Geht es darum, mit falschen Fakten Angst und Schrecken zu verbreiten, leben “Bild” und AfD in wunderbarer Symbiose. In Dresden konnte man das in den vergangenen Tagen gut beobachten: Eine AfD-Abgeordnete stellte eine Kleine Anfrage an die Sächsische Staatsregierung, die Dresdner Regionalausgabe der “Bild”-Zeitung berichtete über die Antwort des Staatsministeriums des Innern (PDF), und die Abgeordnete, die die Kleine Anfrage gestellt hatte, nutzte wiederum den “Bild”-Artikel für ihre Stimmungsmache. Bloß: “Bild” hat Zahlen verglichen, die man nicht vergleichen kann, dadurch falsche Schlüsse gezogen und diese zu einer Explosion der Kriminalität an Dresdens Schulen aufgeblasen.
Im vergangenen Jahr ist die Kriminalität in Klassenräumen und auf Schulhöfen in unserer Stadt explodiert! Die erschreckenden Zahlen veröffentlichte Innenminister Roland Wöller (48, CDU) auf Anfrage der AfD.
Seinen Artikel teilt “Bild”-Redakteur Tom Rosin nach den verschiedenen Schularten auf. Zu den Grundschulen, dies es ja auch in die Titelzeile geschafft haben, schreibt er:
An GRUNDSCHULEN (1. bis 4. Klasse) gab es im vergangenen Jahr 107 Straftaten, im Jahr zuvor waren es dagegen nur 33. Das ist ein Anstieg von 224 Prozent.
Es handelt sich dabei nicht um Schulhofrangeleien. Ermittelt wurde u.a. wegen Körperverletzung, Brandstiftung und Diebstahl!
Beim Blick auf die Statistik (PDF, Grundschule (“GS”) gemeinsam mit Oberschule (“OS”) und Mittelschule (“MS”) in einer Datei, aber jeweils gesondert ausgewiesen) sieht man, dass die in “Bild” genannten Zahlen zu den Straftaten stimmen, und der “Bild”-Redakteur hat auch richtig gerechnet. Nur ist der Vergleich an sich schon falsch und damit auch die genannte Steigerung von 224 Prozent. In der Antwort des Staatsministeriums des Innern steht extra:
Recherchiert wurde für den Tatzeitraum vom 1. Januar 2014 bis zum 31. Dezember 2018 in der Kreisfreien Stadt Dresden. Zu beachten ist hierbei, dass bei verschiedenen Delikten (z. B. Körperverletzung gemäß § 223 Strafgesetzbuch [StGB] oder Diebstahl gemäß § 242 StGB) Aussonderungs- und Löschfristen von 24 Monaten bestehen und damit bei diesen Delikten valide Angaben nur noch für das Jahr 2018 zur Verfügung stehen.
Die Polizei in Sachsen löscht also bei bestimmten Delikten nach einer bestimmten Frist (hier: nach zwei Jahren) Straftaten aus ihrem System. Durch dieses Löschen sind die Zahlen zu den verschiedenen Jahren aus der Antwort zur Kleinen Anfrage schlicht nicht miteinander vergleichbar. Für 2018 sind allein schon wegen dieser Löschfristen mehr Straftaten aufgelistet als für die Jahre zuvor. Wir haben nachgeschaut: Tatsächlich werden Körperverletzungen (§ 223 StGB) und Diebstähle (§ 242 StGB) nur für 2018 genannt — in den Angaben zu 2014, 2015, 2016 und 2017 fehlen sie komplett. Und das macht einen deutlichen Unterschied: Bei den Dresdner Grundschulen findet man für 2018 18 Körperverletzungen und 24 Diebstähle, was zusammen bereits 42 der von “Bild” genannten 107 Straftaten sind.
Die besondere Löschfrist von zwei Jahren gilt aber auch noch für weitere Straftaten, so die Sächsische Staatskanzlei:
– Beleidigung, üble Nachrede, Verleumdung (§§ 185, 186, 187 StGB), soweit diese nicht eine nachhaltige Rufschädigung der Betroffenen zur Folge haben, öffentlich oder mittels Druckschriften begangen wurden oder sexuellen Bezug haben;
– Hausfriedensbruch (§ 123 StGB);
– Fahrlässige Körperverletzung (§ 230 StGB);
– Vorsätzliche Körperverletzung (§ 223 StGB) mit geringen Folgen;
– Sachbeschädigung (§ 303 StGB) bis zu einer Schadenshöhe von 100 EUR;
– Diebstahl und Unterschlagung bis zu einer Schadens-höhe von 100 EUR, soweit es sich nicht um Fälle nach §§ 243 und 244 StGB handelt;
– Erschleichen von Leistungen (§ 265a StGB);
– Betrug (§ 263 StGB) bis zu einer Schadenshöhe von 100 EUR.
