“Spannende Frage”, falsche Antwort

Es ist gut, dass Bürgerinnen und Bürger über das Portal “Abgeordnetenwatch” zum Beispiel einer Bundestagsabgeordneten oder einem Landespolitiker Fragen stellen können.

Es ist schlecht, wenn diese Fragen allein auf, nun ja, Informationen aus der “Bild”-Zeitung beruhen.

Ein Mann nutzte Anfang dieses Monats die Möglichkeit, die “Abgeordnetenwatch” bietet, und schrieb an die rheinland-pfälzische Landtagsabgeordnete Bettina Brück:

Sehr geehrte Frau Brück,

einem Beitrag in “Bild Deutschland” vom 4.8.2020 S. 3 “Dürfen sich dicke Lehrer vom Unterricht befreien?”, konnte ich entnehmen, daß im Saarland lediglich 1,4% der Lehrerschaft zur Corona-Risikogruppe gehören, in Rheinland-Pfalz dagegen 15%, mit der damit höchsten Quote der einzelnen Bundesländer. Wie als erklären Sie sich als Bildungspolitikerin diesen eklatanten Unterschied?

Die “Bild”-Redaktion hatte am 4. August “spannende Fragen zum Schulbeginn nach den Ferien” gesammelt und versucht, diese zu beantworten:

Ausriss Bild-Zeitung - Aus Angst vor Corona - Dürfen sich dicke Lehrer vom Unterricht befreien? ... und weitere spannende Fragen zum Schulbeginn nach den Ferien

Die erste Frage lautete: “Wie viele Lehrer werden fehlen?” Antwort der “Bild”-Redaktion:

BILD fragte bei den Bildungsministerien aller 16 Bundesländer nach. Das Ergebnis: Zwischen 1,4 % (Saarland) und 15 % (Rheinland-Pfalz) der Lehrer gehören zu einer Corona-Risikogruppe und sind daher nicht zum Erscheinen in der Schule verpflichtet.

Das ist tatsächlich ein “eklatanter Unterschied”, wie der Fragesteller bei “Abgeordnetenwatch” schreibt. Bloß: Der “Bild”-Vergleich ist falsch. Bettina Brück antwortete dem Mann:

Die Antwort ist schnell gegeben: dieser eklatante Unterschied erklärt sich aus einem journalistischen Fehler der BILD-Zeitung.

Das Problem bei den “Bild”-Zahlen laut der Politikerin: Während die 1,4 Prozent aus dem Saarland eine “Prognose zum Start des neuen Schuljahrs” seien, handele es sich bei den 15 Prozent aus Rheinland-Pfalz um einen Wert aus dem vergangenen Schuljahr. Oder anders: “Bild” vergleicht Zahlen von vor den Sommerferien mit Zahlen von nach den Sommerferien. Allerdings hat sich während der Sommerferien einiges getan bei den Regelungen, welche Lehrkräfte von zu Hause aus unterrichten dürfen und welche nicht. Vor den Sommerferien durften in Rheinland-Pfalz beispielsweise Lehrerinnen und Lehrer, die 60 Jahre oder älter sind, selbst entscheiden, ob sie zum Präsenzunterricht erscheinen. Das ist nun nicht mehr so. Brück schreibt:

Richtig ist: Vor Beginn der Sommerferien waren ca. 15 % der rund 41.000 Lehrkräfte in Rheinland-Pfalz aufgrund des Alters oder von Vorerkrankungen ausschließlich von zuhause tätig. Das Bildungsministerium geht aber begründet davon aus, dass diese Zahl nach den Sommerferien sinken wird. Die Vorgaben für den Schulstart nach den Sommerferien wurden nämlich derart geändert, dass nur noch Lehrkräfte mit attestierten Vorerkrankung von zu Hause arbeiten können.

Laut SWR schätzt das rheinland-pfälzische Bildungsministerium, “dass zu Beginn des neuen Schuljahrs rund zwei Prozent aller Lehrer (…) mit Attest freigestellt werden”.

Es ist schlecht, wenn Politikerinnen und Politiker ihre Zeit damit verbringen müssen, den Unfug, den die “Bild”-Medien verbreiten, richtigzustellen.

Es ist gut, wenn sie es tun.

Mit Dank an Martin für den Hinweis!

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Gerichtliche Zweiklassengesellschaft, Festnahme rechtswidrig, Halbiert

1. Zweiklassengesellschaft bei der Berichterstattung?
(deutschlandfunk.de, Brigitte Baetz, Audio: 9:12 Mintuen)
Das Bundesverfassungsgericht informiert bestimmte Journalistinnen und Journalisten früher über Entscheidungen und Urteile als andere. Das Gericht sehe dies als ein Mittel, positiv auf die Qualität der Berichterstattung einzuwirken. Doch ist diese Form der Privilegierung beziehungsweise Benachteiligung gerecht und zeitgemäß? Im Gespräch mit dem erfahrenen Deutschlandfunk-Hauptstadtjournalisten Stefan Detjen bespricht Brigitte Baetz die Probleme rund um die exklusiven Informationsverhältnisse.

2. “Seebrücken”-Demo in Frankfurt: Festnahme von Journalistin war rechtswidrig
(fr.de, Hanning Voigts)
Wie Hanning Voigts berichtet, protestierten Anfang April rund 400 Menschen unter Einhaltung der Hygiene- und Abstandsregeln am Frankfurter Mainufer gegen die Flüchtlingspolitik in der Europäischen Union. Die Polizei habe damals die “Seebrücken”-Demo aufgelöst und die anwesende Journalistin Lotta Laloire festgenommen. Nun hat das Amtsgericht Frankfurt in einem Beschluss verkündet, dass keine Voraussetzungen für eine Festnahme vorgelegen hätten. “Laloire habe den Beamten, die sie kontrollieren wollten, ihren Presseausweis gegeben und sich damit eindeutig ausgewiesen. Eine Festnahme sei deshalb juristisch nicht in Betracht gekommen”.

3. Innenministerium verklagt Bundesdatenschutzbeauftragten
(netzpolitik.org, Arne Semsrott)
Das Bundesinnenministerium scheint sich mit Händen und Füßen gegen das in seinen Zuständigkeitsbereich fallende Informationsfreiheitsgesetz (IFG) zu wehren. Diese Einstellung gipfelt in einer Groteske: Weil es die Vorgaben zur Datensparsamkeit bei IFG-Anfragen nicht einhalten wolle, habe das Ministerium den Bundesdatenschutzbeauftragten verklagt.

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4. Der letzte Sprachpfleger
(sueddeutsche.de, Aurelie von Blazekovic)
Werner Müller war Jahrzehnte Lehrer an einem Gymnasium und über einen Zeitraum von 25 Jahren Sprachpfleger und Sprachbeobachter des Bayerischen Rundfunks. Der heute 75-Jährige hörte sich das BR-Programm an, machte sich Notizen und gab seine Erkenntnisse weiter. Aurelie von Blazekovic hat sich mit Müller über dessen Werdegang sowie die Besonderheiten der Sprache unterhalten. Und über die Frage, wie es ist, wenn man als Sprachpfleger mit einem Beauftragten für Deutschtümelei verwechselt wird.

5. Google appelliert an Australien
(taz.de)
Australien will, dass Google und Facebook einen Teil ihrer Werbeumsätze an Verlage ausschütten. Dagegen wehrt sich Google nun mit einem “offenen Brief an die Australier”. Durch die neue Regelung würde sich das Angebot verschlechtern. Auch seien unkontrollierten Datenweitergaben zu befürchten. Die zuständige Verbraucherschutz- und Wettbewerbsbehörde Australiens hat ihrerseits reagiert und die Vorwürfe in einem offenen Brief zurückgewiesen.

6. NDR-Chor: Protest gegen Sparvorhaben
(mmm.verdi.de, Lars Hansen)
Um Geld bei seinem Chor zu sparen, hat sich der NDR eine trickreiche Konstruktion ausgedacht: Man will die studierten Sänger und Sängerinnen in eine GmbH überführen, bei “halben Verträgen”. Der Geschäftsführer der Deutschen Orchestervereinigung kommentiert: “In dieser GmbH werden nicht die gleichen Arbeits- und Tarifbedingungen herrschen wie beim NDR. Vor allem aber sollen die neuen Sänger nur noch zu 50 Prozent für den Chor arbeiten. Und sie sollen schneller zu kündigen sein. Damit haben wir ein Problem der sozialen Absicherung, denn bei Sängern kann es vorkommen, dass die Stimmleistung vor Erreichen des Rentenalters nachlässt. Wir fürchten, dass der NDR sich hier aus der sozialen Verantwortung für seine Arbeitnehmer ziehen will.”

