Archiv für Juli 31st, 2015

Im Kleinermachen ist “Bild” ganz groß

Momentan ist in den großen europäischen Fußballligen Sommerpause, die Mannschaften bereiten sich in Trainingslagern und Testspielen auf die kommende Saison vor. Und vor allem ist Transferzeit! Das bedeutet für die Medien: wilde Wechselgerüchte, angebliche Transfer-Hämmer und reichlich Möglichkeiten für falsche Berichte.

Gestern schrieb die “Bild”-Zeitung:

Und bei Bild.de hieß es entsprechend:

Es geht um Stürmer Mario Gomez, der bisher beim italienischen Erstligisten AC Florenz spielte, und um den Verein, für den er in der anstehenden Saison auflaufen wird: Beşiktaş Istanbul. Dass Gomez nach Istanbul geht, galt zum Zeitpunkt der Veröffentlichung als sicher, in der Hinsicht konnte “Bild” also nichts mehr verbocken. In allen anderen Hinsichten haben es die Sportexperten aber problemlos hinbekommen.

Es fängt schon an mit der Grafik zur Ablösesumme:

Dazu heißt es:

Gestern in Florenz die abschließenden Verhandlungen mit seinem Ex-Klub Fiorentina (kassiert rund 6 Mio Ablöse), heute Vormittag die Unterschrift und der Flug in die Türkei.

Das Problem dabei: Der AC Florenz hat Mario Gomez nicht nach Istanbul verkauft, sondern nur ausgeliehen. Daher ist es uns auch ein Rätsel, wie die Autoren Kai Psotta und Phillip Arens auf die “6 Mio Ablöse” kommen. Aber vielleicht ist “Bild”-Mann Arens einfach nicht nur gut im Trauernde-Menschen-nicht-in-Ruhe-lassen, sondern auch im Zahlenausdenken.

Ebenfalls falsch ist das Gehalt von Gomez in Istanbul, das die Autoren nennen:

Jetzt wollte ihn Florenz loswerden. Auch, weil sich sein Gehalt von geschätzten 4 Mio Euro netto pro Jahr auf rund 5 Mio erhöht hätte (Vertrag bis 2017). In Istanbul soll er laut italienischen Medien rund 5,5 Mio netto kassieren. Finanziell geht es nicht abwärts …

Und ob es das geht. Mario Gomez wird im kommenden Jahr 3,5 Millionen Euro verdienen. Die Aussage im Teaser, dass sein Gehalt “immer größer” werde, ist also falsch.

Überhaupt: Woran “Bild” und Bild.de den “Gomez-Absturz” erkennen wollen, verraten sie nicht. Es scheint aber mit den Vereinen zu tun zu haben, bei denen der Stürmer bisher gespielt hat beziehungsweise nun spielt — und die “immer kleiner” werden sollen.

Nun ist es nicht ganz einfach, den AC Florenz mit Beşiktaş Istanbul zu vergleichen, also einen Erstligisten aus Italien mit einem aus der Türkei. Aber gut, versuchen wir’s. Nur: Was heißt “kleiner” bei Fußballvereinen?

Für Kai Psotta und Phillip Arens ist es offenbar ein Kriterium, in welchem europäischen Wettbewerb beide Klubs in der nächsten Saison antreten werden:

Gomez in Istanbul. Europa League statt Königsklasse.

Stimmt, Beşiktaş wird in der Europa League spielen. Allerdings hat sich der AC Florenz in der vergangenen Saison auch nicht für die “Königsklasse” Champions League qualifiziert, sondern ebenfalls nur für die Europa League. In Hinblick auf den europäischen Wettberwerb hat der Wechsel nach Istanbul für Mario Gomez also keine Veränderung bewirkt.

Andere Vergleiche, mit denen sich die “Absturz”-These überprüfen ließe, nennen die beiden Autoren nicht. Daher hier mal ein paar Vorschläge:

Facebook-Fans
Beşiktaş Istanbul hat bei Facebook etwa 5,5 Millionen Anhänger und damit mehr als dreimal so viele wie der AC Florenz.