An den Grundschulen waren es 2018 laut Statistik fünfmal § 185 StGB, einmal § 187 StGB, dreimal § 123 StGB und fünfzehnmal § 303 StGB. Will man die Straftaten des vergangenen Jahres also unbedingt mit jenen des Jahres 2017 vergleichen, müsste man von den 107 Straftaten 66 abziehen, da die jeweiligen Delikte wegen der Löschfristen nur im Jahr 2018 vorkommen. Die “Kriminalität an Dresdens Grundschulen” wäre dann also nicht innerhalb eines Jahres von 33 auf 107 Straftaten gestiegen, sondern von 33 auf 41; und damit nicht “um 224 Prozent”, sondern nur um 24 Prozent (doch es bleibt dabei: Der Vergleich ist an sich schon nicht sinnvoll).
Ähnlich falsch ist Rosins Vergleich zu den Dresdner Ober- und Mittelschulen. In “Bild” schreibt er:
Oder die 52 Straftaten vor zwei Jahren — 2018 waren es dann schon 173 — ein Plus von 233 %. Erpressungen, sexueller Missbrauch, gefährliche Körperverletzung waren dabei.
(In der Statistik zu den Ober- und Mittelschulen gibt es für 2018 keinen Fall des sexuellen Missbrauchs.)
Bei einem Vergleich auf Biegen und Brechen müsste man allerdings 97 von den 173 Straftaten aus dem Jahr 2018 abziehen, da sie zu den Delikten gehören, die wegen der Löschfristen 2017 gar nicht auftauchen können. Die Steigerung betrüge dann nicht 233 Prozent, sondern nur 46 Prozent.
An den Berufsschulen wäre es nicht das von Rosin genannten Plus von 77 Prozent, sondern von 9,3 Prozent. Und an den Gymnasien “stieg die Zahl der Straftaten” nicht, wie in “Bild” steht, “um 60 %”, sondern sank um 23 Prozent.
Und selbst ohne diese Fehler wäre eine Aussage wie “ist die Kriminalität in Klassenräumen und auf Schulhöfen in unserer Stadt explodiert” nicht wirklich passend, denn in der Antwort des Staatsministeriums des Innern steht auch:
Recherchiert wurde im Polizeilichen Auskunftssystem Sachsen nach Straftaten mit den Tatörtlichkeiten “Grundschule”, “Mittelschule/Oberschule” (nicht alle Mittelschulen wurden in Oberschulen umbenannt, so dass Mittelschulen und Oberschulen erfasst wurden), “Sonstige Schule” (Förderschulen werden nicht gesondert ausgewiesen), “Gymnasium” und “Berufsschule”.
Diese Auswertung erfolgte nach dem Tatortprinzip “Tatörtlichkeit = Schule”, so dass es sich bei den Opfern und ermittelten Tatverdächtigen nicht zwingend um Schüler bzw. Lehrer handeln muss, sondern möglicherweise auch
um andere Personen, welche sich zur Tatzeit auf dem Schulgelände aufhielten.
Da die Straftaten jeweils mit Datum aufgelistet sind, kann man nachschauen, welche von ihnen während der Schulferien, an Wochenenden oder Feiertagen begangen wurden — und somit nicht in der Schulzeit, sondern nur auf dem Schulgelände oder in der unmittelbaren Nähe. An den Grundschulen zum Beispiel waren es im vergangenen Jahr 23 (von 107) Straftaten, darunter besonders schwere Fälle des Diebstahls und sexueller Missbrauch von Kindern. An den Ober- und Mittelschulen registrierte die Polizei 16 (von 173) Straftaten, während die Schulen geschlossen waren.
Bei “Bild” gibt es diese Differenzierungen nicht. Stattdessen hat Redakteur Tom Rosin mit seinem Murks der sächsischen AfD-Fraktion eine traumhafte Vorlage geliefert, die die Abgeordnete Karin Wilke, die auch die Kleine Anfrage gestellt hatte, für ihre Angstmacherei verwendet:
Mit Dank an @mschwarz87!