Alternative Realität, Kneipenwirt, Behauptungsjournalismus

1. Gezielte Falschmeldungen über Amokfahrt
(tagesschau.de, Patrick Gensing)
Nach der Amokfahrt von Volkmarsen gab es im Internet wilde Spekulationen über die Hintergründe. Ein gerne verwandtes, zusammenfantasiertes Narrativ: Der Täter habe einen Migrationshintergrund, es habe sich um einen islamistischen Anschlag gehandelt. Selbst mit den größten Bemühungen um Aufklärung und Information dringe man manchmal nicht in die alternative Realität mancher Nutzerinnen und Nutzer vor, so Patrick Gensing: “Einige Nutzer vertrauen einer anonymen Webseite aus dem Ausland mehr als sämtlichen Polizisten und Reportern, die vor Ort arbeiten. In Kommentaren werfen sie Polizei, Regierung und Medien vor, sie würden gemeinsam agieren und Informationen zurückhalten, um die Menschen zu belügen. So wachsen Verschwörungstheorien — und geglaubt wird nur noch das, was ins eigene Weltbild passt.”

2. Zensur und Einschränkung von Journalisten
(reporter-ohne-grenzen.de)
Reporter ohne Grenzen wendet sich gegen die chinesische Zensur im Rahmen der Berichterstattung über das Coronavirus. Anfang Februar seien sogar mehrere Journalisten und politische Kommentatoren festgenommen worden. ROG-Geschäftsführer Christian Mihr: “Vollständige Transparenz und eine informierte Öffentlichkeit können verhindern, dass sich Gerüchte verbreiten und die Krise damit verschärfen. Dafür müssen Medienschaffende ungehindert recherchieren können.”

3. Wie Zuckerberg von Hass und Lügen profitiert
(faz.net, Christopher Lauer)
In seinem Gastbeitrag für die “FAZ” stellt Christopher Lauer einen interessanten Vergleich an: “Wir müssen uns Mark Zuckerberg also als einen Wirt vorstellen, in dessen Restaurant sich Nazis, Rechtsextreme und Verschwörungsideologen treffen, andere Gäste bedrohen und beleidigen, sich im Restaurant zu Straftaten verabreden, der aber, statt sich seines Hausrechts zu bedienen und die Idioten einfach rauszuschmeißen, mehr Regulierung fordert. Ach so, wenn die Polizei in seiner Wirtschaft vorbeikommt und fragt, wer sich da denn letzte Woche bei ihm getroffen habe, gibt es dann auch immer nur die Antwort ‘Bitte schicken Sie uns ein internationales Rechtshilfeersuchen’. Auch die Gäste, die bei ihm beleidigt und bedroht worden sind, bekommen nichts anderes zu hören.”

4. Bitte lauter!
(sueddeutsche.de, Kathrin Hollmer)
Viele TV-Zuschauerinnen und -Zuschauer würden sich regelmäßig über Probleme mit der Akustik beschweren — die Dialoge seien unverständlich, die Sprache werde von Geräuschen überlagert. Kathrin Hollmer ist dem Problem nachgegangen, das viel mit Technik zu tun hat. Bei der Verbesserung des Bildes habe es in den vergangenen Jahren große Verbesserungen gegeben, nur beim Ton scheue man anscheinend Mühe und Investitionen.

5. ARD will an verlängerten “Tagesthemen” festhalten
(deutschlandfunk.de, Bettina Köster, Audio: 5:52 Minuten)
Bei ARD und ZDF gibt es Zoff: Die ARD will die “Tagesthemen”-Ausgabe am Freitag um eine Viertelstunde verlängern, was zu einer Kollision mit dem parallel im ZDF stattfindenden “Heute Journal” führt. Bettina Köster hat mit ARD-Chefredakteur Rainald Becker über den öffentlich-rechtlichen Nachrichtenkonflikt gesprochen.

6. Behauptungsjournalismus
(indiskretionehrensache.de, Thomas Knüwer)
Thomas Knüwer beschäftigt sich mit dem “Behauptungsjournalismus”, der nach folgendem Prinzip funktioniere: “Ich spreche einer Person oder einem Ding eine Funktion oder Eigenschaft [zu], die sie nicht besitzt — und hoffe, dass die Leser doof genug sind, dies nicht zu bemerken.” Damit es nicht bei einer bloßen Behauptung bleibt, bringt Knüwer drei Beispiele mit: einen Beitrag aus dem “Business Insider”, ein Fundstück aus dem Düsseldorfer “Express” und einen Textauszug aus Gabor Steingarts “Morning Briefing”.

AfD vs ARD, “E-Mail ist die neue Homepage”, Weinsteins Schuld

1. Jubel und Ausladung: ARD wehrt sich gegen AfD-Vorwürfe
(uebermedien.de, Jürn Kruse)
Haben sich bei der ARD-Wahlberichterstattung tatsächlich “Kameramann und Regieassistent vor Freude in die Hose gemacht”, als die schlechte AfD-Prognose bei der Wahl in Hamburg eingeblendet wurde? Dies behaupten jedenfalls verschiedene Abgeordnete der Partei. Jürn Kruse ist für “Übermedien” der Behauptung nachgegangen, die sich, so viel sei bereits verraten, als falsch herausstellt.
Weiterer Lesehinweis: RTL-Reporterin bejubelt Hamburg-Wahlergebnis: Darf sie das? (rnd.de, Matthias Schwarzer).

