Archiv für November 25th, 2015

“Bild am Sonntag” schwingt die “Deppen”-Keule

Ein Punkt lag den drei “Bild am Sonntag”-Autoren Markus Balczuweit, Kurt Hofmann und Daniel Peters offenbar besonders am Herzen, als sie ihren Bericht über das Bundesligaspiel zwischen dem VfL Wolfsburg und Werder Bremen verfassten:

Werders Schießbude hat den Deppen-Rekord!

Nach dem Deppen-Rekord von Galvez brach das Team von Trainer Viktor Skripnik (46) völlig auseinander.

Immerhin gab’s den Deppen-Rekord.

In der Tat hat Werders Innenverteidiger Alejandro Gálvez am vergangenen Wochenende mit seinem Eigentor zum 0:1 nicht nur die deutliche 0:6-Niederlage eingeleitet, sondern seinem Verein auch einen Negativrekord beschert: Werder Bremen ist jetzt der Klub mit den meisten Eigentoren der Bundesligageschichte. Das ist für “Bild am Sonntag” und Bild.de der “Deppen-Rekord”.

Betrachtet man die Zahlen, um die es geht, mal etwas genauer, sieht das alles aber schon deutlich weniger dramatisch aus. Gálvez’ Eigentor war das 54. eines Werderaners in der obersten deutschen Fußballliga. Werder Bremen war allerdings auch 1963 Gründungsmitglied der Bundesliga und hat seitdem lediglich eine Saison in der zweiten Liga gespielt. Hinter dem HSV sind die Bremer daher der Verein mit den zweitmeisten Bundesligaspielen, aktuell 1743. Im Schnitt schießen die Spieler von Werder Bremen also alle 32 Spiele mal ein Eigentor. Davon ist in den “Bild”-Medien natürlich nicht die Rede.

Auf Platz zwei der “Bild am Sonntag”-“Deppen-Rekord”-Rangliste liegt übrigens Eintracht Frankfurt mit 53 Eigentoren. Die Frankfurter haben allerdings auch deutlich weniger Bundesligaspiele als Werder Bremen, derzeit 1573. Somit schießt die Eintracht durchschnittlich alle 30 Spiele ein Eigentor. Immer noch sehr selten, aber im Schnitt häufiger als die Bremer “Deppen-Rekord”halter.

Immer wenn “Bild” diese “Deppen”-Keule rausholt, müssen wir an die Worte von “Bild”-Sportchef Walter M. Straten denken, mit denen die “Süddeutschte Zeitung” ihn nach dem Suizid von Robert Enke zitierte:

Aber auch das Boulevardblatt ist nach dem Enke-Tod nicht einfach so zur Tagesordnung übergegangen. Über vieles sei diskutiert worden, auch über Noten, und man sei schließlich zu dem Ergebnis gekommen, bei der Benotung so weiter zu machen wie bisher, sagt Straten. Auch in seiner Redaktion soll es zu einem etwas sensibleren Umgang mit den Zensuren kommen: “Wir werden wohl mit extremen Noten etwas vorsichtiger sein”, sagt der stellvertretende Bild-Sportchef. Man werde sich einmal mehr überlegen, “ob der Spieler, der eine klare Torchance vergeben hat, oder der Torwart, der den Ball hat durchflutschen lassen, eine Sechs bekommt oder eine Fünf reicht”.

Das Vorhaben war schnell über Bord geworfen. Und heute reicht ein Eigentor, um zum “Deppen” gemacht zu werden.

Dass Alejandro Gálvez sich seinen Fauxpas offenbar ziemlich zu Herzen genommen hat, konnte man am Montag in der Bremen-Ausgabe der “Bild”-Zeitung lesen:

Doch was juckt das schon die Haudraufreporter bei “Bild”? Eine Seite weiter vorne titeln sie Gálvez und seine Teamkollegen zu “Versagern”:

Mit Dank an Dustin!

Paris-Attentäter doch nicht “als Flüchtling in Bayern registriert”

Gestern Abend verkündete die “Welt” über alle Kanäle:

(Wie die „Welt“ auf „drei Terroristen“ kam, wissen wir nicht. Im Text war auf jeden Fall nur von zwei Attentätern die Rede, von denen die Ermittler ohnehin annehmen, dass sie als Flüchtlinge gereist sein könnten.)

Jedenfalls: Bayern.

