Archiv für Juli 9th, 2015

Was die Polizei will, ist “Bild” doch egal

Momentan geistert ein Handyvideo durch die Sozialen Netzwerke, das einen hilflosen älteren Mann zeigt, der von einer 17-Jährigen und einem 20-Jährigen übel verprügelt wird. Bild.de berichtet seit vorgestern fleißig darüber, drei Artikel hat das Portal inzwischen veröffentlicht. Der aktuellste endet so:

Im selben Artikel verbreitet Bild.de das Video.

Genauso wie schon im ersten der drei Artikel und im zweiten. Die Printausgabe zeigte gestern vier große Standbilder aus der Videoaufnahme. Und auf der “Bild”-Facebook-Seite und im hauseigenen Twitter-Kanal teasert die Redaktion mit einem Bild, das einen Tritt des Mädchens ins Gesicht des Rentners zeigt.

Aus zwei Gründen warne man davor, das Video weiter zu verbreiten, erklärte uns Rüdiger Ulrich, Sprecher der Polizei Salzgitter:

Das unerwünschte Aufzeichnen von Personen in deren Wohnung ist unter Strafe gestellt. Gleiches gilt, wenn jemand diese Aufnahmen verbreitet.

Oder wie die Polizei Braunschweig noch deutlicher bereits vorgestern auf ihrer Facebook-Seite schrieb (mit interessanten Antworten der Polizei im Kommentarbereich):

Wir danken allen für die eingegangenen Hinweise und weisen darauf hin, dass das Teilen oder die weitere Verbreitung dieses Videos eine Straftat gem. § 201 a StGB (Verletzung des pers. Bereichs durch Bildaufnahmen) darstellt und strafrechtlich verfolgt werden muss.

Außerdem sei der Warnhinweis eine Präventivmaßnahme der Polizei gewesen, so Ulrich:

Wir wollen damit möglichen Reaktionen von Personen vorbeugen, die schnell mal strafrechtlich relevante Dinge äußern, wie: “Mit denen müsste dieses oder jenes anstellen.” Und wir wollen Belagerungszustände beim Opfer und auch bei den Tatverdächtigen vermeiden.

Dass diese Befürchtungen sehr berechtigt sind, kann man auf der Facebook-Seite der “Bild”-Zeitung nachverfolgen, wo der vom Prügelvideo aufgeheizte Mob schon eifrig dabei ist, die Adressen und Telefonnummern der Täter herauszufinden.

Von Seiten der Polizei Salzgitter, so ihr Sprecher Rüdiger Ulrich, sei der Fall inzwischen aufgeklärt und werde nun strafrechtlich aufgearbeitet, jegliche Informationen seien vorhanden. Ein weiteres Verbreiten der Videoaufnahmen sei daher sowieso nicht nötig.

Auf die Frage, was er von der Verbreitung des Videos bei Bild.de halte, sagt Ulrich:

Nicht alles, was “Bild” und Bild.de veröffentlichen, ist hilfreich für die Polizeiarbeit.

Wie fatal die sensationsgierige Berichterstattung für die Aufklärung eines Verbrechens sein kann, hat gerade erst der Gerichtsprozess im Fall Tuğçe gezeigt.

Mit Dank an noir, Pauli und Christian S. und Anonym.

Nachtrag, 10. Juli: Da die Polizei Braunschweig auf ihrer Facebookseite schreibt, dass die weitere Verbreitung des Videos eine Straftat darstelle, die strafrechtlich verfolgt werden müsse, kam die Frage auf, ob das auch für Bild.de gilt. Die zuständige Staatsanwaltschaft Braunschweig erklärte uns auf Nachfrage:

Bei einem Verstoß gegen § 201a des Strafgesetzbuchs handelt es sich um ein absolutes Antragsdelikt. Wir können es also erst dann verfolgen, wenn ein Strafantrag vorliegt.

Und der muss vom Geschädigten kommen, in diesem Fall also von dem älteren Mann, in dessen Wohnung die Aufnahmen gemacht wurden. Sollte er keinen Strafantrag stellen, hat die Veröffentlichung für Bild.de (genauso wie für “RTL2”, das das Video in seinen Nachrichten gezeigt hat) keine rechtlichen Folgen.

