sich aufmerksam. Der Dachverband distanziert sich von den Äußerungen, kann nach eigenen Angaben aber nicht direkt bei Twitter darauf reagieren, weil der Landesverband den Dachverband blockiert habe. Sandra Lohse schreibt über den irritierenden Verbandszwist.
Nachtrag: BILDblog-Leser Sebastian Pertsch merkt bei Twitter an, dass im verlinkten Artikel der Hinweis zu den Regionalverbänden “DJV Berlin und JVBB” fehle: “So entsteht der Eindruck, es wäre der einzige Landesverband in Berlin. Dabei spielt der DJVBB bis auf die rechten Polemiken als AfD-Fanboy keine Rolle.”
Nachtrag zum Nachtrag: Die Redaktion der “Süddeutschen” hat auf den Hinweis reagiert und die Information im Text nachgetragen.

3. Polizei schaut bei Eklat auf Frankfurter Buchmesse nur zu
(tagesspiegel.de, Sebastian Leber)
Als der Journalist Jonas Fedders auf der Frankfurter Buchmesse über rechte Verlage recherchieren will, wird er von rechten Aktivisten und einem Szene-Verleger schikaniert, bedrängt und bedroht und an der Arbeit gehindert. Auf gewisse Weise unterstützt durch die Frankfurter Polizei, wie ein Videomitschnitt beweise. Sebastian Leber kommentiert: “So unpassend wie das Verhalten der Beamten vor Ort gerät auch die Stellungnahme der Frankfurter Polizei im Nachhinein. Obwohl das Video der Polizei bekannt ist und seine Authentizität eingeräumt wird, erklärt die Behörde vage, die Beamten vor Ort hätten die Ausübung der Pressearbeit zu keiner Zeit eingeschränkt. Das ist, wie das Video belegt, offensichtlich unwahr.”

4. Ermittler: Hetze kommt überwiegend von rechts
(deutschlandfunk.de, Ann-Kathrin Büüsker, Audio: 10:41 Minuten)
Ann-Kathrin Büüsker hat sich im Deutschlandfunk mit Staatsanwalt Christoph Hebbecker über Hasskommentare im Internet unterhalten. Hebbecker arbeitet bei der staatsanwaltschaftlichen Anlaufstelle Cybercrime des Landes Nordrhein-Westfalen und beschäftigt sich tagtäglich mit Hasskriminalität. Die Fälle seien politisch ziemlich eindeutig zuzuordnen: “Wir können ganz klar sagen, dass die ganz weit überwiegende Anzahl der Fälle, die wir täglich bearbeiten, dem rechten und rechtsextremen Spektrum zuzuordnen ist, ein kleiner Teil auch dem linken Spektrum, und ein kleiner Teil ist auch keiner politischen Orientierung zuzuordnen.”

5. Die Macht der Komposition
(zeit.de, Lena Luisa Leisten)
Die AfD ist für ihre populistische Sprache bekannt, die auf Gefühle und Framing setzt. Sie bedient sich dabei einiger sprachlicher Tricks: Besonders eingängige Wortzusammensetzungen gehören genauso dazu wie Begriffe aus dem Bereich der Naturkatastrophen oder dem Kampf- und Kriegskontext. Lena Luisa Leisten hat den AfD-Sprech anhand von echten Beispielen analysiert und klassifiziert. Eine lohnende Lektüre, die auch in den Deutsch- oder Politikunterricht gehören könnte.

6. Nicht lustig: Warum das Tränen-lach-Emoji sterben muss
(haz.de, Matthias Schwarzer)
Matthias Schwarzer geht die lachende Fratze des Tränen-lach-Emojis auf die Nerven. Der Smiley werde inflationär eingesetzt und diene vielfach als Symbol von Überheblichkeit und Hass. Aus “sehr laut lachen” sei im Laufe der Jahre ein “auslachen” geworden: “Der Tränen-lach-Smiley hilft auch dem schlimmsten Rassisten, die eigentlich nicht vorhandene Witzigkeit auszudrücken und ein Gag-Feuerwerk (natürlich auf Kosten anderer) abzufeuern. Der Tränen-lach-Smiley wird dabei in den Facebook-Kommentarspalten zum Zeichen der Ausgrenzung, zum Zeichen der Erniedrigung, zur Verniedlichung ekelhaftester Beleidigungen.”

Wenn “Bild” “Terror” sagt, dann soll auch “die Politik” “Terror” sagen

Nur einen Tag, nachdem ein Mann im hessischen Limburg absichtlich mit einem Lkw in mehrere Autos gefahren sein soll und dabei acht Menschen verletzt hat, schrieb “Bild”-Parlamentsbüro-Leiter Ralf Schuler:

Zusammengeschobene Autos, verletzte Menschen, ein zerbeulter LKW:

Die Szenerie in Limburg ruft direkt Erinnerungen an ISIS-Anschläge hervor.

Und Schuler blieb auf der ISIS-Fährte:

In ihrem Propagandamagazin “Dabiq” und in Ansprachen ihres früheren Sprechers al-Adnani hatte die Terrororganisation ihre Anhänger zu Anschlägen mit Fahrzeugen aufgerufen.

Mit “Erfolg”:

► Am 14. Juli 2016 ermordete der Dschihadist Mohamed Lahouaiej Bouhlel mit einem Lkw in Nizza 86 Menschen.

