Archiv für November 19th, 2015

Die exklusive München-Terror-Falschmeldung von “Focus Online”

“Focus Online” behauptet aktuell:

Da heißt es:

Antiterror-Fahndung in München: Spezialeinsatzkräfte der Polizei haben am späten Donnerstagabend nach Informationen von FOCUS Online eine verdächtige arabische Gruppe entdeckt, die offenbar einen Anschlag in der bayerischen Landeshauptstadt vorbereitet hat.

Für die Durchführung der Tat wollten die Verdächtigen offenbar mehrere deutsche Polizei-Uniformen benutzen, die auf dem Zimmer des Central Apart Hotels im Münchner Stadtteil Berg am Laim beschlagnahmt wurden. Außerdem fanden die Ermittler auf dem Zimmer mehrere Gasflaschen.

Vier der insgesamt acht Verdächtigen, darunter ein Deutscher mit iranischer Herkunft, flohen mit einem 5er und einem 3er BMW. Die Münchner Polizei leitete eine Großfahndung ein, an der sich auch Fahnder der Bundespolizei beteiligen.

Die Polizei schreibt jedoch:

Nachtrag, 20. November, 8 Uhr: Trotzdem herrschte auch in anderen Medien sofort …




Die Polizei betonte aber weiter:



Daraufhin kamen auch die aufgeschreckten Spätdienstler in den Newsrooms wieder runter und gaben (vorerst) Entwarnung.

Nur „Focus Online“ blieb – scheinbar – stur:

Die Polizei dementierte, dass der Einsatz im Zusammenhang mit einem Terror-Verdacht steht. FOCUS Online bleibt jedoch bei seiner Darstellung.

Allerdings hatte „Focus Online“ seine Darstellung da schon unauffällig geändert. Aus dem Terror-“Alarm” hatte die Redaktion einen Terror-“Verdacht” gemacht, und von der „verdächtigen arabischen Gruppe“, die zuvor noch einen „Anschlag in der bayerischen Landeshauptstadt vorbereitet” hatte, ging plötzlich nur noch eine unkonkrete “Gefahr aus“:

Und das „exklusiv“ war verschwunden. Und das Foto hatte sich geändert – auf dem neuen war zwar noch weniger zu erkennen, aber: geschossen vom „Focus Online“-Chef persönlich.

Jedenfalls hat die Polizei inzwischen in einer Pressemitteilung erklärt:

MÜNCHEN. Am Donnerstag, 19.11.2015, rief eine Angestellte eines Hotels im Stadtteil Berg am Laim die Polizei an. Ihr kamen mehrere Gäste verdächtig vor, da sie eine Butangasflasche bei sich hatten.

Im darauffolgenden Polizeieinsatz wurden ein 30-jähriger Iraner und eine 44-jährige Landsfrau kontrolliert. Bei der Absuche fanden sich keine verdächtigen Gegenstände. Abklärungen ergaben, dass die Butangasflasche zu einem Campingkocher gehört und als Kochgelegenheit benutzt wurde.

Drei weitere Iraner, die zu dem Appartement gehören, wurden im Anschluss ausfindig gemacht und zwischenzeitlich ebenfalls befragt.

Nach jetzigem Kenntnisstand war das Appartement zur Familienzusammenfindung angemietet worden. Bei den Personen handelt es sich ausschließlich um Asylbewerber, die der 30-jährige Iraner dort zusammenführte.

Und “Focus Online”?

FOCUS Online bleibt jedoch bei seiner Darstellung.

Nachtrag, 15.30 Uhr: Jetzt doch nicht mehr. In einem neuen Artikel müssen die Leute von „Focus Online“ nun einräumen, dass sie völligen Quatsch berichtet haben. Natürlich verpacken sie es etwas anders:

Das Portal schreibt:

„Bei der intensiven Absuche fanden sich keine verdächtigen Gegenstände. Es wurden drei kleine 0,5 Liter Butangasflaschen aufgefunden. Des Weiteren ein handelsübliches Baseball-Cap mit der Aufschrift „Police“ und eine schwarze Weste. Bei der Durchsuchung wurden keine Uniformteile gefunden“, so die Polizei über die Razzia. Die Kappe sei als Geschenk für einen „polizeiaffinen Neffen“ eines der Gäste bestimmt. Ermittlungen hätten ergeben, dass die Gasflaschen zu einem Campingkocher gehörten.