Außenstehende könnten zwar auch Anzeige erstatten, so die Staatsanwaltschaft. Dann würde die Behörde Kontakt zum Geschädigten aufnehmen, um die Anzeige zu prüfen. Einem Strafantrag komme das aber nicht gleich.

Bild.de lockt Leser mit frechen Früchtchen an die Spielautomaten

Es gibt in der Redaktion von Bild.de eine auffallende Affinität für sogenannte Online-Slot-Machine-Games, also für einarmige Banditen im Internet. Zum Beispiel fürs Spiel “7 Slots”, das, so Bild.de, “für wahre Adrenalinschübe” sorge:

Das “Slot-Game” sei spannend …

In “7 Slots” steigt die Spannung praktisch bei jedem Dreh der Walzen! Gewinnen Sie Freispiele oder sogar den ganz großen Gewinn an Spiel-Chips?!

… das Richtige für Gewinnertypen …

Im kostenlosen Slot-Game “7 Slots” lassen Sie die Walze rollen und Sahnen [sic] ordentlich Punkte ab

… und einfach das “perfekte Spiel”:

“7 Slots” ist das perfekte Spiel für den Adrenalin-Kick zwischendurch. Zocker kommen hier garantiert auf ihre Kosten!

Spielen kann man “7 Slots” auf der Seite “jackpot.de”. Und die hat den Bild.de-Artikel bezahlt gepowert:

Von der Kooperation mit dem Online-Casino erfährt man allerdings nur in den Fotocredits und wenn man mit dem Mauszeiger über die Links geht, die zur Casino-Seite führen. Ansonsten kommt der Text wie jeder andere auf Bild.de daher.

Genauso beim Artikel, in dem die Redaktion für das Spiel “Fancy Fruits” wirbt:

Die “Früchtchen” stammen ebenfalls von “jackpot.de” und sollen ebenfalls “das perfekte Spiel” bieten:

“Fancy Fruits” ist das perfekte Spiel für den Adrenalin-Kick zwischendurch. Zocker kommen hier garantiert auf ihre Kosten!

Beide Artikel erschienen im Mai. Im Juni gab’s die nächste Slot-Machine-Geschichte bei Bild.de, dieses Mal “Powered by Gametwist”. Und wieder lautete das Versprechen:

Nun aber nicht nur bei einem Spiel:

BILD stellt Ihnen 5 kostenlose Slot-Machine-Games vor, die stundenlangen Spielspaß garantieren!

Zum Beispiel die Früchte von “Fruits’n Sevens”, die “in der bunten Spielwelt […] Ihre besten Freunde” seien. Oder der “Spieleklassiker ‘Book of Ra'”, in dem “Sie sich als mutiger Abenteurer auf eine Suche nach sagenumwobenen Relikten ins alte Ägypten” begäben. “Frisches Obst so weit das Zockerauge reicht” verspreche bei “Sizzling Hot Deluxe” eine “satte Gewinnernte”.

Das Fazit von Bild.de:

Kasino-Spiele sind der perfekte Adrenalin-Kick für zwischendurch

All diese Angebote, die Bild.de vorstellt, sind kostenlos; die Nutzer können Spielgeld setzen. Man könnte also — abgesehen vom merkwürdigen Werbeformat — meinen: Warum nicht auf Webseiten hinweisen und verlinken, die für ein bisschen Zeitvertreib sorgen?

Klar, wenn es dem Werbekunden hier nicht auch darum ginge, potentielle Glücksspieler anzufixen. Denn “Gametwist” ist nicht irgendein kleines Spieleportal. Es gehört zum österreichischen Unternehmen Funstage. Und Funstage ist eine 100-prozentige Tochter (PDF) der Novomatic AG, einem riesigen Aufsteller von Glücksspielautomaten mit einem Umsatz von zwei Milliarden Euro im Jahr 2014. Vor den Novomatic-Geräten sitzen zahlreiche Süchtige, die nicht selten ihr gesamtes Geld verzocken. Und in diese so lustige Welt der “frechen Früchtchen” und “mutigen Abenteurer” führt Bild.de seine Leser nun ein.