“Bild” schadet Deutschland

“DAS MEINT BILD”:

Screenshot Bild.de - Das meint Bild - Die Alarmstimmung schadet Deutschland

Das macht “Bild”:
Screenshot Bild.de - Zwei FC-Profis positiv gestetst - Corona-Alarm in Köln! Nachwuchs-Spielbetrieb vorerst eingestellt
(8. August)
Screenshot Bild.de - Corona-Alarm vor Europa League - Nationalspieler Amiri in Quarantäne
(4. August)
Screenshot Bild.de - Beamtin positiv auf das Virus getestet - Corona-Alarm bei Bochumer Polizei
(31. Juli)

Corona-Alarm im Norden! Der Kreis Dithmarschen in Schleswig-Holstein droht zum Risikogebiet zu werden.

(30. Juli)
Screenshot Bild.de - Telekom-Shop geschlossen - Corona-Alarm in Kölner Einkaufsmeile
(30. Juli)
Screenshot Bild.de - 37 Kontaktpersonen in Quarantäne, 13 positiv getestet - Nach Urlaub! Berliner Ehepaar löst Corona-Alarm aus
(27. Juli)
Screenshot Bild.de - Corona-Alarm im Sommer - Darf mein Chef den Urlaub verbieten?
(24. Juli)
Screenshot Bild.de - Corona-Alarm in Niedersachsen - 66 Infektionen in Wiesenhof-Schlachtbetrieb
(18. Juli)
Screenshot Bild.de - Wildeshausen: Corona-Alarm! Fünf Kinder von Schlachthof-Mitarbeitern positiv
(2. Juli)
Screenshot Bild.de - Landkreis Starnberg - Corona-Alarm in Asylbewerberheim
(28. Juni)

Corona-Alarm in einer Grundschule in Leipzig-Holzhausen. Ein Kind der vierten Klasse ist dort positiv auf das Virus getestet worden.

(26. Juni)
Screenshot Bild.de - Corona-Alarm

Wieder Corona-Alarm im Hamburger Hafen!

Im Hansahafen liegt bei Unikai der italienische Autotransporter “Grande Cotonou” (236 Meter) in der Kette – er wurde unter Quarantäne gestellt, darf den Hafen zwei Wochen lang nicht verlassen.

(25. Juni)
Screenshot Bild.de - Wittlich - Corona-Alarm im Schlachthof
(5. Juni)

Corona-Alarm im Psychiatriezentrum der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in Königslutter (Kreis Helmstedt): Bei der Aufnahme war ein Patient vorige Woche positiv auf das Virus getestet worden.

(4. Juni)
Screenshot Bild.de - 72 Infektionen in Verteilzentrum - Corona-Alarm bei UPS
(28. Mai)
Screenshot Bild.de - Das sagen Eltern, Stadtrat und Senatorin - Corona-Alarm an Berliner Schulen – eine dicht, eine offen
(19. Mai)
Screenshot Bild.de - 130 Infizierte in Sankt Augustin - Corona-Alarm im Flüchtlingsheim
(18. Mai)

Mit Dank an Clemens und @Bela_Lugosi13 für die Hinweise! Gesehen bei @RealRomanWagner.

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Die “Welt” und der Kriegsverbrecher, Fehler(un)kultur, Esslingers Katze

1. Die “Welt” lobt, dass Kriegsverbrecher nicht „gecancelt“ wurden
(uebermedien.de, Annika Brockschmidt)
Der Chefkommentator der “Welt” hat einen verstörenden Text über einen Alt-Nazi geschrieben, der nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Leitung eines Kinderheims betraut wurde. Darin verteidigt er die Personalie, alles andere wäre “Cancel Culture” und inhärent undemokratisch gewesen. Annika Brockschmidt hat sich den unappetitlichen Vorgang angeschaut und widerlegt die krude Argumentation.
Weiterer Lesehinweis: Einen empfehlenswerten Text zur “Cancel Culture” gibt es beim Schweizer Digitalmagazin “Republik”: Wer oder was wird «gecancelt»? (Franziska Schutzbach).

2. Wie ich einmal versuchte, Fake-News über Tom Buhrow zu korrigieren (ohne Erfolg)
(planet-interview.de, Jakob Buhre)
In unserer Reihe “Kleine Wissenschaft des Fehlers” schrieb BILDblog-Autor Ralf Heimann: “Im Umgang mit eigenen Fehlern offenbaren Journalistinnen und Journalisten ihr Selbstverständnis – und damit eben unter Umständen, dass dies nicht mehr ganz aktuell ist.” Diese Erfahrung musste gerade Jakob Buhre machen, als er verzweifelt versuchte, verschiedene Medien auf einen Fehler aufmerksam zu machen – und dabei grandios scheiterte.

3. Wir bilden die Realität auch mit
(projekte.sueddeutsche.de, Theresa Hein & Stephan Anpalagan)
In der “SZ”-Serie “Was sich ändern muss” erklären Medienschaffende, wie Journalismus diverser werden kann. In der aktuellen Folge spricht der Journalist Stephan Anpalagan darüber, welche Verantwortung Medien beim Thema Rassismus tragen – und wo sie versagen. “Wir brauchen Vielfalt in den Redaktionen. Erst wenn die vorhanden ist, wird es möglich sein, so zu berichten, dass die Nachrichten die Gesellschaft repräsentieren: Wer Bevölkerungsteile ausschließt, darf sich nicht relevant nennen.”

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4. Beckedahl: Technisch vorstellbar, politisch unwahrscheinlich
(deutschlandfunk.de, Michael Borgers, Audio: 5:31 Minuten)
Überraschend hat US-Präsident Donald Trump eine Begnadigung des Whistleblowers Edward Snowden in Aussicht gestellt, doch wie realistisch ist das? Markus Beckedahl von netzpolitik.org ist nicht sehr zuversichtlich, dass es tatsächlich zu einer Begnadigung kommt. Diese sei zwar technisch möglich und moralisch geboten, aus politischen Gründen jedoch unwahrscheinlich.
Weiterer Lesetipp: Trump streicht dem Open Technology Fund (OTF) die zuvor bewilligten Mittel, was sich katastrophal auf Netzprojekte wie das Netzwerk zur Anonymisierung von Verbindungsdaten Tor und den datensparenden und verschlüsselnden Messenger Signal auswirkt: Trump-Regierung dreht Geldhahn für OTF zu (mmm.verdi.de, Christiane Schulzki-Haddouti).

5. ORN #3 Rezo, wie können Journalist:innen Nindo nutzen?
(mailchi.mp, Sebastian Meineck)
Der Youtuber Rezo hat kürzlich ein Analyse-Werkzeug für Soziale Medien veröffentlicht, das sich nicht nur für die Follower-Anzahl interessiert. Wie können Medienschaffende Nindo nutzen, wenn sie über Influencerinnen und Influencer recherchieren? In der aktuellen Ausgabe seines Online-Recherche-Newsletters hat Sebastian Meineck mit Rezo über dessen neues Tool zur Reichweitenmessung gesprochen.

6. Wollte mich vor ein paar Jahren auf ein Volo bei der @SZ bewerben …
(twitter.com, Isabell Beer)
Detlef Esslinger kümmert sich bei der “Süddeutschen Zeitung” unter anderem um die Volontärsausbildung. In der “SZ”-Rubrik “Werkstatt” beklagt er sich über die Bewerbersituation: “Leider bewerben sich fast nur Menschen mit Studium. Doch eigentlich stünden einer Redaktion auch Menschen mit abgeschlossener Lehre gut an.” Die Journalistin Isabell Beer findet Esslingers Aussagen scheinheilig und erinnert ihn an seine früheren Aussagen: “Abgeschlossenes Studium muss sein, am liebsten Master-Abschluss.” Esslinger hat auf Beers Kritik geantwortet.