2. Geschworene sprechen Harvey Weinstein schuldig
(dwdl.de, Timo Niemeier)
Ex-Filmmogul Harvey Weinstein ist von einem Geschworenengericht wegen Vergewaltigung und sexueller Nötigung schuldig gesprochen worden. Ihm drohen nun mehrere Jahre Haft. Von einem der schwerwiegendsten aller Anklagepunkte, dem “raubtierhaften sexuellen Angriff”, wurde er jedoch freigesprochen. Bei Spiegel.de kommentiert Milena Hassenkamp: “Der Fall Weinstein belegt in mehrfacher Hinsicht, dass das amerikanische Justizsystem Frauen nicht ausreichend vor männlicher Gewalt schützt. Zunächst taten sich die Staatsanwälte in New York schwer damit, eine Anklage aufzubauen, da manche der Taten verjährt waren, Frauen nicht aussagen wollten, oder Fälle außerhalb des Bundesstaates stattgefunden hatten. Dann war es schwer, mehrere Frauen zu finden, deren Geschichten ausreichend glaubwürdig waren — und am Ende scheiterte das entscheidende Urteil genau daran.”

3. Kostenlose Stockfotos finden – gute Quellen und Tipps
(netzpiloten.de, Moritz Stoll)
Wer einen Blog oder eine Internetseite betreibt oder auf Social Media engagiert ist, weiß um die Wichtigkeit von professionellen Bildern zur Hervorhebung und Illustration der Beiträge. Doch woher nehmen und nicht stehlen? Moritz Stoll führt einige Quellen für lizenzfreie Fotos auf und gibt Tipps zu Einsatz und Verwendung.

4. “E-Mail ist die neue Homepage” – über bessere Newsletter
(dirkvongehlen.de)
Die schon oft totgesagte E-Mail erlebt eine Renaissance sondergleichen und zwar in der Gestalt des per Mail versandten Newsletters. Dirk von Gehlen geht dem Phänomen nach und widmet sich auf briefingbriefing.de aus journalistischer Perspektive der Frage, wie man erfolgreiche Newsletter erstellt.

5. Was Sie jetzt über den Fall Julian Assange wissen sollten
(zeit.de, Meike Laaff)
Meike Laaff beantwortet in einem kompakten, aber gründlichen und mit vielen Quellen und Lesehinweisen gespickten FAQ die wichtigsten Fragen zum Fall Julian Assange: Was genau wird dem Wikileaks-Gründer vorgeworfen? Welche Strafe droht ihm? Warum könnte die Sache zum Präzedenzfall für die Pressefreiheit werden?

6. Stefan Brink meint es ernst mit dem Datenschutz
(netzpolitik.org, Lucia Parbel)
Viele Behörden nutzen Soziale Netzwerke, um Bürger und Bürgerinnen zu informieren. Sie sind Teil der behördlichen Öffentlichkeitsarbeit. Auch Stefan Brink, der Landesdatenschutzbeauftragte von Baden-Württemberg, tat dies über einen Twitter-Account, den er jedoch mittlerweile gelöscht habe. Eine weitere Nutzung sei mit der seit 2017 geltenden Richtlinie für die behördliche Nutzung von Social Media nicht vereinbar. Im Gespräch mit Netzpolitik.org rät Brink allen Behörden, es ihm gleich zu tun und ihre Social-Media-Praxis hinsichtlich Transparenz und Datenschutz zu überprüfen: “Für Behörden dürfte es eigentlich nicht überraschend sein, dass man sich an bestimmte Regeln hält, aber offensichtlich müssen viele das neu lernen.”

Bild  

“Bild”-Chef erfindet 170.000 AfD-Wähler in Hamburg

Gestern Abend twitterte Julian Reichelt zur Bürgerschaftswahl in Hamburg:

Screenshot eines Tweets von Julian Reichelt - Nicht das Wahlergebnis ist der Triumph für die AfD. Sondern all die Journalisten, Aktivisten, Politiker, die ihre Niederlage verkündet haben, bevor es belastbare Fakten gab. Das festigt die Opferrolle, und heute Abend haben sehr viele dazu beigetragen, die auf der richtigen Seite stehen wollen. Journalisten haben verkündet und bejubelt, was sie gern hätten, nicht, was ist. Leichter kann man es der AfD nicht machen. Die bittere Wahrheit: Die AfD hat im Saldo trotz Hanau keinen einzigen Wähler in Hamburg verloren.

Nun ist Julian Reichelt nicht nur Medienethiker bei Twitter, sondern nebenberuflich auch noch “Bild”-Chefredakteur. Und damit verantwortlich für eine solche Überschrift, die gestern Abend im E-Paper der “Bild”-Zeitung erschienen war:

Ausriss Bild-Zeitung - Wahl in Hamburg - SPD-Triumph, Mega-Pleite für AfD

Im Artikel stand:

Die im weltoffenen Hamburg ohnehin schwache AfD beendete gestern die jahrelange Serie von Wahlsiegen.

Dazu zeigte die Redaktion die “erste Hochrechnung, Stand: 19:10”, laut der die AfD es nicht in die Bürgerschaft geschafft hatte:

Ausriss Bild-Zeitung - Erste Hochrechnung von 19:10 Uhr, laut der die AfD bei 4,7 Prozent liegt

Oder um es mit den Worten von Julian Reichelt zu sagen: Die “Bild”-Redaktion verkündete die Niederlage der AfD, “BEVOR es belastbare Fakten gab.” Erst nachträglich änderte sie ihre Überschrift in: “SPD-ERFOLG, DEBAKEL FÜR DIE CDU”. Im Artikel tauschte sie den oben zitierten Satz aus — dort steht inzwischen: “Die im weltoffenen Hamburg ohnehin schwache AfD musste gestern zittern.” Und die Grafik zeigt nun das “vorläufige amtliche Ergebnis”, in dem die AfD bei 5,3 Prozent liegt — und damit in der Bürgerschaft ist.

Wie stark Selbstblindheit und/oder Selbstgerechtigkeit bei Julian Reichelt ausgeprägt sind, zeigt auch ein Blick wenige Tage zurück: Nur ein paar Stunden nach den ersten Meldungen über die Schüsse in Hanau, hatten die Reporter, die in der “Bild live”-Sondersendung auftraten, keinerlei “belastbare Fakten”, mutmaßten aber schon mal, dass “Russen” hinter den Schüssen stecken, und dass das “Drogenmilieu” auch eine Rolle spielen dürfte.