► Am 19. Dezember 2016 desselben Jahres erschoss Anis Amri einen Lkw-Fahrer und ermordete mit dem Fahrzeug anschließend elf Menschen auf dem Berliner Breitscheidplatz.

► Auch der in Limburg festgenommene Syrer soll mehrfach versucht haben, einen Lkw zu kapern, bis es ihm am Montag schließlich gelang und er mehrere Menschen verletzen konnte.

Ein LKW, ein Syrer, Schulers “Erinnerungen an ISIS-Anschläge” — der Vorfall in Limburg kann doch nur ein islamistischer Terroranschlag gewesen sein. Und so fragten Ralf Schuler und “Bild” vorwurfsvoll in ihrer Überschrift:

Ausriss Bild-Zeitung - Immer wieder ist von gestörten Einzeltätern die Rede - Warum fürchtet die Politik das Wort Terror?

Der Grund, warum “die Politik” in dem Fall nicht sofort von “Terror” sprach, dürfte die Frage nach dem Motiv gewesen sein, die zu dem Zeitpunkt, als Schulers Text erschien, nicht eindeutig beantwortet werden konnte. Eine Woche später stellte sich heraus, dass der Verzicht auf “das Wort Terror” eine gute Wahl war: Die Ermittler konnten keine Anzeichen für einen terroristischen Hintergrund feststellen und keine Verbindungen des Tatverdächtigen zur islamistischen Szene finden. Die Tat in Limburg war kein Terror.

Bei “Bild” und Bild.de war da schon längst vom “Terror-Fahrer von Limburg” und vom “mörderischen Terror-Anschlag”, dem das Land “offenbar mit viel Glück” entgangen sei, die Rede. Warum auch recherchieren oder die Ermittlungsergebnisse abwarten, wenn die Tat in Limburg die Redaktion an die Taten in Nizza und am Berliner Breitscheidplatz erinnert und sie so in ihren Vorurteilen bestätigt?

Natürlich wäre es die Aufgabe von Journalisten, auch bei “Bild”, die Leserschaft aufzuklären, dass die Motivlage nicht eindeutig ist und dass bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein müssen, etwa ein politischer oder religiös-fanatischer Hintergrund, damit eine Tat als Terroranschlag gilt, anstatt auf Politiker loszugehen, die lieber Ermittlungen abwarten und nicht wild spekulieren. Yassin Musharbash beispielsweise erklärte bei “Zeit Online” ausführlich, warum die Tat in Limburg für die ermittelnden Behörden nicht als Terror gilt:

Im konkreten Fall fehlen noch wichtige Details. Es ist zum Beispiel bisher nicht bekannt, dass der Täter von Limburg irgendwelche Verbindungen in die islamistische Szene hatte. Derzeit gehe man mangels anderer Spuren davon aus, dass es sich um die Aktion eines gestörten Menschen handeln könnte, sagen Ermittler. Trotzdem darf man davon ausgehen, dass seine Tat durch entsprechende Taten von islamistisch motivierten Attentätern motiviert war. Aber reicht das, um die Tat zu einem islamistischen Anschlag zu machen?

Man kann diese juristische Perspektive mit dem Argument ablehnen, aus Sicht der Opfer mache es keinen Unterschied, ob er Islamist ist oder nicht. Aber eine solche Blickweise verwässert die Trennschärfe — und stellt in letzter Konsequenz in Frage, ob man den Begriff Terrorismus überhaupt noch verwenden soll. Wenn man ihn verwendet, ist es jedenfalls nicht sinnvoll, ihn von der ideologischen Motivation zu trennen.

Doch anstatt aufzuklären, kräht “Bild”, die Politik traue sich nicht, von Terror zu sprechen — bei einem Fall, der laut der Ermittler mit Terror nichts zu tun hat. Anstatt auf gesicherte Fakten zu warten, will die Redaktion schon wissen, dass es Terror war — und tut so, als würde “die Politik” sich vor dieser vermeintlichen Erkenntnis “drücken”. Ralf Schuler schreibt:

Doch zur Wahrheit gehört auch: Die Politik drückt sich noch immer vor dem Eingeständnis, dass mit der Massenmigration seit 2015 auch Kriminelle nach Deutschland gekommen sind und spricht deshalb lieber über Einzelfälle als über das Terror-Problem.

… als würde auch nur eine Partei ernsthaft behaupten, unter den Menschen, die seit 2015 nach Deutschland gekommen sind, seien keine Kriminellen gewesen. Und als hätten Politikerinnen und Politiker in den vergangenen Jahren im Parlament, in Interviews, in TV-Talkshows nicht ausgiebig über ein Thema gesprochen: die Kriminalität von Zugewanderten.

Ralf Schulers Vorwurf auf falscher (Terror-)Grundlage an “die Politik” wurde beim Axel-Springer-Verlag übrigens von oberster Stelle abgesegnet. Springer-Chef Mathias Döpfner schoss ein paar Tage später in dieselbe Richtung:

Wenn in Limburg ein zuvor gestohlener Laster acht Autos rammt, dabei neun Menschen verletzt, danach der zuvor mehrfach straffällige Täter aussteigt und nach Zeugenberichten “Allah” gerufen haben soll, dann sprechen Politiker von einem “verwirrten Einzeltäter”, ARD und ZDF berichten über den Fall zunächst fast gar nicht und sprechen dann von einem “Lkw-Vorfall”.

Wie schlimm falsch das alles ist, hat Stefan Niggemeier drüben bei “Übermedien” aufgeschrieben.

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