Situation in Belarus, Post vom Rechteverfolger, Tonstudio-Fußball

1. Die gefährliche Arbeit von Journalisten in Belarus
(deutschlandfunkkultur.de, Katja Bigalke, Audio: 8:43 Minuten)
Bei den Wahlen in Belarus soll Präsident Alexander Lukaschenko nach Angaben von “Reporter ohne Grenzen” nur rund zehn Prozent der Stimmen bekommen haben, während seine Herausforderin Svetlana Tikhanovskaya 70 Prozent auf sich versammeln konnte. Seitdem ist das Land in Aufruhr, denn Lukaschenko denkt nicht daran, seinen Posten zu räumen. Deutschlandfunk Kultur hat sich mit dem Journalisten und Belarus-Kenner Jan-Henrik Wiebe über die Situation im Land und die schwierigen Arbeitsbedingungen dort unterhalten.

2. Post vom Rechteverfolger
(koenig-haunstetten.de, Rainer König)
Rainer König hatte auf seinem Blog die Berichterstattung der “Bild”-Redaktion zum Christchurch-Anschlag kritisiert – mit Verwendung entsprechender Bild- und Textzitate. Letzteres droht ihm nun zum Verhängnis zu werden: “Man bezichtigt mich, dass ich (…) Inhalte aus Publikationen der Axel Springer Verlagsgruppe ins Internet stellen würde, ohne die für eine Online-Nutzung notwendigen Rechte erworben zu haben.” König wolle sich jedoch nicht einschüchtern lassen.

3. Was ist das Geheimnis des “Tatorts”?
(zeit.de, Lisa Frieda Cossham & Miriam Dahlinger & Francesco Giammarco)
Seit mittlerweile einem halben Jahrhundert wird am Sonntagabend der “Tatort” ausgestrahlt. Die “Zeit” hat sich bei 30 Schauspielerinnen, Regisseuren, Redakteurinnen und Komponisten umgehört, was diese Krimiserie so einzigartig mache. Eine bunte und vielfältige Interview-Collage, die auf mehr als 20 Einzelgesprächen beruht.

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4. Angst um die Eigenständigkeit
(sueddeutsche.de, Ulrike Nimz)
Die Dumont-Mediengruppe hat sich von der “Mitteldeutschen Zeitung” getrennt. Neuer Besitzer ist der Bauer-Verlag. Nun befürchten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Zusammenlegung mit der “Volksstimme” und einen damit einhergehenden eventuellen Arbeitsplatzabbau. Ulrike Nimz berichtet über den auch in Sachen Pressekonzentration besorgniserregenden Fall und lässt dabei den Vorsitzenden des Deutschen Journalisten-Verbandes in Sachsen-Anhalt zu Wort kommen: “Der Bauer-Deal hat nur Verlierer. Ich kann nicht erkennen, was Leser und Mitarbeiter davon haben sollen, wenn es in Sachsen-Anhalt ein Meinungsmonopol gibt.”

5. Donald TV
(taz.de, Dorothea Hahn)
Der US-amerikanische Präsident Donald Trump war in früheren Zeiten vor allem ein Fan des amerikanischen Nachrichtensenders Fox News von Medien-Milliardär Robert Murdoch. Seit einiger Zeit hat Trump einen neuen Lieblingssender, das vergleichsweise kleine One America News (OAN). US-Korrespondentin Dorothea Hahn kommentiert: “Wer OAN einschaltet, hat die Garantie, Propaganda zu bekommen. Der Sender wirbt zwar mit Slogans wie ‘Keine Spekulation, keine Meinung, nur Fakten und Quellen für glaubwürdige Nachrichten’. Aber in seiner Berichterstattung ist nicht einmal der Versuch von Neutralität zu erkennen.”

6. Da geht noch was, RTL!
(faz.net, Christoph Becker)
RTL hat bei einer Fußballübertragung aufgezeichnete Fan-Geräusche eingespielt, die die eigentlich leere Tribüne voll wirken ließen. Sportredakteur Christoph Becker schreibt dazu: “Bizarre Höhepunkte: die Pfeifkonzerte aus der Konserve, als der Schiedsrichter den Videobeweis bemühte. Die Stille des Stadions ist dem Zuschauer offenbar nicht zuzumuten. Oder dem Programmdirektor? Interessehalber mal nachgefragt: Ist das schon deep fake oder nur deep feige? Und was kommt als Nächstes? Eine andere Bildspur? Ein Halbfinale live aus der Konsole?”

Polizei privat, Unsichtbare Ärztinnen, Leyendecker-Kommission

1. Das dürfen Berliner Polizisten privat im Netz
(netzpolitik.org, Markus Reuter)
Die Berliner Polizei hat sich in einem “Merkblatt zur Nutzung sozialer Medien” (PDF) Richtlinien für die private Nutzung von Twitter, Facebook, Instagram und Co. auferlegt. Markus Reuter hat für netzpolitik.org aufgeschrieben, welche Themen die Polizei in ihrem Merkblatt behandelt hat. Die Polizisten und Polizistinnen sollen beispielsweise auch bei ihren privaten Accounts nicht tricksen und ihre Reichweite nicht durch den Kauf von Followern künstlich erhöhen.

2. Spiegel: Kommission findet wenig Belastendes gegen Star-Reporter Hans Leyendecker
(berliner-zeitung.de, Kai-Hinrich Renner)
Hat der ehemalige “Spiegel”-Redakteur Hans Leyendecker 1993 im Zusammenhang mit seiner Berichterstattung über den Tod des RAF-Terroristen Wolfgang Grams im Bahnhof von Bad Kleinen einen Informanten erfunden? Diese und andere Fragen soll eine Kommission des “Spiegel” klären, deren Bericht anscheinend schon vorliegt – wenn auch als Rohfassung. Kai-Hinrich Renner berichtet über einen Vorgang, der für den “Spiegel” und seinen damaligen Star-Reporter kein Ruhmesblatt ist.

3. Kahlschlag im Superman-Verlag
(tagesspiegel.de, Stefan Pannor)
Eine spannende Analyse des Comic-Markts liefert der Comic-Experte Stefan Pannor im “Tagespiegel”. Beim Superman-Verlag DC Comics muss demnach ein Drittel der Belegschaft den Schreibtisch räumen, darunter auch Spitzenkräfte in Leitungsfunktion. Pannor erklärt die dahinterstehende Strategie, die auch mit dem radikalen Umbau der US-Entertainment-Branche zu tun habe.

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4. Gehalts-Ranking: Von Tom Buhrow bis Patricia Schlesinger – das haben die ARD-Intendanten 2019 verdient
(kress.de, Marc Bartl)
Die ARD hat ihre Gehaltsstrukturen veröffentlicht (Stand 2019). In der Übersicht sind die durchschnittlichen Monatsgehälter der Führungspositionen, aber auch die Gehalts-Bandbreiten etwa der Kameramänner und Cutterinnen aufgeführt. Spitzenverdiener sind wie immer die Intendantinnen und Intendanten, deren Jahresgehälter von 245.000 Euro (Thomas Kleist, SR) bis zu 395.000 Euro (Tom Buhrow, WDR) reichen.

5. Von unsichtbaren Ärztinnen und Journalistinnen
(genderleicht.de, Elke Brüser)
In einigen medizinischen Fachgebieten gibt es bereits mehr Frauen als Männer: In der Gynäkologie sei zwei Drittel der Ärzteschaft weiblich, in der Dermatologie seien über die Hälfte Frauen. Trotzdem heißen die entsprechenden Fachzeitschriften “Der Gynäkologe” oder “Frauenarzt”. Auch andere Fachmagazine seien ausschließlich männlich gegendert (“Der Orthopäde”, “Der Internist”, “Der Pneumologe”). Andere Beispiele würden jedoch zeigen, dass auch Titel möglich seien, die keine überholten und fehlleitenden Assoziationen wecken, so die Medizin- und Wissenschaftsjournalistin Elke Brüser.

6. Trump sogar noch lustiger
(taz.de, Daniel Kretschmar)
Sarah Cooper hat es mit ihren Donald-Trump-Lipsync-Videos zum gefeierten Internet-Star geschafft. Für ihre Parodien verwendet sie Originaltonspuren von Interviews und öffentlichen Auftritten Trumps und schauspielert dazu lippensynchron den Präsidenten. Neulich hat sie bereits den “Guest Host Monologue” bei der US-amerikanischen Late-Night-Show “Jimmy Kimmel Live!” übernommen. Nun gebe ihr Netflix eine ganze Sendung.

Nebengeschäfte, TV-Ausfallfonds, Oder soll man es lassen?