Seinem Plädoyer für abwartenden Journalismus fügte der “Bild”-Chef noch ein paar Screenshots hinzu. Und er veröffentlichte einen “Nachtrag”:

Screenshot eines Tweets von Julian Reichelt - Nachtrag: Die ARD-Darstellung der Wanderung ist nicht ganz präzise. Es haben trotz Hanau nur noch 211000 Hamburger AfD gewählt, nicht mehr 214000.

Damit beweist Julian Reichelt einmal mehr seine Inkompetenz: Bei 831.715 Menschen, die in Hamburg gewählt haben, wäre es eine mathematische Überraschung, wenn die AfD nur 5,3 Prozent erreicht, sollten wirklich “211.000 Hamburger AfD gewählt” haben. Man braucht keinen Taschenrechner, um zu erkennen, dass das nicht passt.

Tatsächlich waren es rund 170.000 Wählerinnen und Wähler weniger: “Zeit Online” schreibt von “42.000 Menschen”, die die AfD bei der Hamburger Bürgerschaftswahl 2020 wählten, laut “Hamburger Morgenpost” waren es “rund 44.000 Hamburger”. Jeder von ihnen konnte bis zu fünf Stimmen auf der Landesliste frei vergeben. So kommt die deutlich höhere Anzahl an Stimmen für die AfD zustande: 211.327.

Der Chef der größten deutschen Tageszeitung ist nicht in der Lage, Wählerinnen/Wähler und abgegebene Stimmen auseinanderzuhalten.

Mit Dank an @onlinebuerger und @ronin_sam für die Hinweise!

Fremdenfeindlich vs. rassistisch, Bunte Lügen-Tweets, Subventionen

1. Zum Begriff Fremdenfeindlichkeit
(blog.tagesschau.de, Marcus Bornheim)
Nach der Tat von Hanau wurde viel über die Verwendung der Begriffe “fremdenfeindlich” und “rassistisch” diskutiert. ARD-aktuell-Chefredakteur Marcus Bornheim stellt dazu fest: “Zum Teil war es und ist es so, dass fremdenfeindlich auch als vermeintliches Synonym für rassistisch verwendet wurde und wird. Dies geschieht beispielsweise dann, wenn der Begriff rassistisch als zu stark empfunden wird. Rassistische Taten sollten aber auch so benannt werden. Die unglaubliche Tat von Hanau war rassistisch. Punkt.”
Weiterer Lesehinweis: Auf Twitter äußert sich dpa-Nachrichtenchef Froben Homburger zur Sprachregelung, die man bei der Agentur gefunden habe.

2. Links: @Bild-Chef @jreichelt beschwert sich über Journalisten, die verfrüht die Niederlage der AfD verkündet haben. Rechts: …
(twitter.com, Stefan Niggemeier)
Stefan Niggemeier stellt auf Twitter zwei in ihrer Aussage höchst konträre Screenshots von “Bild” und “Bild”-Chef nebeneinander. Dabei geht es um das Abschneiden der AfD bei der gestrigen Bürgerschaftswahl in Hamburg. Niggemeier resümiert: “Es ist der ganz normale, alltägliche Realitätsverlust, die Selbstblindheit und der Fanatismus des Bild-Chefredakteurs.”

3. SPIEGEL schafft Ombudsstelle
(spiegel.de)
Mehr als ein Jahr nach dem Fall Relotius hat der “Spiegel” eine sogenannte Ombudsstelle eingerichtet. Es handelt sich um ein aus drei Personen bestehendes Gremium, das “Hinweise auf Unregelmäßigkeiten in der Berichterstattung entgegennimmt und diesen nachgeht”. Auch der anonyme Meldeweg über die Adresse eines externen Rechtsanwalts sei möglich.

4. Twitter will Tweets mit Lügen farblich kennzeichnen
(golem.de, Tobias Költzsch)
Nach Angaben von NBC News testet Twitter ein System zur farblichen Kennzeichnung von Falschbehauptungen und Lügen. Dies könnte in Hinblick auf die kommenden US-Präsidentschaftswahlen im November interessant werden, bei denen mit einem erhöhtem Aufkommen von Unwahrheiten zu rechnen ist.

5. Subventionen für Print
(taz.de, Daniel Bouhs)
Daniel Bouhs berichtet von den widersprüchlichen Positionen der Zeitungsbranche zu staatlichen Subventionen. 40 Millionen Euro wolle die Bundesregierung im nächsten Haushalt zur Verfügung zu stellen — für die einen die Bedrohung verlegerischer Unabhängigkeit, für die anderen die längst fällige, jedoch aus ihrer Sicht viel zu niedrige Unterstützung.

6. So hemmungslos verbreiten Neonazis rechtsextreme Musik auf Telegram
(vice.com, Muriel Kalisch & Sebastian Meineck)
“Wenn Neonazis keinen Bock auf Stress haben, gehen sie zu Telegram.” Muriel Kalisch und Sebastian Meineck haben sich die WhatsApp-Alternative angeschaut, die sich zu einer der wichtigsten Plattformen für Rechtsextreme entwickelt habe: “Mindestens 57 Gruppen und Channels von rechtsextremen Bands lassen sich in der Chat-App finden. Hier machen sie, was sie auf vielen Plattformen sonst nicht mehr dürfen: Sie teilen verbotene Musik, informieren über Konzerte, verkaufen CDs und T-Shirts.”
Weiterer Lesehinweis: Gesucht: Influencer*in, jung rechts (correctiv.org, Alice Echtermann): “Mit großem Aufwand bauen Neue Rechte ein Netzwerk von Medien und Influencern auf, in dem oft Desinformation verbreitet wird. Junge Youtuber wie Niklas Lotz mit seinem Kanal ‘Neverforgetniki’ oder Naomi Seibt profitieren davon.”