Nachtrag, 27. Januar 2016: Wir haben uns beim Presserat über die Berichterstattung von “Focus Online”, FAZ.net und “Huffington Post” beschwert. Bei den letzten beiden konnte er aber “keinen Verstoß gegen die presseethischen Grundsätze feststellen” (hier ausführlicher). Mit “Focus Online” beschäftigt sich der Beschwerdeausschuss im März.

Kein Sprengstoff-Rettungswagen und andere Dochnichtnews aus Hannover

Die Terrorpanikberichterstattung geht also weiter. Kurz nach dem abgesagten Fußball-Länderspiel am Dienstag in Hannover verkündete „Bild“:

Auch die Agenturen Reuters und AP berichteten (ohne Quellenangabe), die Arena sei aus Sicherheitsgründen geräumt worden, und so zog die Geschichte in Windeseilmeldungen ihre Kreise.

Kurz darauf „Bild“:

Dann, „Breaking News“ bei Bild.de:

++ Söhne-Mannheims-Konzert in TUI-Arena abgebrochen

Dann „Bild Hannover“:

Tatsächlich hat das Konzert stattgefunden. Einer der “Söhne Mannheims” schrieb danach auf Facebook:

Mit ihrer rastlosen Falschmelderei schaden sich die Medien aber nicht nur selbst, sondern auch denen, die ihnen vertrauen (wollen), ihren Lesern, Hörern und Zuschauern. Sie stiften Verwirrung und Angst, ausgerechnet in Situationen, in denen besonnene Aufklärung so wichtig wäre.

Woher „Bild“ und die Agenturen die Falschinfo hatten, ist unklar. Es war jedenfalls nicht die einzige an diesem Abend.

Unzählige Journalisten und Medien verbreiteten die Tweets von „@PNiedersachsen“, zitierten sie in den Nachrichten und bauten sie in ihre Liveblogs ein, weil es ja ganz offensichtlich „offizielle Tweets der Polizei Niedersachsen“ waren. Dabei hätten sie nur ein einziges Mal klicken müssen, um das hier zu sehen:

Allein der Liveticker des NDR verwies im Laufe des Abends fünfmal auf die Tweets der „Polizei“, der offizielle Twitter-Account der Stadt Hannover schrieb:

Für weitere Infos an diesem Abend empfehlen wir, der Polizei Niedersachsen zu folgen.

… mit Link zum Fake-Account.

Der hätte alles mögliche behaupten können, viele hätten sicher auch weiterhin geglaubt, er wäre von der Polizei. Der Twitterer nutzte seine plötzliche Macht aber nicht weiter aus, inzwischen hat er auch sein Profilbild und seinen Namen geändert und mehrfach klargestellt, dass er kein offizieller Account ist (was uns auch die echte Polizei bestätigt hat).

Und dann war da ja noch der Sprengstoff-Rettungswagen. Beziehungsweise nicht.

Die „Kreiszeitung“ und (was allerdings kaum registriert wurde) auch die „Hamburger Morgenpost“ hatten online behauptet:

Im Bereich des Stadions in Hannover soll ein so genannter Gefährder gesichtet worden sein, der den Behörden bekannt ist. Sicherheitskräfte haben zudem einen Rettungswagen entdeckt, in dem sich Sprengstoff befand.

(kreiszeitung.de)

Vor dem Stadion wurde ein Rettungswagen mit Sprengstoff entdeckt. Das erfuhren wir aus zuverlässiger Quelle. Auch ein sogenannter Gefährder, der der Polizei bekannt ist , wurde gesichtet.

(mopo.de)

Die Geschichte wurde so ziemlich überall aufgegriffen. Manchmal mit Fragezeichen, manchmal mit “Angeblich”, manchmal ohne jeden Zweifel.


(stern.de)

(ksta.de)

(“Focus Online”)

Am Dienstagabend hat der Innenminister Niedersachsens die Meldungen auf einer Pressekonferenz dementiert. Es sei kein Sprengstoff gefunden worden, auch das Rettungswagen-Gerücht lasse sich nicht bestätigen, sagte er. Das schreibt auch die „Bild“-Zeitung, es hat sie aber nicht davon abgehalten, in der Überschrift groß zu fragen:

In einer weiteren Pressekonferenz erklärte eine Sprecherin der Polizei Hannover gestern erneut, es sei kein Sprengstoff gefunden worden.