Stadiongröße
Noch in diesem Jahr wird Beşiktaş in die Vodafone Arena einziehen. Nach der Fertigstellung wird das Stadion 41.903 Plätze haben. Bis das soweit ist, tritt das Team im Atatürk Olimpiyat Stadı mit 76.092 Plätzen an.

Im Stadio Artemio Franchi in Florenz kommen 47.282 Fans unter.

Titelsammlung
Beşiktaş gewann bisher 13 Mal den Meistertitel in der türkischen Süper Lig. Dazu kommen neun Pokalsiege und acht Superpokalsiege.

Der AC Florenz wurde in seiner Vereinsgeschichte zweimal italienischer Meister, sechsmal Pokalsieger und einmal Superpokalsieger. Dazu kommen ein Sieg im Europapokal der Pokalsieger und einer beim Mitropacup.

Marktwert des Kaders
Laut dem Onlineportal transfermarkt.de (das auch zum Axel-Springer-Verlag gehört) beläuft sich der Gesamtmarktwert des Profiteams von Beşiktaş Istanbul auf 126,5 Millionen Euro, der des AC Florenz auf 108,78 Millionen Euro. Solche Marktwerte sind durchaus mit Vorsicht zu genießen. Aber auch sie sprechen nicht für die “Absturz”-Überschrift von “Bild” und Bild.de.

In der Online-Version des Textes ist die Passage zum Gehalt von Mario Gomez inzwischen übrigens geändert (“In Istanbul verdient er laut Klub-Info 3,5 Mio.”), genauso die Aussagen zur Ablösesumme (“Am Donnerstagmorgen gab Besiktas die Verpflichtung offiziell bekannt: Zunächst leihen die Türken Gomez nur aus, besitzen aber eine Kaufoption.”). Das Teaserbild hat die Redaktion ebenfalls aktualisiert:

In der “Bild”-Zeitung von heute geht es auch noch einmal um Gomez’ Türkei-Wechsel:

Kein Wort davon, dass im Sportteil vom Tag davor von einer Ablösesumme die Rede war. Aber was interessiert schon der Fehler von gestern? Gerade in der aufregenden Transferzeit.

Landesverrat, Landesverrat, Landesverrat

1. „Verdacht des Landesverrats“: Generalbundesanwalt ermittelt doch auch gegen uns, nicht nur unsere Quellen
(netzpolitik.org, Andre Meister)
Der Generalbundesanwalt hat Ermittlungen gegen das Blog Netzpolitik.org aufgenommen. Der Vorwurf: Landesverrat. Stein des Anstoßes: diese beiden Artikel (nun auch zusätzlich unter landesverrat.org zu finden):

Juristische Hintergründe und die Motivation der Bundesanwaltschaft erklären Hans Leyendecker und Georg Mascolo, auch die “Tagesschau” hat das Thema ausführlich aufgegriffen.

2. Landesverrat? Nein, netzpolitik.org schützt die Demokratie
(zeit.de, Karsten Polke Majewski)
Die ersten Kommentare fallen eindeutig aus: Viele Medien solidarisieren sich mit Netzpolitik und kritiseren das Vorgehen der Bundesanwaltschaft. “Demokratie und Geheimdienst stehen in einem kaum aufzulösenden Widerspruch zueinander”, bilanziert Karsten Polke Majewski und stärkt Netzpolitik den Rücken: “Der Presse kommt angesichts dieser Schwäche eine wichtige Kontrollfunktion zu. Netzpolitik.org betreibt das mit großer Beharrlichkeit.” In eine ähnliche Kerbe schlägt Christian Stöcker und wirft Harald Range vor, “gegen befreundete Geheimdienste nicht vorgehen” zu wollen, wohl aber gegen deutsche Journalisten. Das sei ein klarer Einschüchterungsversuch und ein Angriff auf die Pressefreiheit. Der DJV bezeichnet die Vorgänge als “Justizposse”, Politiker von SPD, den Grünen, der Linken und der FDP reagieren ähnlich empört, und auch der ehemalige Datenschutzbeauftragte der Bundesregierung, Peter Schaar, nennt den Vorwurf des Landesverrates “absurd”.