1. Mitgeliefert
(sueddeutsche.de, Anika Blatz)
Die Corona-Krise und die daraus resultierende wirtschaftliche Notlage befeuert in vielen deutschen Medienhäusern die Kreativität. Mit welchen “Nebengeschäften” lassen sich Auflagenschwund und Anzeigenverluste ausgleichen? Anika Blatz hat sich in der Branche umgehört und einige einfallsreiche Modelle entdeckt: von der Brötchen-Zustellung bis hin zur Einrichtung von mietbaren Online-Shops, der Kooperation mit Apotheken oder Hofläden und der “Same Day Delivery” für eine Vielzahl unterschiedlichster Partnerprodukte.

2. Vergrößern ist nicht spiegeln
(taz.de, Eliyah Havemann)
In einem Gastkommentar äußert sich Eliyah Havemann zum Streit über die Kabarettistin Lisa Eckhart: “[I]hr Publikum goutiert diese billigen Pointen, die sie auf Kosten der Juden, PoC, Homosexuellen und trans* Menschen sowie anderer Marginalisierter macht. Manche ihrer Fans behaupten, sie würde das tun, um der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten, etwa wie Sasha Baron Cohen mit seiner Figur Borat. Aber das ist Schönrederei. Denn ihrer Show fehlt die Distanz zur Figur. Der Spiegel wird zum Vergrößerungsglas.”

3. Oder soll man es lassen? Ja.
(uebermedien.de, Jürn Kruse)
Müssen öffentlich-rechtliche Medien “jeden zu Wort kommen lassen”? Oder sollte man gewissen Menschen und Positionen “keine Bühne bieten”? Das sind Fragen, die sich immer wieder stellen, zuletzt bei einem Interview des Deutschlandfunks mit Anselm Lenz, einem der Organisatoren der Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen. Jürn Kruse hat das Gespräch auf “Übermedien” analysiert. Er halte es für richtig, sich mit Verschwörungsideologen und ihren Erzählungen auseinandersetzen: “Das Interview ist als Darstellungsform dafür aber gänzlich ungeeignet, es ist das falsche Werkzeug. Es ist das Sieb, das man mit an den Strand nimmt, um Wasser zu schöpfen.”
Weiterer Lesehinweis: Auf “Planet Interview” reagiert Jakob Buhre mit einer Replik. Er halte Kruses Schlussfolgerung in ihrer Pauschalität für falsch. “Und zum Fall von Lenz: Man hätte mit ihm noch viel länger sprechen müssen.”

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4. Twitter kennzeichnet russische und chinesische Staatsmedien
(netzpolitik.org, Marie Bröckling)
Seit vergangener Woche versieht Twitter zahlreiche russische und chinesische Nachrichtenseiten mit einem Hinweis für “staatsnahe Medien”. Doch damit nicht genug: Die Tweets von Redaktionen wie “Russia Today” und “China Daily” würden ab sofort auch nicht mehr vom Algorithmus empfohlen, was ihre Reichweite erheblich drosseln dürfte. Eine Twitter-Sprecherin habe keine Angaben dazu machen wollen, wie viele und welche Accounts markiert wurden.

5. Gemeinsamer Appell für Ausfallfonds: “Handeln Sie jetzt!”
(dwdl.de, Uwe Mantel)
Für Kinofilme und “hochwertige Serien” hat die Bundesregierung bereits einen mit 50 Millionen Euro ausgestatteten Corona-Ausfallfonds beschlossen. Seit geraumer Zeit werde ein ähnlicher, jedoch von den Bundesländern finanzierter, Fonds für Fernsehproduktionen diskutiert. Nun haben 39 Verbände und Organisationen einen eindringlichen Appell veröffentlicht: “Wir brauchen den Ausfallfonds für TV-Produktionen. Jetzt!”

6. Wo laufen sie denn?
(untergeschoss.wordpress.com, Harald Keller)
Eine Serie wie “House of Cards” wird von vielen Medien gerne als “Netflix-Serie” bezeichnet, wahrscheinlich, weil man sie dort gucken kann. Doch sie läuft auch auf anderen Plattformen wie Amazon, Chili, Google Play, iTunes, Joyn, Maxdome, Microsoft, Rakuten TV, Sky Ticket, Sky Go, Sony und Videoload. Ist es also gerechtfertigt, Netflix derart herauszustellen? In diesem Fall aus guten Gründen ja, so Harald Keller, aber das Prinzip müsse durchgehalten werden.

Cancel Culture für Anfänger, Don Shitstorm, Kritik an “Volksstimme”

1. Cancel Culture für Anfänger
(spiegel.de, Margarete Stokowski)
“Der Begriff ‘Cancel Culture’ kommt wie alles aus dem Amerikanischen und bedeutet auf Deutsch ‘Ick hab hier schon wieder nen Storno’ (Storno kommt aus dem Lateinischen und heißt ‘Ah nee, ich möchte doch nicht’).” Margarete Stokowski widmet sich in ihrer aktuellen “Spiegel”-Kolumne dem Disput um die Kabarettistin Lisa Eckhart und den damit in Zusammenhang stehenden grundsätzlichen Fragen.

2. Shitstorm nach “Don Alphonso”-Kolumne: “Es gab für die gar keine Grenze mehr”
(belltower.news, Simone Rafael)
Rechtsextremismus-Expertin Natascha Strobl ist regelmäßig das Ziel von Angriffen, doch nach einem Blog-Beitrag des “Welt”-Kolumnisten Rainer Meyer alias “Don Alphonso” habe sie eine besondere Hasswelle erlebt: “Es kamen nur noch Abwertungen, Bedrohungen gegen mich und meine Familie. Auf Twitter geschah das öffentlich, im Sekundentakt, und als Privatnachrichten, auf Facebook, per Mail – und irgendjemand aus dem rechtsextremen Mob hat dann auch die Gedenkseite, die ich für meinen verstorbenen Vater aufgesetzt habe, gefunden, und hat dort das Kondolenzbuch mit Hass gefüllt. Es gab für die keine Grenze mehr.”

3. Ist das noch Journalismus oder schon Werbung?
(facebook.com, Solidarisches Magdeburg)
Das Bündnis “Solidarisches Magdeburg” kritisiert in einem offenen Brief die Berichterstattung der in der Mediengruppe Magdeburg erscheinenden “Volksstimme”. Die Tageszeitung für das nördliche und mittlere Sachsen-Anhalt habe sich unkritisch und wohlwollend zu den Protesten der Corona-Leugner geäußert: “Es ist journalistisch unterirdisch, die Selbstbezeichnungen wie ‘Querdenker’ einfach unkritisch zu übernehmen und zu reproduzieren. Man nennt Nazis, die sich ‘Demokraten’ nennen, ja auch nicht Demokraten, und Lügner, die sich ‘Wahrheitsverkünder’ nennen, Wahrheitsverkünder. Verschwörungsideologen und Antisemiten sind auch keine ‘Querdenker’, sondern müssten korrekterweise als ‘Sackgassen-Denker’ bezeichnet werden.”

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4. “Bild” und CDU irren
(taz.de, Jost Maurin)
Die Grünen werben im nordrhein-westfälischen Kommunalwahlkampf mit einem Plakat, auf dem eine Kartoffel und der Slogan “Grün ist, auch ohne Glyphosat die dicksten Kartoffeln zu haben” zu sehen sind. Darauf hätten sich “Bild” und CDU zu Wort gemeldet. Das Plakat sei “ein Beleg dafür, dass man vom Sachverhalt keine Ahnung hat.” Jost Maurin berichtet über einen Fall, bei dem die Ahnungslosigkeit womöglich eher auf der anderen Seite liegt.

5. Welt am Sonntag mahnt Kritiker wegen Urheberrechtsverletzung ab
(netzpolitik.org, Markus Reuter)
“ND”-Redakteur Daniel Lücking habe auf Twitter einen Text der “Welt am Sonntag” kritisiert und diesen als Foto seinem Tweet beigefügt. Daraufhin habe sich der von Lücking angesprochene “WamS”-Chef gemeldet und ihn aufgefordert, das Foto zu löschen. Dem sei Lücking innerhalb von acht Minuten nachgekommen, habe jedoch trotzdem teure Anwaltspost aus dem Hause Springer erhalten. Eine Abmahnung, die in der Branche eher ungewöhnlich sei, wie netzpolitik.org konstatiert.

