Im Internet kursiert derzeit ein Video, das eine Frau zeigt, die sich am Flughafen von Miami auszieht und nackt durch das Gebäude läuft. Dabei singt die Frau.
Die Bild.de-Redaktion veröffentlicht diese Aufnahmen — wohl wissend, dass die Person, die dort zu sehen ist, “verwirrt” ist:
(Alle Unkenntlichmachungen in diesem Beitrag durch uns.)
Auch im Video schreibt Bild.de, dass die Frau verwirrt sei und “unter Wahnvorstellungen” leide:
Rücksicht nimmt die Redaktion darauf nicht. Aber was ist auch schon sowas wie Menschenwürde im Vergleich zu ein paar geilen Klicks?
Am vergangenen Donnerstag war großer Messer-Tag bei den “Bild”-Medien. Die “Bild”-Zeitung verkündete auf ihrer Titelseite, dass die “Messer-Gewalt” “immer schlimmer” werde:
Und bei Bild.de lief am Morgen die auf der Titelseite angekündigte “große Sondersendung”.
Ein paar Stunden später, am frühen Nachmittag, gab es noch eine “Bild live”-Sendung. Denn es gab einen “NEUEN MESSERANGRIFF”:
Im baden-württembergischen Rottweil hatte ein Mann eine Mitarbeiterin des örtlichen Jobcenters mit einem Messer attackiert und schwer verletzt. Die Frau musste per Hubschrauber ins Krankenhaus gebracht werden. Die Polizei konnte noch vor Ort einen Tatverdächtigen festnehmen. Und “Bild” berichtete mit einer Messer-Sondersendung.
Diese Sendung dürfte ein weiterer Testballon der Redaktion und ein Vorgeschmack darauf gewesen sein, wie das von Chefredakteur Julian Reichelt und dem Axel-Springer-Verlag geplante “Bild TV” aussehen könnte. Wenn das “Bild”-Team mehrere Stunden am Tag durchgängig senden möchte, muss es auch kurzfristig Sendungen zu aktuellen Themen auf die Beine stellen können. Durch die gut 16-minütige “Bild live”-Sendung vom Donnerstag konnte man einmal mehr erahnen, wie schrecklich das alles werden dürfte.
Das größte Problem war, dass es diese Sendung überhaupt gab; dass ein singuläres Ereignis, das eher von lokalem Interesse ist, durch “Bild” zu einer “BREAKING NEWS” von angeblich deutschlandweiter Relevanz aufgeblasen wurde. So schlimm der Angriff im Jobcenter in Rottweil war, bleibt es ein Vorfall von begrenzter Bedeutung. Die “Bild”-Redaktion aber schnappt ihn sich und schaltet zwei, drei Alarmgänge hoch: Hier, schaut her! Schon wieder ein Messerangriff! Überall Messergewalt! Und wie ist es beim nächsten Vorfall und beim übernächsten — berichtet “Bild live” dann wieder? Vermutlich nicht. Nicht einmal die “Bild”-Redaktion schafft es, aus jedem Messerangriff in Deutschland eine angstverbreitende TV-Sendung zu machen.
Ein möglicher Grund, warum gerade der Angriff in Rottweil zu einer “Bild live”-Sendung führte: Ein Plan von Julian Reichelt soll sein, plattformübergreifende Themenschwerpunkte zu setzen, mit denen er dank “Bild”-Zeitung, Bild.de und eben “Bild TV” bis zu 40 Millionen Menschen erreichen will. Wenn man zufällig sowieso schon eine Titelseite zur “Messer-Gewalt” an den Kiosken liegen hat, und dann ein aktueller Fall reinkommt, kann man doch wunderbar mit einer Messer-Sondersendung testen, wie das klappen könnte. Auch Moderatorin Juliane Bauermeister sagte gleich zu Beginn der Sendung:
Ein Mann greift eine Frau mit dem Messer an und verletzt sie schwer. Ja, dieser furchtbare Angriff passierte heute Vormittag. Das Opfer: eine Mitarbeiterin des Jobcenters in Rottweil in Baden-Württemberg. Ja, und wir haben ja erst heute morgen in unserer 8-Uhr-Sendung über den Anstieg von Messerangriffen in Deutschland berichtet. Nun also dieser neueste tragische Fall.