Reichelt und Ronzheimer: “Bild” hat auch was richtig gemacht

“Bild”-Chefredakteur Julian Reichelt und seinen Stellvertreter Paul Ronzheimer muss man sich vorstellen wie zwei Typen, die vor der brennenden Hütte stehen, den Benzinkanister und das Feuerzeug noch in der Hand, und die später auf dem Polizeirevier groß rumtönen, dass sie fürs Löschen ja ihre zwei Flaschen Bier zur Verfügung gestellt haben.

Nachdem es in den Sozialen Medien deutliche Kritik an der “Bild live”-Sendung zu den rassistischen Morden in Hanau gab, antworteten Reichelt und Ronzheimer nicht etwa mit Einsicht, dass das alles ziemlich schlecht war, oder mit Verständnis dafür, dass das wilde Spekulieren und das Verbreiten von falschen Gerüchten vielen nicht passte. Stattdessen:

Screenshot eines Tweets von Bild-Chefredakteur Julian Reichelt - Frage von Twitter-User Shai: Was haben Sie für ein Verständnis  von Journalismus, Herr Reichelt? Das hier ist ein Armutszeugnis für ihre Bild-Berichterstattung und in Zeiten von Fake News brandgefährlich und verantwortungslos - Antwort Reichelt: Lieber Shai, dass der Täter rechtsextreme Motive hatte, war Stunden vor allen anderen eine exklusive Meldung bei Bild.

Screenshot eines Tweets des stellvertretenden Bild-Chefredakteurs Paul Ronzheimer - Bild war das erste Medium, das über den rechtsradikalen Hintergrund berichtet hat heute morgen.

Was soll das für ein Argument sein?

“Hier, schaut mal, ihr habt da richtig Mist gebaut.”
“Jaha, aber wir haben auch was richtig gemacht.”

Gleicht im “Bild”-Kosmos eine zutreffende Information die ganzen falschen Behauptungen von vorher aus? Denken Reichelt und Ronzheimer, dass die Gerüchte, die in der “Bild live”-Sendung verbreitet wurden, damit aus der Welt sind? Glauben sie wirklich, dass sie mit ihrer “exklusiven Meldung bei BILD” all jene erreichen, denen die “Bild”-Reporter zuvor noch erzählt haben, dass “Russen” hinter den Morden stecken dürften, oder dass das alles was mit dem “Drogenmilieu” oder “Schutzgeldzahlungen” zu tun haben könnte?

Oder sind das einfach nur billige Ausreden, um nicht um Entschuldigung bitten zu müssen? Wir haben schon häufiger darauf verwiesen und wollen es heute wieder tun: Julian Reichelt ist der Mann, der über sich selbst sagt:

Es fällt mir grundsätzlich leicht, mich zu entschuldigen, wenn wir Fehler gemacht haben.

“Bild”-Verspekulierer, Tichy vs Roth, Die Nöte der Blaulicht-Fotografen

1. Morde im “Milieu”: Was “Bild” über Hanau spekulierte
(uebermedien.de, Stefan Niggemeier, Video: 3:37 Minuten)
Als ob es die NSU-Morde sowie die damaligen Fehlspekulationen und falschen Täterzuschreibungen nie gegeben hätte, fuhr die “Bild”-Redaktion in einer Live-Sendung die wildesten Theorien auf und spekulierte immer wieder, dass es sich bei den Morden in Hanau vermutlich um Taten in einem “kriminellen Milieu” handle. Medienbeobachter Stefan Niggemeier hat die einschlägigen Zitate in einem dreiminütigen Video zusammengeschnitten. Ein Video, das auf Youtube übrigens auf Veranlassung des Axel-Springer-Konzerns umgehend gesperrt wurde.
Weiterer Lesehinweis: Siehe auch unsere aktuelle Berichterstattung: Spekulationen zum Täter von Hanau: Warum “Bild live” der letzte Mist ist.

2. Erfolg für Claudia Roth im Rechtsstreit mit Roland Tichy
(augsburger-allgemeine.de, Michael Stifter)
Im Interview mit der “Augsburger Allgemeinen” hatte sich die Grünen-Politikerin und Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth wie folgt geäußert: “Wir müssen die Stichwortgeber benennen, all diese neurechten Plattformen, deren Geschäftsmodell auf Hetze und Falschbehauptungen beruht — von Roland Tichy über Henryk M. Broder bis hin zu eindeutig rechtsradikalen Blogs.” Daraufhin war sie von Tichy und Broder verklagt worden. Tichys Verfahren sei vom Landgericht Stuttgart gestern abgewiesen worden. Roths Kommentar: “Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, wenn ausgerechnet diejenigen mit dem Versuch scheitern, eine zulässige Meinungsäußerung gerichtlich verbieten zu lassen, die selbst mehr als einmal in der Kritik standen, die Grenzen der Sagbaren gezielt verschieben zu wollen”.

3. Blaulicht-Fotograf klagt gegen Feuerwehr
(ndr.de, Melanie Boeff, Video: 5:19 Minuten)
Für die sogenannten “Blaulicht-Fotografen” wird die Arbeit immer schwieriger. Zunehmend würden Feuerwehren ihre Einsätze selbst fotografieren und die Bilder den lokalen Medien zum Kauf anbieten. Meist sind es die spektakuläreren Bilder, denn freie Fotografen treffen naturgemäß erst später ein. Nun will ein Blaulicht-Fotograf diese Praxis gerichtlich überprüfen lassen und hat Klage eingereicht.