Von wem die “Kreiszeitung” und die “Mopo” die Infos hatten, ist immer noch offen. Die “Mopo” ist diesbezüglich ganz still geworden und hat bloß noch vermeldet, dass kein Sprengstoff gefunden wurde. Dass sie anderthalb Stunden zuvor “aus zuverlässiger Quelle” noch das Gegenteil erfahren haben wollte, hat die Redaktion offenbar lieber schnell vergessen.

Anders die “Kreiszeitung”, die gestern einen zweiten Artikel veröffentlichte, in dem sie ihre Version verteidigt. Darin beruft sie sich allerdings weiterhin auf “eine seriöse Quelle”. Ach ja, und:

Auch Hans-Joachim Zwingmann, 1. Vizepräsident des Deutschen Sportjournalisten Verbandes, bestätigte am Mittwoch gegenüber der Kreiszeitung: „Nach meinen Informationen hat ein Schnüffelhund bei der Untersuchung eines Krankenwagens angeschlagen. Es soll aber angeblich keine Auffälligkeiten gegeben haben. Das ist alles schon ein bisschen dubios. Kurz nach 19 Uhr standen mehrere Krankenwagen direkt vor dem Haupteingang des Stadions und sind rein- und rausgefahren. Warum, weiß ich nicht.“

Oha. Rein- und rausgefahren! Und ein Schnüffelhund! Bestätigt vom 1. Vize vom Dingsverband!

Und außerdem habe ja auch …

TV-Moderatorin Katrin Müller-Hohenstein im ZDF von Hinweisen berichtet, “es gäbe wohl eine konkrete Gefahrensituation was Einsatzkräfte betrifft, sprich Polizeiwagen, sprich Krankenwagen”.

Ja, liebe “Kreiszeitung”, dabei sprach sie aber explizit über “Gerüchte” (ab 5:30):

Erst hieß es – gibt natürlich viele Gerüchte – eine Bombe im Stadion, dann hieß es, es droht Gefahr von den Einsatzkräften vor Ort, also Polizei, Krankenwagen sind eine mögliche Bedrohung.

Hätten wir also: “eine seriöse Quelle”, den Schnüffel-Vize und Müller-Hohenstein. Und noch einen weitere Kronzeugin, die gestern Abend in einem dritten Rettungswagen-Artikel der “Kreiszeitung” hinzugekommen ist: die “Bild”-Zeitung.

Laut „Bild“-Zeitung bestätigt ein Geheimpapier des Verfassungsschutzes Berichte unserer Zeitung, wonach Sprengsätze in einem Rettungswagen ins Stadion geschmuggelt werden sollten.

Nein. Also ja: Das schreibt die “Bild”-Zeitung. Damit bestätigt sie aber, wenn überhaupt, nur, dass es solche Pläne gab. Aber nicht, dass, wie die “Kreiszeitung” behauptet hatte, ein “Rettungswagen entdeckt” wurde, “in dem sich Sprengstoff befand”.

Umstritten bleibt bislang, ob ein solcher Sprengsatz auch tatsächlich in einem Fahrzeug gefunden worden ist.

… schreibt die “Kreiszeitung”, und irgendwie haben wir das Gefühl, dass sie so langsam selbst nicht mehr weiß, was sie eigentlich glauben soll.

Am Dienstagabend hatte Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD) das dementiert. Ein Zeuge berichtet allerdings, dass ein Schnüffelhund bei der Untersuchung eines Rettungswagens angeschlagen habe.

Jaja, der Schnüffelhund. So einer hatte (wie auch die “Kreizeitung” berichtete) in Hannover auch bei einem Paket in einem Zug angeschlagen, das dann doch keine Bombe war, nur so viel zur Beweiskraft einer solchen Beobachtung. Von der anderen seriösen Quelle für den Sprengstoff-Rettungswagen ist in der “Kreiszeitung” übrigens keine Rede mehr.

Evakuierungen, die doch nicht stattgefunden haben, Polizei-Tweets, die doch nicht von der Polizei sind, Bomben, die doch nicht gefunden wurden — so kann’s gehen, wenn jeder der erste sein und keiner was versäumen will, wenn alles, was man in die Finger kriegt, erst mal schnell rausgehauen wird, wie im Rausch, alles geben, alles zeigen.