Durch diese Aktualitätshechelei begibt sich die “Bild”-Redaktion in einen selbst auferlegten Breaking-News-Modus, der dazu verpflichtet, irgendetwas zu erzählen und irgendetwas zu zeigen, auch wenn kaum bis gar nichts zu erzählen und zu zeigen ist. Das führt etwa dazu, dass Moderatorin Bauermeister dann einen Tweet wie diesen der Polizei Konstanz vorliest:
Bauermeister: “Da müssen wir also abwarten, was jetzt die Ermittlungen dazu bringen.” Diesen Tweet, der eigentlich nur sagt, dass es noch nichts zu sagen gibt, liest sie später in der Sendung noch ein zweites Mal vor. Viel weniger kann man nicht zu berichten haben.
Und auch “Bild”-Redakteur Frank Klauss, der mit der Moderatorin im Studio steht, kann nicht viel mehr beitragen als: Mann, Messer, Jobcenter, Mitarbeiterin, Hubschrauber, Krankenhaus, Polizei, Festnahme. Ansonsten sagt er Dinge wie:
Ob sie in Lebensgefahr schwebt, ist derzeit noch nicht bekannt. Wir warten da auch noch auf weitere Nachrichten von Seiten der Polizei.
Und: Angriffe in Jobcentern kämen immer wieder vor …
so dass viele Jobcenter auch mittlerweile einen Sicherheitsdienst haben und auch ihre Mitarbeiter schulen. Ob das hier in Rottweil der Fall war, das wissen wir noch nicht. Aber das ist sicherlich auch eine interessante Frage, der wir noch nachgehen werden.
Dazu noch ein paar Allgemeinplätze: Die Polizei sei jetzt damit beschäftigt, Spuren zu sichern und mit Zeugen zu sprechen. Außerdem werde der Tatverdächtige nun vernommen. Schau an. Zum möglichen Motiv des Mannes sagt Klauss:
Über das Motiv können wir bislang erst noch spekulieren.
… und spekuliert dann über einen möglichen Streit um Leistungskürzungen.
Noch trauriger ist nur die Schalte zu “Bild”-Reporter Frank Schneider, der aus irgendeinem Grund vor einer Burger-King-Filiale steht, aber nicht in Rottweil. Schneider erzählt von der Statistik aus Nordrhein-Westfalen, die die Grundlage für die “Bild”-Titelseite mit der “immer schlimmeren” “Messer-Gewalt” ist:
Naja, die wichtigste Nachricht ist natürlich: Die Attacken nehmen deutlich zu. Es gibt ja wenige Zahlen in der Vergleichbarkeit, weil natürlich viele Bundesländer sie noch nicht erheben. Aber wir haben zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen seit einem Jahr diese Erhebung. Und man sieht ja schon: Vom ersten zum zweiten Halbjahr nimmt die Zahl der Attacken deutlich zu.
Das ist deswegen bemerkenswert, weil nur kurz darauf von der “Bild”-Redaktion ein morgens aufgezeichnetes Interview mit Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul eingespielt wird, der gewissermaßen Herausgeber der Statistik ist, zu der “Bild”-Reporter Schneider behauptet, dass das alles “deutlich” steige. Reul sagt:
Man muss da behutsam sein, weil wir es das erste Mal machen, aber auch die einzigen sind in Deutschland, die das gemacht haben. Aber die Zahlen sind erschreckend. Wir können jetzt nicht sagen, ob sie wirklich gestiegen sind. Aber mein Gefühl ist, das nimmt zu, da tut sich was, da müssen wir achtsam sein. Das muss man vor allen Dingen ernst nehmen. Und das ist auch nicht einfach mit billigen Parolen zu lösen, sondern da muss man ganz genau hinschauen: Warum passiert das? Und welche Möglichkeiten haben wir als Polizei oder als Staat oder als Gesellschaft?
Aber zurück zu “Bild”-Mann Schneider, der noch mal sagen will, auf wen die Gesellschaft da besonders schauen muss: die Ausländer:
Es sind hauptsächlich männliche Tatverdächtige, es sind junge Männer. Es sind nicht nur Jugendliche, es sind auch viele Erwachsene, aber junge Männer, dabei. Es sind relativ viele Nicht-Deutsche dabei. Von den Deutschen haben viele auch noch Migrationshintergrund. Es ist offenbar auch ein kulturelles Problem. Der Psychologe hat es heute morgen ja auch noch mal erklärt: Das ist so ein Männlichkeitssymbol. Und das kommt eben diesem archaischen und patriarchalischen Männerbild von vielen Zuwanderern nahe. Man hat das Messer dabei, um seine Ehre, seine Männlichkeit zu verteidigen. Und das ist sicherlich die Aussagekraft dieser Statistik bisher.