4. 105 digitale Werkzeuge für Journalisten, Blogger und Online-Unternehmer: Die besten Tools, Apps und Programme für einen produktiven Arbeitsalltag
(amazon.de, Daniela Späth & Michel Penke)
Videojournalistin Daniela Späth und Datenjournalist Michel Penke haben lange Zeit über digitale Tools und multimediales Storytelling für Journalistinnen und Journalisten gebloggt. Nun haben sie all ihre Texte mit vielen Empfehlungen für den journalistischen Alltag frisch in ein E-Book gegossen, das man sich noch dieses Wochenende kostenlos bei Amazon herunterladen kann.

5. Assange darf nicht an die USA ausgeliefert werden
(reporter-ohne-grenzen.de)
In Zusammenhang mit der beginnenden Anhörung über die Auslieferung des Wikileaks-Gründers Julian Assange aus Großbritannien melden sich die Reporter ohne Grenzen (ROG) zu Wort. Die Organisation mahnt die britischen Behörden in einem eindringlichen Appell, dem Auslieferungsgesuch der USA nicht stattzugeben und Assange stattdessen aus humanitären Gründen freizulassen. Eine ROG-Delegation werde während der gesamten Anhörungswoche als Prozessbeobachter im Woolwich Crown Court in London zugegen sein.

6. Immer mehr Angriffe auf Medienschaffende
(mmm.verdi.de)
Die Linksfraktion hat sich mit einer Kleinen Anfrage an das Bundesinnenministerium gewandt und sich nach der Anzahl der “Angriffe auf Medienschaffende durch Neonazis” erkundigt. Laut Ministerium sei die Zahl von Straf- und Gewalttaten gegen Medienschaffende von 93 Fällen im Jahr 2018 auf 104 Fälle im Jahr 2019 gestiegen. Kritiker bemängeln, dass die Bundesregierung den Straftaten nicht ausreichend nachgehe beziehungsweise zu wenig im Vorfeld unternehme. Gewerkschaftsvertreterin Tina Groll dazu: “Es wird endlich Zeit, dass die Bundesinnenministerkonferenz aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht und geeignete Maßnahmen auf den Weg bringt, um Medienschaffende besser zu schützen.”

Spekulationen zum Täter von Hanau: Warum “Bild live” der letzte Mist ist

Gestern gegen 22 Uhr dringt ein bewaffneter Mann im hessischen Hanau in eine Bar ein und erschießt mehrere Menschen. Dort und an einem weiteren Tatort, zu dem der Täter fährt, sterben neun Personen. Später entdeckt die Polizei in einer Wohnung zwei weitere Leichen: die des Täters und die von dessen Mutter. Die Bundesanwaltschaft soll von einem “Verdacht einer terroristischen Gewalttat” sprechen. Ein Bekennerschreiben spricht dafür, dass es sich bei dem Täter um einen Rassisten handelt.

Gegen 1:30 Uhr startet die erste “Bild live”-Sondersendung zur “Bluttat in Hanau”.

Ein kommentiertes Protokoll.

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Moderator Moritz Wedel sagt zu Beginn der Sendung:

Die Informationen derzeit unübersichtlich. Wir versuchen, das, was wir zur Stunde wissen, für Sie zu dieser späten Stunde zusammenzufassen.

Das Versprechen “was wir zur Stunde wissen” werden er und seine “Bild”-Kollegen in den kommenden knapp 43 Minuten nicht ansatzweise einlösen können.

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“Bild”-Reporter Tobias Bayer ist in Hanau. Er erzählt von seinen Erlebnissen vor Ort. Offenbar hat er ein paar Angehörige der Getöteten belästigt befragt:

Ich habe mit einigen Angehörigen sprechen können. Die Stimmung hier deutlich aggressiv. Man drohte mir, das Handy aus der Hand zu schlagen. Da sind Emotionen im Spiel. Das waren wohl auch Angehörige von mutmaßlich Toten hier. Da muss man das auch, denke ich, verstehen und richtig einordnen können.

Zum “Täterumfeld” sagt er:

Ich habe aus relativ gut unterrichteten Quellen in Hanau hier erfahren — aber ich muss dazu sagen: Das sind nur Spekulationen –, dass es sich hier bei dem Täterumfeld um Russen handeln könnte.

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Moderator Moritz Wedel will wissen: “Beschreib uns das Milieu bitte etwas: Was ist das für ein Stadtteil? Was ist das für eine Straße? Könnte vielleicht das Umfeld dieser Shisha-Bar Schrägstrich Sportsbar auf irgendwelche Motive oder Hintergründe dieser Tat hindeuten?”

Reporter Bayer weiß, dass das, was er nun antwortet “alles nur reine Spekulation” ist — und spekuliert dann wild rum:

Das ist jetzt zu diesem Zeitpunkt alles nur reine Spekulation. Ich habe aber aus mehreren Quellen erfahren, dass es eben bei den Opfern mit ziemlich großer Sicherheit um kurdischstämmige Menschen handeln soll. Das bestätigt auch mein Bild, das ich hier vor Ort sehe. Die Menschen, die hier stehen und weinen. Einige sind zusammengebrochen. Da mussten die Rettungssanitäter noch mal helfen und die Menschen beruhigen. Die Menschen, die ich hier sehe, sind eben vermehrt Menschen mit Migrationshintergrund, mutmaßlich türkischem, was ich so sprachlich höre: türkische Sprache, aus dem arabischen Sprachraum kommend. Also türkische und kurdische Menschen, die unter den Opfern sein sollen. Und eben es gibt auch Quellen, die behaupten, dass die Täter aus mutmaßlich russischem Umfeld kommen sollen. Es gibt auch Anwohner, aber das halte ich für viel zu früh, zumindest Spekulationen, dass es aus einem sehr rechtsradikalen Milieu eine Tat sein könnte. Einfach aufgrund der Tatsache, dass es um Shisha-Bars geht. Aber ich glaube, das ist viel zu früh, um das einzuordnen.