In der heutigen Ausgabe macht “Bild” das ZDF übrigens zum “Verlierer”:

Gut, ein Info-Laufband gab es doch, und das “heute-journal spezial” kam — mit Live-Schalte — um 19.54 Uhr. Aber “Bild” hat Recht: Die ZDF-Leute haben sich Zeit gelassen. Bestimmt noch mal tief durchgeatmet, vielleicht sogar recherchiert. Was für Luschen.

Mit Dank an O.M. und Mikey.

Terror-Porno, Schweiger-“Tatort”, “Friesischer Rundfunk”

1. “Ich steh direkt hinter den Polizisten mit gezogener Waffe”: Der Terror-Porno des “Stern”
(stefan-niggemeier.de)
Mit seinem gezogenen Handy läuft und filmt “Stern”-Reporter Philipp Weber den Polizisten mit gezogener Waffe hinterher, als die gestern durch den Pariser Vorort Saint-Denis jagen. Stern.de stellt Webers Aufnahmen unkommentiert ins Internet. Nicht nur sei das Verhalten der Reporters gefährlich, findet Stefan Niggemeier, sondern sein Video auch ein “reiner Terror-Porno, den der ‘Stern’ seinen Zuschauern zum gemeinsamen Aufgeilen zur Verfügung stellt.”

2. Was jetzt passiert und sofort berichtet wird
(konradlischka.info)
Konrad Lischka blickt — mit einer Kolumne von Sascha Lobo im Hinterkopf — auf die Berichterstattung von gestern und sieht überall nur Polizisten im Einsatz: “In der Wucht der Berichterstattung wirkt diese Verengungen auf Polizeieinsätze wie die von Lobo gemeinte Abkürzung. Es geht jetzt sofort und zeigt eine Reaktion und Handlungsbereitschaft. Die Ursachen und die lösbaren Probleme analysiert das nicht.”

3. Nach den Pariser Anschlägen: Zensiert sich das Fernsehen selbst?
(blog.ekkikern.com)
Das Erste verschiebt den Til-Schweiger-Doppel-“Tatort”, der WDR nimmt den Spielfilm “Rekruten des Todes” aus dem Programm. Beide Schritte begründen die Programmverantwortlichen mit dem “Respekt vor den Opfern” der Anschläge in Paris. Ekki Kern meint, dass das nicht zu dem Mantra passe, “dass es gerade jetzt wichtig sei, so weiterzumachen wie bisher.”

4. Medien und Flüchtlinge — Perspektiven aus Afrika
(de.ejo-online.eu, Anna Carina Zappe)
Wenn hier (in Deutschland, in Europa) über die Flüchtlingsthematik berichtet wird, liegt der Fokus fast ausschließlich auf hier (Deutschland, Europa). “Dass auch viele afrikanische Länder Flüchtlingskrisen zu bewältigen haben, bleibt von den Medien nahezu unbeachtet — sowohl in Europa als auch in Afrika”, schreibt Anna Carina Zappe. Das solle sich durch eine neue Initiative ändern.

5. Friesischer Rundfunk von Mitarbeitern gekauft
(ndr.de, Caroline Ebner, Video, 4:56 Minuten)
Der “Friesische Rundfunk” (ja, genau, der mit der legendären Kater-Piepsi-im-Baum-Reportage) stand vor dem Aus, weil mehrere Zeitungsverlage aus der Region ihren Ausstieg ankündigten. Die Mitarbeiter des Senders kauften die Anteile, wurden zu Gesellschaftern und “senden nun auf eigene Rechnung.”

6. So bleibt Ihr Abschied unvergessen
(sueddeutsche.de, Carolin Gasteiger)
Es muss ja nicht immer gleich mit einem “durchgeknalltes Arschloch” enden. Carolin Gasteiger erklärt, wie sie auch ohne die angebliche Matussek-Methode “in fünf Schritten zur effektvollen Kündigung” kommen und nicht “schon in Vergessenheit geraten, bevor die Tür ins Schloss gefallen ist.” Ebenfalls zur Causa Matussek: “Kriegsreporterin” Silke Burmester in ihrer Kolumne sowie Sonja Álvarez und Joachim Huber im “Tagesspiegel”.