Wenn das alles völlig abwegig klingen sollte: Vor wenigen Tagen ging der nächste Slot-Machine-Text online, “Powered by OnlineCasino Deutschland AG”. Und dieses Mal ist nicht nur von Spielgeld die Rede:


(Immerhin: Das Graue über der Schlagzeile ist eine Anzeigen-Kennzeichnung.)

Beim “Echtgeld-Modus” hingegen kommen Hobby-Zocker voll auf ihre Kosten! Hier können Sie mit echtem Geld spielen und natürlich auch echtes Geld gewinnen

Einen Hinweis darauf, dass man auch eine Menge “echtes Geld” verlieren kann, gibt es im Artikel nicht.

Mit Dank an @bassena.

Unpolitische Politikmagazine, Brustwarzen, Perlen aus Freital

1. „Politikmagazine immer unpolitischer?“
(daserste.ndr.de, Anja Reschke, Volker Steinhoff & Andrej Reisin)
„Panorama“ widerspricht den Anschuldigungen einer neuen Studie der „Otto Brenner Stiftung“, Politikmagazine im TV würden immer unpolitischer, und weist neben der ungenauen Kategorisierung durch Studien-Autor Bernd Gäbler auf den kurzen Betrachtungszeitraum von fünfeinhalb Wochen hin.

So ordnet Gäbler etwa Panorama-Beiträge über die „Share Economy“ der Kategorie „Digitalisierung“ zu und nicht etwa „Wirtschaft“. Ein Beitrag über Vorsorgevollmachten, bei dem es darum ging, dass das Gesetz Menschen nicht schützt, wenn jemand an ihr Hab und Gut will, landet in der Kategorie „Gesundheit“. Da die Magazine logischerweise thematische Abwechslung suchen und brauchen, wäre ein Jahr Beobachtung aus unserer Sicht unerlässlich gewesen.

2. „Tengelmann, Edeka und die Medien: der Kampf der Mitarbeiter um die Deutungshoheit“
(welt.de, Christian Meier)
Welt-Redakteur Christian Meier zeigt am Beispiel des offenen Briefes zum Kaiser’s-Tengelmann-Verkauf, wie schnell es passieren kann, dass in der Berichterstattung von einer kleinen Gruppe auf eine unbestimmte Zahl bis hin zu 16.000 Mitarbeiter geschlossen wird.

3. „Brustwarze ist nicht gleich Brustwarze”
(sueddeutsche.de, Simon Hurtz)
„Aus der Nähe betrachtet sehen sich männliche und weibliche Brustwarzen sehr ähnlich. Für Facebook ist das noch lange kein Grund, sie gleich zu behandeln.“ Die No-Nippel-Policy verbannt Fotos von weiblichen, nicht aber von männlichen Brüsten auf den Plattformen Facebook und Instagram. Die kanadische Künstlerin Micol Hebron wehrte sich und postete eine satirische Bastelanleitung, um Oben-ohne-Fotos akzeptabel zu gestalten. Diese findet im Netz nun Anwendung.

4. „When journalists take a vacation, do they actually take a break?“
(poynter.org, Melody Kramer, englisch)
Was heißt Urlaub für Journalisten, die nonstop auf zahlreichen Kanälen vertreten, per E-Mail und Handy erreichbar sind? Melody Kramer hat bei Kollegen nachgefragt. Bei Twitter kursiert zu dem Thema das Hashtag #journovacation.

5. „Ich könnte schreien”
(horizont.net, Volker Schütz)
Richard Gutjahr spricht im Interview über die späte Einsicht seiner Kollegen, die ihn lange für seine Social-Media-Aktivitäten belächelten und heute für künstliche Reichweite bezahlen: „Meine Artikel, meine Kommentare, meine Filme sind nur Teaser für das eigentliche Produkt. Und das Produkt, das wird mir jetzt immer mehr bewusst, bin ich.“

6. „Perlen aus Freital“
(perlen-aus-freital.tumblr.com)
Worst of Hetze in der sächsischen Stadt Freital – ein Tumblr sammelt Posts von Menschen, die „sich gegen die vermeintliche Bedrohung durch Flüchtlinge“ wehren.