6. Wenn alles Werbung ist, was nicht ausdrücklich als “Redaktion” gekennzeichnet ist
(uebermedien.de, Lisa Kräher)
Lisa Kräher stellt einige bedenkliche Beispiele für das Verschmelzen von redaktionellen und bezahlten Inhalten vor. Auf die Spitze getrieben habe dies das “Handelsblatt” mit einer Publikation, in der nicht die Werbung als solche gekennzeichnet wurde, sondern die Nicht-Werbung. Krähers Fazit: “Am Ende geht es immer um die Frage der Abgrenzung – und damit um Glaubwürdigkeit. Es ist nur nicht so klar, was wichtiger ist: die Glaubwürdigkeit für die Leser*innen. Oder die Glaubwürdigkeit einer Werbebotschaft.”

Whistleblower-Schutz, Verleger verhaftet, Social Media Nicht lustig

1. Bundesregierung muss beim Schutz von Whistleblowern nachbessern
(netzpolitik.org, Tomas Rudl)
Wie netzpolitik.org berichtet, hat der Deutsche Gewerkschaftsbund ein Gutachten zur “Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie in deutsches Recht” anfertigen lassen (PDF). Das 200 Seiten starke Papier wurde von der ehemaligen Richterin am Europäischen Gerichtshof, Ninon Colneric, und dem Juristen Simon Gerdemann verfasst, der zum Thema Whistleblowing promoviert hat. Die beiden Fachleute sehen erheblichen Handlungsbedarf. Bei der anstehenden Umsetzung in deutsches Recht müsse die Bundesregierung dringend nachbessern und Lücken schließen.

2. Verleger verhaftet
(taz.de)
In Hongkong wurde eine der prominentesten Figuren der Demokratiebewegung festgenommen, der Medienunternehmer und Aktivist Jimmy Lai. Polizisten hätten die Redaktionsräume von Lais Zeitung “Apple Daily” durchsucht und neben Lai sechs weitere Mitarbeiter festgenommen. Die Festnahme sei aufgrund des jüngst verschärften “Sicherheitsgesetzes” erfolgt. Als Tatvorwurf seien eine angebliche “Verschwörung mit ausländischen Kräften” und Betrug genannt worden.

3. “Wir hatten eine Mission, und wir konnten sie nicht erfüllen”
(deutschlandfunk.de)
Der Deutschlandfunk erinnert in einer neuen Reihe an vergessene Journalistinnen und Journalisten der Weimarer Zeit. Die ersten beiden Folgen beschäftigen sich mit “Fritz Gerlich – Journalist und Hitler-Gegenspieler” sowie der Reporterin “Gabriele Tergit – Berichte vom Hakenkreuz am Richtertisch”. “Ihre Namen stehen stellvertretend für viele andere. Ihre Geschichten zeigen, wie schmal die Linie zwischen Zivilisation und Barbarei ist und dass die Freiheit der Presse nicht selbstverständlich ist.”

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4. Freundinnen am Berg
(sueddeutsche.de, Aurelie von Blazekovic)
Vier outdoorbegeisterte Leipzigerinnen planen ein Reise- und Outdoormagazin für Frauen: “The Female Explorer” soll etwa 100 Seiten umfassen und sich an die weibliche Outdoor- und Travel-Community richten. Per Crowdfunding sollen bis Anfang September 50.000 Euro zusammenkommen, knapp die Hälfte davon sei bereits geschafft. Aurelie von Blazekovic stellt das Projekt vor und berichtet außerdem vom Podcast “Bergfreundinnen” des BR, der aus einer Online-Community entstanden sei.

5. RTL.de legt deutlich zu, zweistellige Verluste für “Welt”
(dwdl.de, Uwe Mantel)
Bei “DWDL” hat sich Uwe Mantel die Monatszahlen der Online-Nachrichtenportale angeschaut. Im Vergleich zum Vormonat hätte besonders RTL.de zugelegt, starke Rückgänge mussten Merkur.de und Welt.de verzeichnen. Zur weiteren Bewertung und Einordnung sind auch die Vorjahreszahlen angegeben.
Weiterer Lesehinweis: Die Mediengruppe RTL hat verschiedene Führungspositionen neu besetzt. Prominentester Neuzugang: Der ehemalige “Bild”-Vize und “Spiegel”-Journalist Nikolaus Blome (beta.blickpunktfilm.de).

6. Meine Probleme mit Social Media
(facebook.com, Joscha Sauer)
Es ist die persönliche, wenn auch etwas traurige Abrechnung eines Kreativen mit Social Media: Joscha Sauer hat seine Facebook-Präsenz bislang als eine Art Geschäft auf Gegenseitigkeit betrachtet, bei dem er die Inhalte lieferte und Facebook die Distribution übernahm. Mittlerweile sei die Situation gekippt – Sauer fühlt sich seiner Sichtbarkeit beraubt: “Plötzlich bekamen einige Fans nicht mehr alle Cartoons auf Facebook zu sehen. Einige sogar gar keine mehr. Meine geliebten Dopamin-Likes wurden weniger und gleichzeitig begann Facebook, mir vorzuschlagen, dass ich mehr Leute erreichen könnte, wenn ich nur ein bisschen Geld investieren würde. Facebook hatte beschlossen, dass ich kein Partner mehr war, sondern ein Kunde.”

So brachte “Bild” die Hisbollah in Zusammenhang mit den Explosionen in Beirut (mit falscher Recherche)

Im Libanon soll eine Untersuchungskommission der Frage nachgehen, wie es zu den verheerenden Explosionen im Beiruter Hafen kommen konnte, bei denen nach aktuellem Stand mindestens 220 Menschen getötet, mehr als 6000 verletzt und Hunderttausende obdachlos wurden. Doch eigentlich können sich die Libanesen die Ermittlungsarbeit schenken, denn die “Bild”-Redaktion weiß das alles längst:

Screenshot Bild.de - So brachte die Hisbollah den Sprengstoff nach Beirut - Und dieser windige Russe half den Terroristen dabei

titelte Bild.de am Donnerstag, keine 48 Stunden nach den Explosionen.

Es lohnt sich, einen genaueren Blick auf die “Bild”-Berichterstattung zum Thema zu werfen, denn sie zeigt, wie unjournalistisch die Redaktion arbeitet. Statt erst offen zu recherchieren und sich so einer mit Fakten unterfütterten These zu nähern, läuft es bei “Bild” andersrum: Am Anfang steht eine These, die selbstverständlich ins simple Freund-Feind-Schema des Blatts passt, und anschließend werden angebliche Fakten zusammengesucht, die die Erzählung stützen könnten. In diesem Fall noch schlimmer: Manche Fakten verbiegen die beiden Autoren Julian Röpcke und Mohammad Rabie kräftig, sie wählen sie einseitig aus oder geben sie gleich komplett falsch wieder, damit ihre Texte irgendwie zur bereits bestehenden These passen.

Um es gleich zu Beginn einmal klar zu sagen: Der Hisbollah, die große (finanzielle) Unterstützung aus dem Iran bekommt, einen gewissen Rückhalt in Teilen der libanesischen Bevölkerung genießt, über eine Miliz verfügt, deren Kampfkraft stärker sein soll als die der Armee des Landes, und die mit ihrem politischen Arm auch politisch ausgesprochen mächtig im Libanon ist, ist durchaus zuzutrauen, dass sie etwas mit dem Ammoniumnitrat im Beiruter Hafen zu tun hat. Sie hätte die Mittel dafür und ein mögliches Interesse. Es handelt sich immerhin um eine islamistische Gruppierung, die in Deutschland und vielen anderen Ländern der Welt als Terrororganisation eingestuft wird. Die Hisbollah trägt eine beachtliche Mitschuld an der desaströsen Lage, in der sich der Libanon, auch unabhängig von dem Unglück am Dienstag, aktuell befindet. Allerdings sollte man für eine Schlagzeile wie “SO BRACHTE DIE HISBOLLAH DEN SPRENGSTOFF NACH BEIRUT” etwas mehr in der Hand haben als Vermutungen und Vorurteile. Doch mehr haben Röpcke und Rabie nicht. Ihre Texte sind letztlich nicht viel mehr als ein “ist das nicht merkwürdig?”-Geraune plus falsche Recherche.