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“Bild”-Chefreporter Frank Schneider wird zugeschaltet und erzählt, dass man ja noch gar nicht wisse, ob die Angriffe an den zwei Tatorten nacheinander stattfanden oder gleichzeitig. Und er spricht auch von Organisierter Kriminalität. Da hakt Moderator Wedel nach: “Frank, wenn Du jetzt ein bisschen Hanau einschätzen musst: Ist das, Du hast von Organisierter Kriminalität gesprochen, ist das ein Hotspot in der Region?” Das könne er so nicht sagen, antwortet Schneider, speziell was die angegriffenen Bars angeht. Aber:

Wenn jetzt möglicherweise diese Bars von Menschen betrieben werden, die Streit mit anderen haben, oder es geht da um Vormacht, worum auch immer, oder eben Schutzgelderpressung. Es kann ja auch sein, dass die Betreiber der Bars schlicht und ergreifend kein Schutzgeld bezahlen wollten. Das wäre dann natürlich, wie gesagt, eine Qualität, die hat es in Deutschland so noch nicht gegeben. Aber das wären jetzt alles reine Spekulationen.

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Währenddessen blendet die “Bild”-Redaktion ein:

Screenshot Bild live - Möglicherweise zwei Schießereien gelichzeitig

Auch an anderen Stellen in der Sendung fällt der Begriff “Schießerei”. Das ist wahrlich nicht der schlimmste Aspekt an dieser Sondersendung, die die “Bild”-Redaktion zusammengezimmert hat, aber passend ist das Wort nicht.

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“Bild” hat Hanaus Bürgermeister Claus Kaminsky am Telefon. Er sagt:

Meine Aufgabe sehe ich im Moment eher, dafür zu plädieren, dass wir Ruhe und Besonnenheit an den Tag legen. Und auch wildes Spekulieren, in welche Richtung auch immer, hilft uns im Moment überhaupt nicht weiter.

In welche Richtung ein solche Hinweis wohl zielt? Moderator Wedel will dann gleich Informationen zu den Opfern. Kaminsky sagt, dass er lieber verlässliche Informationen der Polizei abwarten will.

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Reporter Tobias Bayer ist wieder dran:

Ich habe mich ein bisschen weiterbewegt. Hier hinter mir sieht man direkt die gelbe Wand. Ich weiß nicht, ob man es im Dunklen so gut erkennen kann. Da ist wohl die Shisha-Bar, um die es gehen soll. Man sieht sogar eine Aufschrift: […]. Eine kleine Leuchtreklame “Open” leuchtet da. Dieses “Open” gilt nun natürlich nicht mehr.

Moderator Moritz Wedel fragt schon wieder: “Was ist das für ein Viertel, für ein Stadtteil dort, wo sich der Tatort befindet?”

Bayer antwortet:

Hanau ist eine relativ beschauliche Stadt in Hessen. Natürlich bekannt auch ein bisschen für die relativ hohe Kriminalität. Ähnlich wie Offenbach oder Darmstadt gibt es hier gewisse Milieus und soziale Schichten hier. Ich würde mal von einer nicht gutbürgerlichen Stadt sprechen, sonder eher eine etwas prekärere Lage vor Ort und in den Stadtteilen eher eine höhere Arbeitslosigkeit und deswegen sozial eine eher schwache Stadt. Aber die Menschen sind trotzdem irritiert, dass das in ihrem Hanau passiert ist.

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“Bild”-Redakteur Florian von Heintze steht im “Bild live”-Studio. Er sagt: “Die Täter oder der Täter, man kann aber von mehreren Tätern wohl ausgehen, sind flüchtig.”

Und:

Es hat sich noch nicht bestätigt, dass es sich bei der Auseinandersetzung oder bei den Angriffen, muss man schon sagen, auf diese Bars um Auseinandersetzungen im kriminellen Milieu gehandelt hat. Es war zunächst auch die Rede von möglichem rechtsextremen Hintergrund. Das ist aber auch alles noch Spekulation. Es verdichten sich allerdings dann doch wohl die Hinweise darauf, dass es eher im kriminellen Milieu sich abspielt das Ganze.

***

Nun erzählt wieder Reporter Tobias Bayer über den möglichen Hergang am Tatort, an dem er gerade steht. Seine Ausführungen beendet er mit: “Aber all das bisher unbestätigte Informationen, ganz wichtig, reine Spekulation.”

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Moderator Wedel will wieder über die Hintergründe sprechen:

Tobi, jetzt ist natürlich die Frage: Welche Hintergründe könnten diese Taten haben? Ist es ein Verbrechen im Milieu? Ist es ein Anschlag aus dem rechten Lager? Was glauben oder was fühlen die Menschen zumindest vor Ort? Glauben oder wissen kann man ja zu dieser Stunde wohl kaum sagen, aber was hörst Du so? Das hat ja auch viel damit zu tun, in welchem Milieu sich diese Straße, dieser Bereich der Stadt befindet.

Bayers Antwort:

Es gab hier die Angst, dass es sich um einen rechtsradikalen, einen rechtsextremen Anschlag handeln könnte, weil eben zwei Shisha-Bars oder Bars mit Shisha-Konsum aufgesucht wurden, wo ja vermehrt auch immer Menschen sind mit, muslimische Menschen öfters auch vorzufinden sind. Aber die meisten Spekulationen, die ich bisher wahrnehmen konnte, gehen eher in die Richtung, dass es sich um eine Milieutat handeln könnte. So soll es sich bei den Tätern mutmaßlich um Russen handeln.

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Die Redaktion zeigt ein Video, auf dem Schüsse des Täters zu hören sein sollen. Moderator Wedel mutmaßt, dass dort “offensichtlich Sanitäter” zu sehen sind, und sagt:

Das Ganze noch nicht verifiziert, aber so verbreiten sich die Videos im Netz jetzt nach dieser schrecklichen Tat und geben einen Einblick auf das, was passiert sein könnte in Hanau

Und “Bild” verbreitet mit.