3. Wer hinter Netzpolitik.org steckt
(sueddeutsche.de, Lena Kampf)
Lena Kampf schreibt über Netzpolitik.org und seine Macher. Das Blog sei „so etwas wie das Referenzmedium für Digitales“ mit fünf festen Mitarbeitern und der Überzeugung, dass die Leser ein Recht darauf haben, „’sich selbst ein Bild zu machen.’“ Siehe auch: Der „Tagesspiegel“ 2009 über Netzpolitik-Gründer Markus Beckedahl: Der Internetevangelist.

4. Der Generalbundesanwalt und die NSA
(blog.beck.de, Henning Ernst Müller)
Schon am 20. Juli hatte der Jurist Henning Ernst Müller kritisiert, dass Verfassungsschutz und Bundesstaatsanwalt vom “Versagen der eigenen Behörde bei der Spionageabwehr ablenken” wollen. Im Netzpolitik-Fall legen die Behörden nun gerade durch ihre zaghaften Ermittlungen in der Spähaffäre ein großes Problem offen, findet Müller: Diese “Koinzidenz ist es, die geeignet ist, das Vertrauen in die Behörden BfV und GBA und ihre derzeitigen Leitungen nachhaltig zu stören.” Der Jurist hofft auf das Bundesverfassungsgericht.

Dass Generalbundesanwalt Harald Range nicht nur ermitteln, sondern auch Anklage erheben wird, vermutet Constantin Baron van Lijnden: “Wenn nun also Ermittlungen laufen, dann wird mit hoher Wahrscheinlichkeit auch eine Anklage folgen. Welche tatsächlichen Umstände sollte der Generalbundesanwalt denn im Ermittlungsverfahren aufklären, die nicht ohnehin bekannt sind?”

Anfang Juli hatte der “Freitag” den Schweizer Bundesanwalt Michael Lauber porträtiert — und seine Rolle im Vergleich zum deutschen Modell gelobt:

Hierzulande ist der Generalbundesanwalt noch immer ein politischer Beamter, der von der Bundesregierung ausgewählt und vom Bundespräsidenten ernannt wird. Er gehört der Exekutive an, womit er den Weisungen der Bundesregierung und deren sicherheitspolitischen Prämissen unterliegt.

5. Die Spiegelaffäre 1962 — ein Versagen der Justiz?
(PDF, Wolfgang Hoffmann-Riem, 17.10.2012)
Der letzte große Fall, bei dem sich ein Medium dem Vorwurf des Landesverrats ausgesetzt sah, liegt schon einige Jahre zurück: 1962 ermittelte die Bundesanwaltschaft gegen den “Spiegel”. Das Nachrichtenmagazin hatte unter dem Titel “Bedingt abwehrbereit” kritisch über die mangelhafte Ausrüstung der Bundeswehr und die Rüstungspolitk von Verteidigungsminister Franz Josef Strauß berichtet. 50 Jahre später hat der frühere Bundesverfassungsrichter Wolfgang Hoffmann-Riem in einer Rede erörtert, wie berechtigt “der Vorwurf des Justizversagens” damals war. Seine Ausführungen bieten die Möglichkeit, Parallelen und Unterschiede zum aktuellen Fall zu suchen.

6. Netzpolitik.org unterstützen
(netzpolitik.org)
Netzpolitik.org finanziert sich zum Großteil über Spenden und kann, gerade jetzt, jede Unterstützung gebrauchen. Wer helfen möchte, findet hier die Kontodaten und alle Infos (oder hier, falls der Server ächzt). Und wer nicht will oder schon hat, kann dabei helfen, die IBAN — DE62430609671149278400 — als Hashtag zum Trend in den Sozialen Medien zu machen.