Bereits am Mittwoch schrieb das “Bild”-Duo über das “SCHIFF”, das “DEN TOD NACH BEIRUT” “BRACHTE”, ohne dabei die Hisbollah zu vergessen:

Screenshot Bild.de - Gerichtsdokumente warnten beireits 2016 - Dieses Schiff brachte den Tod nach Beirut - Einmischung der Hisbollah könnte den Abtransport des Ammoniumnitrats verhindert haben

Die Rhosus, um die es in dem “Bild”-Beitrag geht, gilt als Quelle für das Ammoniumnitrat, das wiederum als Ursache für die große Explosion am Dienstag in Beirut gilt. 2013 war das Schiff nach offiziellen Angaben von Georgien nach Mosambik unterwegs, beladen mit 2750 Tonnen Ammoniumnitrat (und nicht mit dem “TOD”, wie “Bild” schreibt – der soll erst durch viele spätere Versäumnisse die Folge gewesen sein). Es lief allerdings ungeplant den Hafen von Beirut an. Warum die Crew diesen Umweg einlegte, dafür gibt es unterschiedliche Angaben: An manchen Stellen heißt es, technische Probleme seien der Grund gewesen (PDF); andernorts ist davon die Rede, dass zusätzliche Ladung aufgenommen werden sollte (die allerdings gar nicht auf das Schiff passte), um die Fahrt rentabler zu machen oder sich überhaupt erst die Passage durch den Suez-Kanal leisten zu können. Den Beiruter Hafen verließ die Rhosus jedenfalls nicht mehr. Bei einer Hafenstaatkontrolle seien Mängel festgestellt und ein Auslaufverbot verhängt worden. Der Besitzer der Rhosus (“Bild” nennt ihn gewohnt sachlich “windigen Russen”) habe Hafengebühren nicht zahlen wollen und das Schiff letztlich aufgegeben. Die Ladung, das Ammoniumnitrat, wurde konfisziert und in Lagerhalle 12 des Beiruter Hafens geschafft. Inzwischen sind Briefe aufgetaucht, die belegen sollen, dass Vertreter des Zolls wiederholt an die Justiz geschrieben haben sollen, in denen sie darauf drängen, das Ammoniumnitrat wegen Sicherheitsbedenken aus der Halle schaffen zu lassen. Eine Reaktion auf diese Briefe soll es nie gegeben haben.

Wie sich dabei nun die Hisbollah eingemischt haben soll? So, laut Röpcke und Rabie:

Ein Grund dafür, dass keine Entscheidung [durch die Justiz] getroffen wurde, könnte sein, dass sich möglicherweise die Terrororganisation Hisbollah bereits damals in die Bemühungen um die hochexplosive Fracht im Hafen von Beirut eingeschaltet hatte.

In dem Zoll-Schreiben des Jahres 2016 erklärt der damalige Zolldirektor: Sollte ein Export der Ladung nicht möglich sein, könne “die Fracht auch, wie von der Armee empfohlen, an das libanesische Sprengstoff-Unternehmen ‘Majdal Shams’ verkauft werden”.

Und jetzt kommt’s:

Alarmierend: Majdal Shams ist der Name einer Stadt im 1981 von Israel annektierten Golan, die von den Vereinten Nationen bis heute als Teil Syriens geführt wird. Ihr gegenüber liegt nur vier Kilometer entfernt das syrische Dorf Khadar, in dem die Hisbollah massive Terrorstrukturen und einigen Berichten zufolge auch Tunnel errichtet hat, um Majdal Shams anzugreifen.

Der Verdacht, den auch der zuständige Richter gehabt haben könnte: Die Terroristen wollten das Ammoniumnitrat kaufen, um einen nie da gewesenen Terroranschlag auf Israel zu verüben.

Darum die verweigerte Antwort auf die Bitten des Zolls mit Unterstützung womöglich Hisbollah-freundlicher Elemente in der libanesischen Armee

(Link im Original)

Das ist nicht nur eine bemerkenswerte Häufung von “möglicherweise”s, “womöglich”s und Konjunktiven, sondern auch eine ziemlich kühne Herleitung: Die Hisbollah soll hinter dieser Firma stecken, weil diese einen Namen trägt, den auch eine von Israel annektierte Stadt in den Golanhöhen trägt, von der “nur vier Kilometer entfernt” ein Dorf liegt, in dem die Hisbollah Strukturen entwickelt hat? Allein schon zeitlich wäre das ein überraschender Vorgang: Der im “Bild”-Artikel beim Satzteil “in dem die Hisbollah massive Terrorstrukturen” gesetzte Link führt zu einem Beitrag aus dem Juli dieses Jahres, in dem es um eine aktuell möglicherweise bevorstehende Vergeltung durch die Hisbollah geht. Die Hisbollah hätte also schon bei der Namensgebung der Firma, mit der sie sich einem Brief von 2016 zufolge um das Ammoniumnitrat im Beiruter Hafen bemüht haben soll, wissen müssen, dass sie vier Jahre später, als Vergeltung für einen israelischen Angriff, eine Stadt namens Majdal Shams angreifen wird. Das wären bedeutende seherische Fähigkeiten.

Und es wird noch peinlicher für Röpcke und Rabie. Denn sie geben den Brief des Zollbeamten, in dem es um Majdal Shams gehen soll, schlicht falsch wieder: Darin ist nicht die Rede von “Majdal Shams”, sondern von “Majid Shammas”. “Majid” ist ein gängiger Vorname. Und “Shammas” der Name der Familie, der die Firma gehört, die sich um das Ammoniumnitrat bemüht haben soll: Lebanese Explosives Co. SARL (Majid Shammas & Co.).

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Einen Tag nach diesem fehlerhaften Artikel, am Donnerstag, war laut “Bild” die Hisbollah dann nicht nur beteiligt am Versuch, das konfiszierte Ammoniumnitrat zu kaufen, sondern gleich gänzlich dafür verantwortlich, dass es überhaupt nach Beirut kam. Zur Erinnerung:

Screenshot Bild.de - So brachte die Hisbollah den Sprengstoff nach Beirut - Und dieser windige Russe half den Terroristen dabei

Vielleicht erstmal zum Begriff “Sprengstoff”, der nicht nur in der “Bild”-Überschrift, sondern auch im Artikel mehrmals auftaucht: Ammoniumnitrat ist kein Sprengstoff, sondern ein Salz aus Ammoniak und Salpetersäure. Dieses kann zur Herstellung von Sprengstoff verwendet werden. Es ist dadurch aber nicht automatisch ein Sprengstoff. Denn sonst würden sich Landwirte weltweit Sprengstoff auf ihre Felder kippen – Ammoniumnitrat kann schließlich auch zur Herstellung von Düngemittel verwendet werden. Wie kommen Röpcke und Rabie also darauf, von “Sprengstoff” zu sprechen? Sie schreiben, das Schiff Rhosus habe 2750 Tonnen “einer billigen Kopie des australischen Minen-Sprengstoffs ‘Nitropril’ an Bord gehabt”, und berufen sich bei dieser Einschätzung auf einen “Waffenexperten”. Grundlage dafür ist ein Foto, das den Eingang einer Lagerhalle im Beiruter Hafen zeigen soll, in der Säcke mit dem Aufdruck “NITROPRILL” (also mit doppeltem L) stehen. Es gibt allerdings noch weitere Aufnahmen, die diese Säcke mit dem “NITROPRILL”-Aufdruck zeigen sollen. Und auf denen steht auch: “AMMONIUM NITRATE”. “NITROPRILL” scheint dabei nur eine gewählte Marken- oder Typbezeichnung zu sein.

Doch zurück zur von “Bild” längst festgeschriebenen Rolle der Hisbollah. Röpcke und Rabie schreiben über die Explosionen in Beirut:

BILD-Recherchen zeigen: Die Terrororganisation Hisbollah trägt zumindest eine Mitverantwortung, wenn nicht gar die alleinige Schuld an der Tragödie.

Leider liefern sie dafür dann keine Belege. Aber einen “Verdacht”, den haben sie: Die Ladung der Rhosus sollte nie nach Mosambik:

Der Verdacht: Die angebliche Lieferung nach Afrika war nur ein Vorwand, um den Sprengstoff in Hisbollah-Reichweite zu bringen.