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Der beste, vielleicht einzige journalistische Moment der “Bild live”-Sendung: Auf die Frage, was er zu einem angeblich gefassten Täter berichten kann, antwortet Reporter Tobias Bayer:

Dazu liegen mir momentan noch keine gesicherten Erkenntnisse vor. Der Polizeisprecher ist noch nicht vor Ort, der Pressesprecher der Polizei, der macht sich gerade hier auf den Weg. Und sobald ich den bekommen kann, werde ich das versuchen, dass wir auch mit ihm sprechen können.

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Frank Schneider ist noch mal dran. Moderator Moritz Wedel will von ihm wissen, “in welchem Milieu” sich die Tat abgespielt haben könnte. Schneider:

Ja, wie ich vorhin schon gesagt habe: Das Milieu kann eigentlich nur sein, dass es möglicherweise um Delikte geht im Drogenmilieu oder es geht um Schutzgelderpressung. Was genau die Hintergründe sind, kann man natürlich momentan noch nicht sagen, weil man nicht weiß, was in diesen Bars genau passiert, welche Kundschaft dort verkehrt, was es für Vorfälle vielleicht in jüngster Vergangenheit gab. Das muss man jetzt im Einzelnen klären.

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Das war’s dann auch.

Natürlich ist es leicht, im Nachhinein schlauer zu sein und zu wissen, dass es nicht “Russen” waren, die da geschossen haben; dass es nicht um “Schutzgeld” oder ums “Drogenmilieu” ging; dass man nicht “von mehreren Tätern wohl ausgehen” kann. Es wäre aber auch leicht, nicht so viel zu spekulieren, wenn man noch nicht so schlau ist. Und vor allem wäre das verantwortungsvoll.

Stattdessen aber kritisieren “Bild”-Mitarbeiter wie Paul Ronzheimer die öffentlich-rechtlichen Sender, die den Ereignissen nicht mit Live-Sendungen hinterherhecheln und mit ihrer Breaking-News-Raterei Falschinformationen verbreiten. Auf die Kritik, dass es bei “Bild” lediglich “pure Spekulation zum Tathintergrund im Livestream” gebe und dass das “kein seriöser Journalismus” sei, antwortete Ronzheimer, dass er diesen ganzen, oben protokollierten Murks für eine tolle Sendung hält:

Sehe ich anders, das war eine hochprofessionelle Sendung, u.a. mit Augenzeugen und Live-Interview des Bürgermeisters.

Weist man ihn dann darauf hin, dass seine Redaktion “hochprofessionell” über völlig falsche Tatmotive spekuliert, entgegnet Ronzheimer nur:

BILD war das erste Medieum, das über den rechtsradikalen Hintergrund berichtet hat heute morgen.

Es ist zu befürchten, dass er das tatsächlich für ein gutes Argument hält.

  • Drüben bei “Übermedien” spricht Stefan Niggemeier die Parallelen zur Berichterstattung über eine Mordserie an, die sich später als die Morde des NSU entpuppten. Außerdem hat er einen Worst-of-Zusammenschnitt der “Bild live”-Sendung erstellt.

Mit Dank an die vielen Hinweisgeber!

Glaskugelitis, Gehaltssteigerung trotz Spardrucks, Erneuerte “MotorWelt”

1. turi2 edition #10: Marieke Reimann über alte weiße Männer und Print-Könige.
(turi2.de, Markus Trantow & Anne-Nikolin Hagemann)
Marieke Reimann ist als Chefredakteurin für “ze.tt” verantwortlich, die junge Online-Plattform der “Zeit”. Im Interview spricht sie über ihren Werdegang, das Gendersternchen sowie alte weiße Männer und erklärt, warum aus ihrer Sicht die meisten Berufsbezeichnungen eben nicht alle Geschlechter einschließen: “Ich bringe an dieser Stelle immer gerne ein Beispiel: ‘Sitzen zwei Piloten im Flugzeug. Sagt die eine zur anderen: ‘Bestimmt haben sich jetzt alle zwei Männer vorgestellt’.’ Ich finde, dieser Witz reicht, um offensichtlich zu machen, dass unsere Lebenswirklichkeit männlich geprägt ist. Es gibt hierzu mittlerweile genug Studien, die belegen, dass das Gehirn beim Verwenden des generischen Maskulinums eben nicht ‘alle mitdenkt’.”

2. Zu tief in die Glaskugel geguckt
(freitag.de, Klaus Raab)
“Prognosen sind äußerst schwierig, vor allem wenn sie die Zukunft betreffen”, so lautet ein beliebtes Zitat, das den verschiedensten Personen zugeschrieben wird. Kürzlich warnte der Journalist Gabor Steingart vor falschen Prognosen in den Medien und forderte seine Leserinnen und Leser auf, die entsprechenden Blätter zu kündigen. Er übersah dabei geflissentlich, dass er bei seinen Vorhersagen auch schon heftig danebengelegen hatte. Klaus Raab schreibt über das Phänomen der Prognostiker und nennt das Ganze eine “Berufskrankheit”.

3. Filmemachen ist ein dreckiges Geschäft
(sueddeutsche.de, Vivien Timmler)
Auf Initiative von Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) unterzeichneten einige Vertreterinnen und Vertreter der Film- und Fernsehwirtschaft ein Papier, mit dem sie sich zu mehr Umweltschutz bei ihrer Arbeit verpflichten. Vivien Timmler ordnet die grundsätzlich positive Aktion ein, die in der jetzigen Form jedoch nur eine allgemein gehaltene Absichtserklärung sei.