Auch zu dieser billigen Parole zu diesem Aspekt gibt es eine Aussage von NRW-Innenminister Reul. Auf die Frage, wie “das Täterprofil von solchen Menschen” aussehe, sagt er im Interview:
Sie haben es richtig beschrieben: Vorrangig Männer. Vorrangig Männer und vorrangig Deutsche. Und das heißt zum Beispiel, dass die einfache Erklärung ‘Das sind nur diejenigen, die aus dem Ausland kommen’ falsch ist und nicht reicht. Aber auch da gibt es 40 Prozent. Und deswegen sind beide Sachverhalte ernst zu nehmen.
Inzwischen steht fest, dass der 58-jährige Tatverdächtige in Rottweil Deutscher ohne Migrationshintergrund ist.
Am Ende der “Bild live”-Sondersendung sagt Moderatorin Juliane Bauermeister:
So viel zu dem, was wir wissen über den heutigen Messerangriff.
Und:
Wir halten Sie natürlich weiterhin auf dem Laufenden.
1. Gewaltige Fotodatenbank zeigt, wie gefährlich Gesichtserkennung ist (zeit.de)
Laut “New York Times” soll das wenig bekannte Startup Clearview eine Datenbank mit Milliarden Bildern von Menschen zusammengesammelt haben, die mittels Gesichtserkennung zuzuordnen seien. Clearview soll dafür Facebook, Youtube und viele andere Websites geplündert haben. Das Unternehmen biete seine Dienste sowohl Behörden als auch Privatunternehmen an. Es lohnt sich, auch den “NYT”-Beitrag im Original zu lesen. Er hat Elemente einer alarmierenden Dystopie.
2. Eine Frage der Größe (sueddeutsche.de, Simon Hurtz)
Wenn es nach einem “Diskussionsentwurf” des Justizministeriums zur Umsetzung des Leistungsschutzrechts geht, sollen Vorschaubilder bald nur nur noch im Briefmarkenformat erlaubt sein. Simon Hurtz erklärt Hintergrund, Zusammenhänge und Interessenlagen.
3. Wenn überall das Gleiche steht (taz.de, Anne Fromm)
Im Osten Deutschlands schrumpft die Presse auf einige wenige Anbieter zusammen. Nach dem Verkauf der “Mitteldeutschen Zeitung” an die Bauer Media Group, die mit der “Volksstimme” bereits die andere große Tageszeitung in Sachsen-Anhalt besitzt, kommentiert Anne Fromm: “Das mag Ihnen in Tübingen oder Oldenburg egal sein. Vielleicht nehmen Sie von ihr nur dann Kenntnis, wenn sie morgens in der ‘Presseschau’ im Deutschlandfunk zitiert wird. Doch zur Demokratie gehört ein dichtes Netz aus Meinungsvielfalt und Pressevielzahl.”
4. AfD- und Nichtwähler nutzen wenig Nachrichtenquellen (heise.de, Andreas Wilkens)
Psychologinnen und Psychologen der Universität Ulm haben Wähler politischer Parteien zu deren Nachrichtenkonsum befragt. Das Ergebnis: Nicht- und AfD-Wähler sowie Unterstützer kleiner Parteien bezögen sich auf die vergleichsweise wenigsten Nachrichtenquellen. Außerdem würden ältere Befragte laut Studie mehr Nachrichtenquellen nutzen als jüngere.
5. Nach der Verhandlung über die BND-Massenüberwachung: 7 Lehren für die (investigative) journalistische Arbeit (medium.com, Daniel Moßbrucker)
Das Bundesverfassungsgericht befasst sich derzeit mit der Massenüberwachung durch den Bundesnachrichtendienst und prüft, ob diese das Grundgesetz verletzt. Durch das energische Nachfragen der Richterinnen und Richter seien so viele Details und Zahlen wie lange nicht bekannt geworden. Daniel Moßbrucker hat daraus sieben Erkenntnisse für Journalistinnen und Journalisten abgeleitet.
6. Wie Polizeimeldungen Autounfälle verharmlosen (tagesspiegel.de, Stefan Jacobs)
In Polizeiberichten über Autounfälle werde oft die Perspektive des Autoverkehrs eingenommen, was zu einer Verharmlosung und Falschbewertung des tatsächlichen Unfallgeschehens führen könne. Stefan Jacobs hat einige Beispiele aus Berlin zusammengetragen und sensibilisiert damit für das wichtige Thema.