Auch hier: kein Beweis, kein Hinweisgeber, nichts. Dafür aber wieder die Zollschreiben und der versuchte Kauf des Ammoniumnitrats – diesmal immerhin mit dem korrekten Firmennamen:

Es wird noch irrer: Die libanesische Firma “Majid Shammas & CO.”, fast gleichnamig mit der 1967 von Israel eroberten Stadt “Majdal Shams” im Golan, bietet Anfang 2014 an, die knapp 3000 Tonnen Sprengstoff zu kaufen. Die Firma hatte bereits 2013 heimlich Sprengstoff an Syrien-Diktator Assad verkauft – einen der engsten Verbündeten der Hisbollah.

Weil eine Firma mal Sprengstoff an den syrischen Diktator Baschar al-Assad verkauft hat, und die Hisbollah Assad nahesteht, muss die Firma nach “Bild”-Logik eine Verbindung zur Hisbollah haben. Fall gelöst.

Viel einfacher kann man es sich nicht machen. Vor allem, wenn es um den Libanon geht, wo das Verhältnis zu Syrien ein sehr komplexes ist. Man kann die politische Landschaft im Libanon unter verschiedensten Gesichtspunkten unterteilen. Einer davon: Ist eine Partei pro- oder anti-syrisch? Die “March 14 Alliance”, angeführt vom ehemaligen Premierminister Saad Hariri, ist anti-syrisch. Die “March 8 Alliance”, angeführt vom aktuellen libanesischen Präsidenten Michel Aoun, ist hingegen pro-syrisch. Zu dieser “Allianz des 8. März” zählt auch die Hisbollah. Aber nicht nur. Andere Parteien, wie das Amal Movement oder Aouns Free Patriotic Movement, gehören ebenfalls dazu. Michel Aoun ist maronitischer Christ. Wendet man die “Bild”-Logik an, könnte man also auch sagen: Weil eine Firma mal Sprengstoff an den syrischen Diktator Baschar al-Assad verkauft hat, und das Free Patriotic Movement Syrien nahesteht, muss die Firma Verbindung zu Michel Aoun haben. Oder als “Bild”-Überschrift: “SO BRACHTEN DIE CHRISTEN DEN SPRENGSTOFF NACH BEIRUT”. Das wäre genauso wackelig wie Röpckes und Rabies Argumentation.

Auch die am Mittwoch bereits thematisierten Schreiben des Zolls thematisieren Röpcke und Rabie am Donnerstag noch einmal:

Unterlagen des Zolls, die BILD vorliegen, enthüllen: Zwei Zolldirektoren drängen im August 2016 und Juni 2017 ein libanesisches Gericht, dem Kauf durch die offenbar der Hisbollah nahe Firma zuzustimmen. Erstens handele es sich um “gefährliche Materialien”, die “unter unangemessenen Außenbedingungen im Lager aufbewahrt” würden. Zweitens könne “die Fracht auch, wie von der Armee empfohlen, an das libanesische Sprengstoff-Unternehmen ‘Majid Shammas’ verkauft werden”.

Das ist eine stark einseitige Darstellung. Denn der Verkauf “an das libanesische Sprengstoff-Unternehmen ‘Majid Shammas'” war nur einer von drei Vorschlägen der Zollbehörde. Die zwei anderen: die Wiederausfuhr des Ammoniumnitrats ins Ausland sowie eine Übergabe an das libanesische Militär. Die Zolldirektoren nannten drei Optionen – sie “drängten” nicht auf eine davon.

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Wenn Julian Röpcke und Mohammad Rabie über die Stellung der Hisbollah im Libanon schreiben, sind ihre Beschreibungen und Einschätzungen merkwürdig inkonsistent. Auf der einen Seite stellen sie die Gruppierung als sehr mächtig dar, auch in Bezug auf den Hafen in Beirut und das Ammoniumnitrat: Die Hisbollah habe gewusst, “dass man jederzeit auf die 2750 Tonnen zugreifen konnte und hielt sich deshalb mit weiteren Aneignungsversuchen zurück.” Auch diese Behauptung ist reine Spekulation, die “Bild”-Autoren liefern keine Belege. Es stimmt allerdings, dass die Hisbollah als heimlicher Herrscher zumindest mancher Teile des Beiruter Hafens gilt. Auf der anderen Seite schreiben Röpcke und Rabie im selben Artikel ein paar Absätze später:

Reagierten die Hafenbehörden auf ein erneutes Interesse der Terrorgruppe an dem Sprengstoff im Hafen? Dafür spricht: Der Brand in der Lagerhalle soll bei Schweißarbeiten an einem Tor des Gebäudes ausgebrochen sein. Zollbeamte hätten versucht, den Sprengstoff gegen Diebstahl zu sichern, berichteten lokale Medien.

Ein einfaches Tor sollte also die Gruppe, die sich laut “Bild” alles im Libanon erlauben kann und “jederzeit auf die 2750 Tonnen zugreifen konnte”, davon abhalten, auf die 2750 Tonnen zuzugreifen. Ganz nebenbei suggeriert der Absatz: Es musste geschweißt werden, weil man das Ammoniumnitrat vor der Hisbollah schützen musste, und die Schweißarbeiten sollen den Brand in der Lagerhalle ausgelöst haben – also: Die Hisbollah ist indirekt schuld an den Explosionen in Beirut.

Dazu kommt: Die Behauptung, dass die Hisbollah sich “mit weiteren Aneignungsversuchen” zurückgehalten habe, nur weil sie gewusst hätte, dass sie auf das Ammoniumnitrat “jederzeit (…) zugreifen konnte”, ist eine schwache Antwort auf die Frage, die sich beim Lesen der “Bild”-Artikel automatisch stellt: Warum sollte die Hisbollah so großen Aufwand betreiben und eine vermeintliche Lieferung nach Mosambik inszenieren, die Lieferung dann aber jahrelang nicht anrühren? Durch ihre Verwicklungen in den Bürgerkrieg in Syrien und ihre Aggressionen gegen Israel hätte sie definitiv Bedarf gehabt. Und es stellen sich weitere Fragen: Warum sollte die Hisbollah so eine Geheimoperation daraus machen, dann aber auf den “Bill of Loading” (wobei wir diesen nicht endgültig verifizieren können) schreiben, dass es sich um Ammoniumnitrat handelt? Warum sollte die Hisbollah überhaupt so eine Anstrengung unternehmen für einen Stoff, der nicht so schwer zu bekommen ist? Warum sollte die Hisbollah dafür den Hafen von Beirut nutzen, in dem auch andere Gruppen mitmischen, wenn sie im Süden des Libanons, wo sich Hisbollah-Hochburgen befinden, in einem kleineren Hafen viel unkomplizierter und unbeobachteter Ladung an Land schaffen kann? Oder warum nicht gleich in Syrien in den größeren Häfen von Latakia oder Tartus, wo das Assad-Regime der befreundeten Hisbollah ganz sicher nicht im Weg stehen würde? Und warum fragen Röpcke und Rabie nicht einfach mal in Mosambik bei der Fábrica de Explosivos de Moçambique nach, die als der eigentliche Empfänger für das Ammoniumnitrat gilt, oder bei der Banco Internacional de Moçambique, die den Handel finanziell abgewickelt haben soll, ob dort das Ammoniumnitrat erwartet wurde? Dann bestünde natürlich die Gefahr, dass die “Bild”-Geschichte, die Ladung sollte von Anfang an an die Hisbollah gehen, überhaupt nicht mehr passt.

Dass die einstige Schlagzeile “SO BRACHTE DIE HISBOLLAH DEN SPRENGSTOFF NACH BEIRUT” so gut wie gar nicht vom dünnen Artikel gedeckt ist, merkte offenbar auch die “Bild”-Redaktion im Laufe des Donnerstags. Sie änderte sie klammheimlich in eine Frage:

Screenshot Bild.de - Russischer Geschäftmann bekam eine Million Dollar für den Transport - Brachte die Hisbollah den Sprengstoff nach Beirut?

Mit Dank an @goldi und @ZottelderZub für die Hinweise!

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Nachtrag, 22. August: In den vergangenen Tagen haben mehrere Redaktionen (weiter)recherchiert, wie das Ammoniumnitrat nach Beirut kam, und ob die Hisbollah damit etwas zu tun hat. Das hat zu neuen Erkenntnissen geführt, die wir hier ergänzen möchten. Wir beziehen uns dabei auf zwei Artikel: einen von Welt.de und einen vom “Spiegel” (nur mit Abo lesbar, als englische Übersetzung auch ohne Abo lesbar).