Feldkirchen bei München. Die 7.000-Einwohner Gemeinde östlich der bayerischen Landeshauptstadt ist seit Monaten ein Anlaufpunkt für Flüchtlinge. Im Oktober ließ sich in Feldkirchen auch ein Mann als Asylbewerber registrieren, der womöglich wenige Wochen später in Paris mordete. Einer der Attentäter vom 13. November. Das Bundeskriminalamt (BKA) hat dies nach Informationen der „Welt“ ermittelt.

Wenig später klang die „Welt“ allerdings nicht mehr so sicher:

Feldkirchen bei München. Die 7.000-Einwohner Gemeinde östlich der bayerischen Landeshauptstadt ist seit Monaten ein Anlaufpunkt für Flüchtlinge. Im Oktober ließ sich in Feldkirchen auch ein Mann als Asylbewerber registrieren, der womöglich wenige Wochen später in Paris mordete. Einer der Attentäter vom 13. November. Das Bundeskriminalamt (BKA) hat dies nach Informationen der „Welt“ ermittelt. Deutsche Ermittler gehen dem Verdacht in der bayerischen Aufnahmestation für Flüchtlinge nach. Noch werde überprüft, ob es sich um eine Verwechslung handelt. Dies sei noch nicht abschließend geklärt, heißt es aus Sicherheitskreisen.

(Hervorhebung von uns.)

Und schließlich musste das Blatt einräumen:

Die “Welt” hatte ursprünglich berichtet, einer der Pariser Attentäter, der mutmaßlich mit einem gefälschten syrischen Pass gereist war, habe sich in Feldkirchen bei München als Flüchtling registrieren lassen. Dies soll allerdings nach bisherigem Ermittlungsstand nicht der Fall sein. Weiter ist unklar, ob die Terroristen von Paris durch Deutschland reisten.

Da hatte die Falschmeldung aber schon längst die Runde gemacht (auch dank der Agentur AFP, die sie etwa eine halbe Stunde lang verbreitet hatte, bevor sie sie zurückzog) — und den Rechtspopulisten und Ausländerfeinden mal wieder eine wunderbare Steilvorlage geboten:



Übrigens hatte auch der Münchner “Merkur” geschrieben, dass einer der Paris-Attentäter möglicherweise als Flüchtling in Bayern registriert worden sei. Quelle dafür war Bayerns Innenminister Joachim Hermann (CSU), der dem “Merkur” erzählt hatte, es spräche “im Moment sehr viel dafür”. Kurz darauf ruderte der Innenminister aber wieder zurück:

Nach derzeitiger Erkenntnislage hat sich der Verdacht, einer der Paris-Attentäter sei zuvor in Bayern als Flüchtling registriert worden, doch nicht bestätigt. “Es handelt sich offensichtlich nicht um den entsprechenden Menschen”, sagte der Sprecher des bayerischen Innenministers Joachim Herrmann (CSU), Oliver Platzer, am Dienstagabend der Nachrichtenagentur AFP. Ein Flüchtling mit selbem Namen wie einer der Attentäter sei in Feldkirchen registriert worden. Die französischen Behörden hätten den Flüchtling vor Ort angetroffen und mit ihm gesprochen.

Auch die dpa schreibt:

Oliver Platzer [der Sprecher des bayerischen Innenministers] sagte nun: «Es handelt sich nicht um den gestorbenen Attentäter.» Das habe sich bei einer Überprüfung herausgestellt.

Damit gibt es nicht nur “keinen Beleg” für die Geschichte der “Welt” (so ja der neueste Stand bei der “Welt”) — es spricht auch alles dagegen.

Aber wenigstens in der „Welt“-Chefetage sieht man die Sache nicht so eng:

Siehe auch:

Nachtrag, 26. November: Unsere Leser Alex B. und Benedikt H. sowie der “Merkur” haben noch einen weiteren Fehler in der “Welt”-Geschichte entdeckt:

Der in Bayern registrierte Flüchtling lebt, Sicherheitskräfte haben ihn besucht. Er wurde auch nicht, wie von der Zeitung Welt beharrlich verbreitet, in Feldkirchen bei München, sondern in Feldkirchen bei Straubing registriert – aus außerbayerischer Sicht schien das alles recht nahe beieinander zu liegen. In der Realität hat das niederbayerische Feldkirchen aber eine sehr große Unterkunft, das oberbayerische nur eine sehr kleine, in der auch keine syrischen Flüchtlinge registriert wurden.