4. Motor und Welt
(zeit.de, Ulrich Stock)
Die Mitgliederzeitschrift des ADAC wird es in der bisherigen Version nicht mehr geben. Aus der “motorwelt” wird die “MotorWelt”, doch das ist bei Weitem nicht die einzige Änderung. Der Autoklub will seine Mitglieder nämlich nicht mehr mit seiner Postille zwangsbeglücken und spart sich das Verschicken der zuletzt über 13 Millionen Exemplare. Ulrich Stock hat sich die neue Variante angeschaut, von der es “nur” 5 Millionen Exemplare geben soll, die von den Mitgliedern jeweils abgeholt werden müssen.

5. ARD/ZDF: Gehaltssteigerung in “Zeiten von knapperen Kassen”
(planet-interview.de, Jakob Buhre)
Bei den öffentlich-rechtlichen Sendern ist oft und gerne vom Spardruck die Rede. Gerade die Chefs lamentieren ausgiebig vom Sparen in “Zeiten von knapperen Kassen” und setzen an vielen Stellen den Rotstift an. An einer Stelle scheint der Spardruck jedoch nicht so groß zu sein: bei den eigenen Gehältern — die werden nämlich fleißig weiter gesteigert. Jakob Buhre hat sich die Mühe gemacht und die Daten zusammengetragen, ausgewertet und in einer Tabelle (PDF) festgehalten. Es sind Zahlen, die in ihrer Großzügigkeit für sich sprechen.

6. Juan Moreno: Die Rede des Journalisten des Jahres 2019
(youtu.be, medium magazin, Video: 9:38 Minuten)
Juan Moreno ist zum Journalisten des Jahres 2019 gewählt worden. Seine mit viel Nachdenklichkeit und Humor gewürzte Dankesrede ist auch eine rührende Liebeserklärung an seine Frau.

“Bild” flicht Bodo Ramelow einen falschen Lieberknecht-Korb

Nun wird Christine Lieberknecht also doch nicht Übergangsministerpräsidentin in Thüringen. Die CDU-Politikerin und frühere Ministerpräsidentin des Landes habe “ihre Bereitschaft zurück gezogen, eine Übergangsregierung bis zur Durchführung von schnellen Neuwahlen anzuführen”, berichtet die “Thüringer Allgemeine”:

“Ich bin aus der Debatte raus”, sagte sie am Mittwochmorgen unserer Zeitung. Sie habe sich von Anfang an nur für die Lösung von Ex-Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) bereit erklärt. Doch der Widerspruch zu ihrer CDU, die keine schnellen Neuwahlen wolle, lasse sich “nicht auflösen”.

Einzige Alternative für Lieberknecht ist nun eine Koalition von Linke und CDU. “Wer jetzt keine Neuwahlen will, muss Bodo Ramelow mit verlässlicher Mehrheit zurück ins Ministerpräsidentenamt verhelfen und dann am besten mit ihm in eine Regierung gehen, ob das nun Projekteregierung oder anders heißt”, sagte sie.

Christine Lieberknecht sagt also, sie sei nur für die Lösung von Bodo Ramelow zu haben gewesen, sie begründet ihre Absage mit der Haltung der CDU und plädiert nun für eine Rückkehr Ramelows ins Ministerpräsidentenamt.

In einer ersten Meldung bei Bild.de klang das etwas anders. Die Redaktion verdrehte Lieberknechts Rückzug zu dieser Schlagzeile:

Screenshot Bild.de - CDU-Politikerin sollte in Thüringen antreten - Lieberknecht gibt Ramelow einen Korb

Und auch bei Twitter verkündete “Bild” die “BREAKING NEWS”:

Screenshot eines Tweets der Bild-Redaktion - CDU-Politikerin sollte Ministerpräsidentin werden - Lieberknecht gibt Ramelow einen Korb

Die Behauptung, dass Bodo Ramelow “einen Korb” bekommen hat, passt auch viel besser in die Kampagne, die die “Bild”-Medien seit einigen Tagen fahren:

Screenshot Bild.de - Linke Nummer im Thüringen-Poker - Wie Ramelow sich zurück an die Macht tricksen will
Screenshot Bild.de - Dreister Auftritt bei Maischberger - So lügt sich Ramelow um Kopf und Kragen
Screenshot Bild.de - Nach Lüge um sein Klo-Manöver - Haben Ramelows Ausraster System?
Screenshot Bild.de - Klo-Affäre immer irrer - So verzettelt sich Ramelow in seinen Lügen

Bild.de hat die Überschrift des Artikels zur Entscheidung von Christine Lieberknecht inzwischen geändert. Sie lautet nun:

Screenshot Bild.de - Thüringen-Hammer - Ex-CDU-Regierungschefin will Koalition mit Linken

Mit Dank an @realAndrewBrigh, @Bilbo2810, @inurfazebitch1, @tumarx und @RantanplanSVW für die Hinweise!

Bild.de sucht die Schuld beim Opfer

Im hessischen Bad Soden-Salmünster soll ein Mann seine Ehefrau getötet haben. Während die “hessenschau” schreibt, dass die Hintergründe der Tat “zunächst unklar” seien, schreiben die “Bild”-Medien, dass sie erfahren hätten, dass die Frau ihren Ehemann verlassen wollte.

Daraus macht Bild.de diese Überschrift, die die Schuld nicht etwa beim möglichen Täter beziehungsweise Tatverdächtigen sucht, sondern beim Opfer:

Screenshot Bild.de - Ehemann R. (42) festgenommen - Starb B., weil sie sich trennen wollte? Die Tatwaffe, ein Küchenmesser, wurde gefunden
(Bild.de hat dem Tatverdächtigen einen schwarzen Balken über die Augen gesetzt. Die restlichen Unkenntlichmachungen stammen von uns.)

Mit Dank an Maximilian B., sax und @RAJendricke für die Hinweise!

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