Der Grund, warum wir gerade diese zwei Artikel wählen: “Bild”-Redakteur Julian Röpcke stellt es bei Twitter so dar, als würden sie belegen, dass wir mit unserer Kritik an seiner Berichterstattung (siehe oben) völlig danebengelegen hätten. Wir hätten es “#VollVergeigt”, so Röpcke.

Entweder hat er die zwei Artikel nicht gelesen oder er hat sie gelesen und reißt weiter fröhlich Dinge aus dem Zusammenhang. Denn: Die Recherchen von Welt.de und “Spiegel” lassen die “Bild”-Behauptungen, die wir kritisiert haben, aus unserer Sicht nicht weniger kritikwürdig erscheinen. Sie stützen nicht das, was Röpcke und dessen Co-Autor Mohammad Rabie geschrieben haben. Ihre falsche Übersetzung bleibt falsch, ihr unbelegtes Geraune bleibt unbelegtes Geraune. Manch ein Recherche-Ergebnis widerspricht sogar ihren Spekulationen.

Erstmal zum Welt.de-Artikel: Die Überschrift “Die explosive Spur führt zur Hisbollah” könnte einen glauben lassen, dass Autor Daniel-Dylan Böhmer die entscheidende Verbindung von Hisbollah zu den Explosionen in Beirut gefunden hat. Allerdings geht es in Böhmers Text erstmal nur um ganz andere Lieferungen von Ammoniumnitrat an die Hisbollah. Es gebe lediglich einen “engen zeitlichen Zusammenhang mit dem in Beirut detonierten Material”, was heißen soll: Etwa zu der Zeit, als die Rhosus, also das Schiff, das mit den 2750 Tonnen Ammoniumnitrat beladen war, im Beiruter Hafen angelegt hat, hat die Hisbollah “große Lieferungen von Ammoniumnitrat” erhalten. Allerdings von ganz woanders (von der Kuds-Einheit der Iranischen Revolutionsgarden), teils über ganz andere Wege (per Flugzeug und per Landweg über die syrische Grenze) und ganz andere Mengen (vermutlich 630 bis 670 Tonnen).

Daniel-Dylan Böhmer schreibt:

Ob die Lieferungen aus den Unterlagen, die WELT einsehen konnte, in direktem Zusammenhang mit der Explosion in Beirut standen, ist ungewiss. Das Ammoniumnitrat, das am 4. August detonierte, soll nach heutigem Kenntnisstand ein Frachter unter moldawischer Flagge Ende 2013 in Beirut abgeladen haben, nachdem er auf seiner Fahrt von Georgien nach Mosambik wegen technischer und finanzieller Probleme einen Zwischenstopp in Beirut einlegen musste. Unklar ist bislang, warum die Chemikalien im Hafen gelagert und weder weitertransportiert noch vernichtet wurden.

Diese Faktenlage weist nicht direkt auf die Hisbollah als Empfänger dieses Stoffes hin.

Der letzte Satz widerspricht der “Bild”-Überschrift “SO BRACHTE DIE HISBOLLAH DEN SPRENGSTOFF NACH BEIRUT”, die die Redaktion später in die Frage “Brachte die Hisbollah den Sprengstoff nach Beirut?” geändert hat, auf die man dem Welt.de-Artikel zufolge mit “Nach aktuellem Kenntnisstand: nein” antworten müsste.

Im “Spiegel”-Artikel geht es um eine andere Verbindung zur Hisbollah, allerdings auch nur über Bande. Die Überschrift lautet: “Was die Hisbollah mit dem mysteriösen Fall der ‘Rhosus’ verbindet”. Im Teaser gibt es darauf einen ersten Hinweis: “Es gab Verbindungen des Reeders zur Bank der Hisbollah”.

Der Besitzer der Rhosus, so hat es der “Spiegel” herausgefunden, ist gar nicht Igor Gretschuschkin (den “Bild” den “windigen Russen” nennt), sondern ein Mann aus Zypern, der Reeder Charalambos Manoli. Gretschuschkin hatte die Rhosus nur gechartert. Manoli soll sich bereits 2011 etwa vier Millionen Dollar bei der tansanischen FBME-Bank geliehen habe. Die FBME-Bank wiederum sei die “Hausbank der Hisbollah”, so der “Spiegel”. Sie soll der Terrororganisation unter anderem bei der Geldwäsche geholfen haben. Dokumenten zufolge konnte Manoli den Kredit nicht komplett zurückzahlen. Er soll zwischenzeitlich die Rhosus als Sicherheit angeboten haben, was die Bank allerdings ablehnte. Die Frage, die der “Spiegel” aufwirft: Gibt es eine Verbindung zwischen den Schulden Manolis und dem Stopp des mit Ammoniumnitrat beladenen Frachters in Beirut? Der Reeder dementiere “jeden Zusammenhang”, so der “Spiegel”:

Ein Ermittler hingegen sagt, die FBME-Bank sei berüchtigt dafür gewesen, säumige Schuldner zu Gefälligkeiten gegenüber zwielichtigen Kunden wie der Hisbollah zu drängen.

Einen eindeutigen Beleg, der es schafft, eine direkte Verbindung von Hisbollah zum Frachter oder zum im Beiruter Hafen explodierten Ammoniumnitrat herzustellen, gibt es im “Spiegel”-Artikel nicht.

Beweise, die die Spekulationen der “Bild”-Autoren Julian Röpcke und Mohammad Rabie stützen, findet man dort ebenfalls nicht. Es geht im “Spiegel”-Artikel auch gar nicht um die Aspekte aus der “Bild”-Berichterstattung, die wir weiter oben kritisiert haben: Es geht nicht um eine Firma namens “Majdal Shams” (die falsche Übersetzung von Röpcke und Rabie, die die “Bild”-Redaktion inzwischen transparent korrigiert hat). Es geht nicht um eine Firma namens “Majid Shammas”, die Röpcke und Rabie in die Nähe der Hisbollah rücken. Es geht nicht darum, dass der libanesische Zoll ein Gericht “gedrängt” habe, das Ammoniumnitrat an diese angeblich Hisbollah-nahe Firma zu verkaufen, wie Röpcke und Rabie es einseitig darstellen.

Dafür gibt es auch im “Spiegel”-Artikel eine neue Erkenntnis, die Röpckes und Rabies Spekulation widerspricht. Die “Bild”-Autoren mutmaßen zu den ausgebliebenen Antworten der Justiz auf die Anfragen des Zolls, das Ammoniumnitrat aus dem Hafen zu schaffen:

Der Verdacht, den auch der zuständige Richter gehabt haben könnte: Die Terroristen [der Hisbollah] wollten das Ammoniumnitrat kaufen, um einen nie da gewesenen Terroranschlag auf Israel zu verüben. Darum die verweigerte Antwort auf die Bitten des Zolls mit Unterstützung womöglich Hisbollah-freundlicher Elemente in der libanesischen Armee

Der “Spiegel” hat hingegen herausgefunden, dass der Grund für die ausgebliebenen Antworten ein ganz anderer sein könnte: Die Schreiben seien “beharrlich an das falsche Gericht geschickt” worden:

Immer wieder warnten Behörden, vor allem der Zoll, das Ammoniumnitrat müsse aus dem Hafen weggebracht werden. Doch die Schriftsätze wurden so beharrlich an das falsche Gericht geschickt, dass es beteiligten Juristen schwerfällt, an bloße Inkompetenz zu glauben.

Eine Sache wollen wir bei dieser Gelegenheit noch einmal wiederholen: Wir haben nie ausgeschlossen, dass die Hisbollah etwas mit dem Ammoniumnitrat im Beiruter Hafen zu tun haben könnte. Im Gegenteil: Wir haben extra “gleich zu Beginn einmal klar” geschrieben:

Der Hisbollah […] ist durchaus zuzutrauen, dass sie etwas mit dem Ammoniumnitrat im Beiruter Hafen zu tun hat. Sie hätte die Mittel dafür und ein mögliches Interesse.

Unsere Kritik an den “Bild”-Artikeln war eine Kritik an der “Bild”-Artikeln und keine Verteidigung für die Hisbollah. Wir finden, dass bei einem so heiklen Thema und bei einem Ereignis, bei dem viele Menschen gestorben sind und viele verletzt wurden, wilde Spekulationen nicht in die Berichterstattung gehören – unabhängig davon, ob es um eine schweinische Terrororganisation geht oder nicht.

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