“IS-Pate”, Schalke-Fans, Peng!

1. “Ich bin kein IS-Pate!” — Exklusiv-Interview mit dem Imam der sogenannten “Winterthurer IS-Zelle”
(watson.ch, Rafaela Roth)
Je nachdem, ob man die “Weltwoche” oder den “Sonntagsblick” liest, ist der Imam A. E. entweder “purer IS” oder der “IS-Pate von Winterthur”. Im Interview mit watson.ch wehrt er sich gegen die Vorwürfe. Ein etwas anders gelagerter Fall: “Vice” erzählt die Recherche von “AJ+” über Nabila Bakkatha nach: Die Marokkanerin, die fälschlicherweise für eine Terroristin bei den Paris-Anschlägen gehalten und von Medien für tot erklärt wurde.

2. Warum wir einen Facebook-Post gelöscht haben
(rp-online.de, Tobias Dupke)
Kurz nachdem die Moerser Redaktion der “Rheinischen Post” eine Reportage über die Ankunft von 200 Flüchtlingen auf Facebook teilte, “tat die Redaktion etwas, das sie bislang noch nie tun musste”: Sie löschte das Posting. Die Entscheidung begründet Tobias Dupke so: “Beleidigungen, teilweise sogar hetzerische Beiträge haben hier nichts verloren. Ebensowenig grausame Fotos von toten Kindern. (…) In Zukunft werden wir Nazi-Kommentare sofort an die Behörden weiterleiten.”

3. Populistische Töne im “SocialWeb”
(ndr.de, Teja Adams, Video, 5:40 Minuten)
In den sozialen Medien macht “Focus Online” eine Menge richtig — zumindest, wenn man die Zahl der Interaktionen als alleiniges Erfolgskriterium heranzieht. Berücksichtigt man auch, mit welchen Methoden diese Reichweite erzielt wird, relativiert sich der Respekt vor Burdas Social-Media-Abteilung. Diese sei “extrem auf das Flüchtlingsthema aufgesprungen und meldet da alles — auf eine populistische Art und Weise”, sagt Jens Schröder von “10000 Flies”. “Zapp” wollte mit “Focus Online” über die Vorwürfe sprechen, die Redaktion stimmte zu. Doch am Tag des angefragten Interviews teilte die Pressestelle mit: “Wir stehen aktuell nicht für ein Interview zur Verfügung.” Auch Stefan Niggemeier hat die populistische Social-Media-Strategie von “Focus Online” unter die Lupe genommen.

4. Wir verlieren täglich Tausende Datenpunkte Zeit- und Mediengeschichte
(konradlischka.info)
Konrad Lischka hat die Berichterstattung zu den Anschlägen in Paris als sehr “actionorientiert” wahrgenommen. Und wollte nachprüfen, ob die Schlagzeilen nach dem 11. September ähnlich waren. Dabei fiel ihm auf: Es gebe kein ordentliches Archiv für Online-Seiten, Momente der Zeitgeschichte seien unauffindbar.

5. Gewalt in der Liga: Ein offener Brief an die “Bild”
(schalke-news.de)
Am Samstagabend, vor dem Bundesligaspiel zwischen Schalke 04 und dem FC Bayern München, kam es vor dem Stadion in Gelsenkirchen zu gewalttätigen Angriffen auf Schalke-Fans. “Bild” und vor allem Bild.de berichteten in einer Art, die das Magazin “Schalke News” dazu bringt, einen offenen Brief zu schreiben: Man könne nicht nachvollziehen, “dass Schalker und auch Dortmunder in der Bildsprache der ‘Bild’ zu den prototypischen Problemfans stilisiert werden, während die wahren Schuldigen dieses Spieltages in keinem Foto Erwähnung finden.”

6. Peng! entert Bundeswehr-Werbung
(jetzt.sueddeutsche.de, Eva Hoffmann)
“Mach, was wirklich zählt” ist der Slogan der neuen Werbekampagne der Bundeswehr. machwaszaehlt.de ist die Website der neuen Gegenkampagne des “Peng!”-Kollektivs. Dort geht es um die Themen, die das Werbeteam von Ursula von der Leyen lieber ausgespart hat, schreibt Eva Hoffmann: “Wenn man auf die Seite machwaszaehlt.de klickt, bekommt man deshalb ausführliche Informationen zu Folgeschäden von Kriegseinsätzen, Rechtsextremismus beim Bund oder die aktuellen Auslandseinsätze.”